SELBSTBESCHRÄNKUNG ALS NULLSUMMEN-SPIEL

oder

Warum ich Lars von Triers »Die Idioten« und die Idee vom »Dogma 95« nicht sonderlich mag

Wenn ich meine Vorstellung vom Kino beschreiben müsste, dann würde ich an eine Szene aus Lucchino Viscontis wundervollem »Bellissima« erinnern. Da sitzt Anna Magnani in ihrer Getto-Wohnung und sieht auf die schäbige Leinwand eines Freiluftkinos gegenüber, für das sie sich nicht einmal den Eintritt leisten kann. Und sie sieht eine Szene aus »Red River« von Howard Hawks. Auf die Vorhaltungen ihres nur an der eigenen Lebenspraxis interessierten Mannes antwortet sie: »Ach Spartaco« (welch ein Name für einen wunschlos unglücklichen Mann im Unterhemd!), »Ach Spartaco, lass mir meine Träume«. Natürlich geht es in dem Film um nichts anderes als um die Zerstörung ihrer Träume, aber zugleich geht es um die Erhaltung der Würde und um die Liebe der Träumenden. Das Kino, so fuhr es mir damals durch den Kopf, ist die Kunst, Illusionierung und Desillusionierung einander so begegnen zu lassen, dass der Mensch dabei, in seinem Körper und in seiner Idee, gerettet werde. Ein paar Jahre später erklärte ein reichlich trivialer Held in einem reichlich trivialen anderen italienischen Film die politische Nutzanweisung dazu: »Träumt weiter. Aber träumt mit offenen Augen!«. Besser werde ich das Kino, auch wenn ich noch ein paar hundert Filme sehe und noch ein paar hundert Bücher dazu lese, wohl nicht erklären können.

Das »Dogma 95«, das mit Thomas Vinterbergs »Festen« gleich sein (vermutlich einziges) »Meisterwerk« hervorgebracht hat (wahrscheinlich, weil man gar nicht weiß, ob der Film für das Manifest, oder das Manifest für den Film geschaffen wurde), ist zum einen eine Verpflichtung zur technischen Selbstbeschränkung. Filme sollen nur an realen Schauplätzen mit realen Objekten, mit der Handkamera, ohne künstliches Licht, ohne Kostümierung und nur in der gegenwärtigsten aller Gegenwarten gedreht werden. Es ist auch eine »ideologische« Proklamation zum Kino: der Film sei, so heißt es da, »keine Illusion«. Das ist natürlich genauso ein dadaistischer Unfug wie alle anderen Elemente dieses Dogmas, eine Anmaßung, die nur deswegen akzeptiert werden kann, weil sowieso niemand »wirklich« daran glaubt. Das Dogma ist seine eigene Parodie; es verlangt nicht nach der Entfaltung eines »armen Kinos«, sondern setzt eine künstliche Beschränkung in der Situation eines ratlosen Überflusses. Es mag also als kleines Gesamtkunstwerk, mit einer knappen Handvoll von Filmen, durchaus ein Kommentar zu der Situation sein, in dem sich das europäische Kino zwischen Blockbustern und Fernsehproduktion befindet. Es reagiert auf die jüngsten Medialisierungsschübe, indem es den Terror des Intimen, dem wir ausgesetzt sind, noch einmal weitertreibt.

Aber was könnte die Kamera und die Zuschauer schon interessieren in Filmen, deren Ästhetik wie eine Mischung aus Home Movies und Reality TV erscheinen muss, und in der weder die Bilder, noch die Objekte noch die Personen die Trivialität des Alltäglichen überschreiten dürfen? Es liegt auf der Hand: es ist der Körper, es ist die schmutzige Wahrheit hinter der sozialen Performance, es sind jene Dramen der Privatheit, die uns im Kino und im wirklichen Leben in der Regel erträglich erscheinen, weil es sie nie ohne Träume, nie ohne Illusionen gibt. Filme, die nach dem »Dogma 95« gedreht sind, können also eigentlich gar nicht anders, als in der einen oder anderen Weise »pornographisch« zu werden. Sie sind um das herum aufgebaut, was im mythischen Kino verborgen ist, und das sie nun so erbarmungs- wie folgenlos vor die Handkamera bringen können: das Tabu, das in der Ästhetik der Dogma-Filme sogleich wieder zur Trivialität wird.

