Unheimlich traurig. Unheimlich schön

Ein Filmemacher als bildender Künstler: Das Max Ernst Museum in Brühl entdeckt den ganzen David Lynch

Das Grauen, sagt Edgar Allan Poe, kommt nicht aus Deutschland, sondern es kommt aus der Seele. Wenn er damit auch nur teilweise Recht hat, denn auch die Seelen haben so ihre Reisepläne, beginnt damit doch ein langer Prozess der säkularen Erkenntnis. Das Grauen ist eine Realität. Kick! David Lynch, als Filmemacher wie als Fotograf wie als Maler wie als Skulpteur wie als Designer wie als Musiker wie als Installationskünstler wie als Lyriker wie als Comiczeichner, nur nicht als Konzeptionalist, nur nicht als Theoretiker, nur nicht als Diskursmacher, David Lynch also setzt das fort: Das Grauen kommt nicht aus dem Mythos, sondern aus dem Leben. Das Grauen kommt nicht aus den Seelen, sondern aus den Dingen. Das Grauen kommt nicht aus der Vergangenheit, sondern es ist gegenwärtig. Es kommt nicht aus dem verlorenen Großen und Ganzen, sondern aus dem Kleinen und Direkten. Oder noch genauer: Es geht um mehr als die Idee des Grauens, um seine Materialität, seine Körperlichkeit, seine Praktiziertheit. Letztendlich: In der unheimlichen Welt ist das Grauen das Normale.

Eine nackte fallende Frau – kleiner Sprung oder ewiger Flug?

Zum Beispiel: Schneemänner. Schneemänner in amerikanischen Vorgärten, entsprechend verschmutzt, massiv; dieser Schnee lässt hier keine Eleganz zu, und wo keine Eleganz möglich ist, kann man beinahe nur noch die Wahrheit sagen. So entstehen da Hausgötter, die alle Häuslichkeit zu vernichten drohen. Die komischste Variante von gefallenen Göttern und aus dem Paradies vertriebenen Menschen. In David Lynchs Fotografien erscheinen Schneemänner in amerikanischen Vorgärten aber nicht nur als archaische Giganten, temporäre Grotesken, sondern zweifelsfrei auch als Kunstwerke. Der Künstler David Lynch nähert sich seinen Gegenständen, bei aller Neugier und Manie, stets mit Respekt und Zärtlichkeit: So erfahren wir nicht, ob die Erbauer und die Bewohner der von ihnen mehr oder weniger bewachten Häuser um das Grauenhafte ihrer Schneemänner wissen.

Oder: Industrielandschaften, jenseits der Produktion und jenseits des »Pittoresken«, in denen fast nichts als Zeit, Raum und die Abwesenheit von »Sinn« zu sehen ist. Grauenhaft sind die verlassenen Industrielandschaften eben nicht, weil sie Sinnbilder des Vergehens oder so »menschenleer« wären, sondern im Gegenteil, weil jenseits des Menschen erst die Dinge ihre Schönheit, ihr Leben zeigen dürfen.

Wir verstehen: Die Schönheit des Wirklichen wird dort sichtbar, wo die Menschen an ihrer selbst gewählten Aufgabe gescheitert sind, die Realität zu »konstruieren«.

Oder: Deformierte Aktbilder, Körper, wie in seinen Filmen, in verschiedenen Phasen von Auflösung und Montage. Diese Körper sind flirrender und unbestimmter als meinethalben Hans Bellmers Anti-Körper; immer ist in Lynchs Bildern das Augenblickliche sichtbar, der Augenblick der Un-Möglichkeit, der grauenhaft schöne Augenblick. Eine nackte fallende Frau – kleiner Sprung oder ewiger Flug? Oder geht es doch nur um die Drehung eines Körperbildes um 90 Grad? Augenblicklich heißt das nur: zu viel Möglichkeiten für eine einzige »Bedeutung«.

Oder: Wundervoll filigrane Zeichnungen auf der Innenseite von Streichholzbriefchen. Als wäre kein Alltagsgegenstand vor der unermüdlichen Bildkraft des Zeichners Lynch sicher, der übrigens einen sehr eigenen, klaren Strich hat: Wie kann man nur in einer einzigen Kugelschreiberlinie zugleich so sanft und barbarisch sein? Schließlich ein Bühnenraum als Comic-affine Rekonstruktion eines der Räume, die wir aus Lynchs Filmen kennen. Selten hat man so direkt dieses Alice-in-Wonderland-Gefühl, dass sich gerade der Raum mit den klarsten Zeichen und den vehementesten Ornamenten als vollkommen instabil erweist, wenn man ihn nur mit entschlossener Neugier betritt.