Lars von Triers »Die Idioten« ist konsequent in der Ästhetik von »Dogma 95« gedreht und hat eine beinahe so einfache Grundkonstellation wie Vinterbergs »Festen«, bei dem es um die »Dokumentation« eines Familienfestes geht, bei dem der Vater des sexuellen Missbrauchs an seinen Kindern angeklagt wird und, nach einigen Versuchen, die Form zu wahren, den Schrecken zu verdrängen, »gestürzt« wird. »Die Idioten« treibt den fake documentary-Stil noch weiter, noch mehr ist er eher Performance als Erzählung, ein Geschehen, das nach einigen Vorgaben seinen eigenen, großteils improvisierten Lauf nimmt. Dabei geht es um eine andere »Familie«: Eine Gruppe von Bürgern hat beschlossen, sich in einen Zustand der Regression zu begeben, um den eigenen, inneren Wahn zu befreien. Karen, die junge, eher der Arbeiterklasse angehörende Frau, wird in einem Restaurant Zeugin, wie die Gruppe als »psychisch Behinderte« die Gäste terrorisieren. Sie schließt sich ihnen an, fasziniert und abgestoßen zugleich. Die Gruppenmitglieder sprechen im fake documentary-Stil über ihre Motive – und über Karen, die gleichsam zur Stellvertreterin für den Blick von uns im Zuschauerraum wird. Karen ist die letzte, die sich der Gruppe anschloß, heißt es im ersten Statement und daß sie sich wahrscheinlich auch jeder anderen Gruppe angeschlossen hätte, nur um ihrer Isolation zu entkommen. Auch darin ist sie uns Zuschauern verwandt, die wir im Kino beinahe alles akzeptieren, wenn es uns nur über die Trivialität des eigenen Alltags erhebt. Karen ist zugleich gefangen in dem Spiel, und sie formuliert ihre Kritik. In einem Schwimmbad nimmt sie Teil an einer torkelnden und lallenden Performance. Da macht das Spiel der regressiven Entgrenzung noch Spaß, weil es Reaktionen, weil es Blicke provoziert. Stoffer, der informelle Anführer der Gruppe, die in dem Hause seines reichen Onkels wohnt, formuliert die »Ideologie« der Gruppe: »Idioten sind die Menschen der Zukunft.« Aber viel mehr an liturgischem Unterbau wird es für die Dauerperformance der »Idioten« nicht geben. Es gibt »bürgerliche« Reaktionen auf das Treiben der Gruppe, etwa den Versuch, das vermeintliche Heim für psychisch Behinderte aus der wohlhabenden Nachbarschaft zu drängen. Die eigentliche Legitimation des »Idioten«-Spiels liegt im Blick der anderen, wenn sich die Mitglieder der spasser dagegen selbst ansehen, drohen sie, entweder wirklich verrückt oder wieder zu Bürgern zu werden. Mehr und mehr fallen die Regeln auf die Spieler zurück, wird die bange Frage nach der Möglichkeit des Zurück virulent. Die Gruppensex-Szene (also der »Skandal« des Films) ist die letzte, in der es noch so etwas wie Lust in der Transgression gibt, dann nimmt der Anteil von Gewalt und Verzweiflung rapide zu. Als müsste dann ganz nebenbei auch noch Ingmar Bergman persifliert werden.

Die kleine Komune der »spasser« dreht den Lacanschen Spiegel gleichsam um. Sie spielen das, was die anderen den »Idioten« unterstellen, und so wie sonst die bürgerliche Lebensform der Familie als Maskierung des sexuellen Wahns entlarvt wird, so maskieren sie sich umgekehrt als Wahnsinnige, um die Transgression als ihr Normales zu leben. Natürlich gibt es auch für dieses Experiment eine Reihe von Spuren; die Kommune der Idioten hat bis in die Rollenverteilungen Ähnlichkeit mit der von Jean-Luc Godards »La Chinoise«; in den Filmen von Bernardo Bertolucci und Marco Bellocchio aus den frühen sechziger Jahren war es für die Kinder der Bürgerfamilien nicht anders möglich, ihren Protest zu artikulieren, als sich in die Rolle der psychischen Kranken zu flüchten, und schließlich ist in dem Experiment der Privilegierten auch das Modell des Marquis de Sade gegenwärtig. Von Trier hat das Drehbuch in vier Tagen geschrieben, die der Regisseur mit den Tagen verglich, in denen Sade »Justine« niedergeschrieben haben soll. Aber in alledem ist das Zentrum verloren, die politische oder philosophische Projektion. Die transgressiven Szenen in diesem Film, die Handkamera-Aufnahmen kopulierender Genitalien, eine Szene, in der einer der spassers sich von zwei Rockern beim Pinkeln helfen lassen muss, um nicht zu verraten, daß er den Idioten nur spielt, übertreffen in ihrer beiläufigen Detailiertheit »authentische« Sex-Szenen in französischen Filmen wie »SitCom« oder »La vie de Jésus«. Sie stellen wohl nicht nur die Zensur in den verschiedenen europäischen Ländern vor neue Probleme, sondern auch die Bereitschaft des Publikums, das Interesse vom Kino-Mythos auf das hyperrealistische Detail zu richten. Kein »Orgien-Mysterien«-Kult, sondern pure Gegenwärtigkeit des Körpers und der Begegnung von Begehren und Hysterie. Der Skandal der Sexualität in diesen Filmen ist ihre Trivialität, der Skandal ihrer Hysterie ist es, daß sie nichts mehr zur Sprache bringt.

Das »Dogma 95« geht davon aus, daß das anti-bürgerliche Kino von einst selber zum »bürgerlichen Mist« geworden sei. Was natürlich in sich selber trivial ist, weil noch die provozierendste Kunst stets auf dem Weg ins Museum ihren eigenen Skandal hinter sich lassen muß. Was die spasser in »Die Idioten« tun, das ist im Grunde genau das, was das neue, vorgeblich anti-illusionistische Kino von Dogma und Transgression unternimmt, die gespielte Umkehr von Maskierung und Demaskierung, Unterdrückung und Befreiung, Abbildung und Realität. Unnütz zu sagen, daß es in diesem Kino keine Stars mehr gibt, nicht einmal mehr Schauspieler im üblichen Sinne, keine Transzendenz der Einstellungen und der Montage, keinen Augenblick der Utopie. Ein Nullpunkt des Films ist da erreicht, und ich habe keine Ahnung, ob er »notwendig«, »radikal« oder »wichtig« gewesen sein wird. Mit »Die Idioten« jedenfalls scheint die Dogma-Ästhetik schon wieder in ihrer eigenen Auflösungsphase; sie entlarvt sich selber und gewinnt dabei noch ein letztes mal einen ästhetischen Schockeffekt. Vinterberg, so ist zu hören, packt bereits seine Koffer für eine Reise nach Hollywood; Lars von Trier will als nächstes ein Musical inszenieren. Es war ja nur ein Spiel. Und das Dogma hatte keinen anderen Sinn, als seine eigene Absurdität unter Beweis zu stellen.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht bei strandgut.de