Und auch das ist wie bei Alice: Hier machen Körper und Dinge keine Witze. Sie sind der Witz. Einerseits erkennt man einen David Lynch, wenn man einen David Lynch sieht, im Museum genauso untrügerisch, wie man einen David Lynch im Kino erkennt. Aber andrerseits entwickelt er seine Methoden und Macken immer wieder am Material. (Vielleicht lernt man das auch noch einmal als Filmemacher, dass man keine Bilder über etwas macht, sondern Bilder mit etwas.)

Und das ist beim Besuchen dieser Ausstellung, so hervorragend die Exponate auch im Katalog reproduziert sind, die unwiederholbare Erfahrung: Auf den reliefartigen großformatigen Mischtechnikbildern sieht man die Schaumstoffwesen, menschenähnlich, im Augenblick des Todes etwa, des Ermordet-Werdens, genauer gesagt, während ihnen das Leben in Form eines Lynch-Gewürms entfährt.

Man sieht, wie grob und hingeknallt das ist, einschließlich der echten Unterhose um den Unterleib. Nur ein Schritt zurück, und man sieht das Gegenteil, eine ungeheuer genaue Physiognomie, ein einmaliges Wesen, einmaliger vielleicht als der Mensch, der ihm beim Sterben zusieht. Was ist da los?“

Kann ich Trauer empfinden, Empörung, angesichts eines Schneemanns, eines Schaumgummimonsters? Kann ich Sterblichkeit erahnen, nur weil ein Raum, wie ein Bühnenbild für textloses Sprechen, nicht »aufgeht«, ums Verrecken nicht? David-Lynch-Bilder funktionieren als Kurzschlüsse zwischen der Komik des Augenblicks und der Trauer der Überzeit. Die Körperlichkeit ist externalisiert; hier ist alles Körper, wenn auch, bedingt durch das Material, auf verschiedene Weise. Etwas Grauenhafteres kann man über den bürgerlichen Körper, den Individualkörper, den Seelenkörper gar nicht sagen.

David Lynch ist nicht nur einer, der den Film mit den Mitteln der bildenden Kunst weitergebracht hat, sondern auch einer, der die bildende Kunst weiterbringt. Wie unselbstverständlich dieser Übergang noch ist, kann man in der Ausstellung in Brühl beobachten: Der cineastische Diskurs – mögen seine Vertreter auch fachgerecht über Surrealismus, Collage und gar über Félix Vallotton, Edvard Munch und Vincent van Gogh und ihre Spuren im bildnerischen Werk von David Lynch reflektieren – und der Diskurs der bildenden Kunst – mögen seine Vertreter auch die Lynch-Filme Einstellung für Einstellung auswendig hersagen – begegnen sich nicht sonderlich entspannt. Mir schwant etwas: Die Verbindung von Filmkunst und Kunstfilm ist selber etwas Unheimliches.

Andy Warhol hat der Popkultur mit einer wundervollen Frechheit die Oberfläche genommen, um sie berechtigterweise zur Kunst zu erklären. David Lynch verfährt genau umgekehrt. Er entnimmt der populären Kultur, ja eben, die Seele. Und dass diese Seele der populären Kultur »krank« ist, wundert uns viel weniger als wie schön sie ist.

Lynch zeigt, was passiert, wenn man Warhols Tomatendosen aufmacht

Aber ist Seele nicht definitiv Old School? Auf den ersten Blick nämlich ist die David-Lynch-Kunst ein Schritt zurück. Das Magische und Dunkle scheint nun wieder an die ewig bearbeitete und ewig verborgene Biografie gebunden, psychoanalytisches Deuten und sein Scheitern gehören zum Spiel, der Aufklärung seiner selbst setzt der Künstler den heftigsten Widerstand entgegen: Der Maler darf nicht wissen, was er weiß, so ähnlich kann man, nebenan, bei Max Ernst lesen, und Lynch würde ihm sicher zustimmen: Das Unbewusste, oder das Unterbewusste, wie man es nimmt, ist das gewaltige Reservoir des Künstlers, das weder er selbst noch sein Publikum durch Rationalität und mediale Coolness entweihen dürfen. Aber zwischen Max Ernst und David Lynch, zwischen Surrealismus 1 und Surrealismus 2.2 liegt die Pop-Art, liegt der iconic turn, liegen tausend Tode des Autors, des Originals und der Aura. Und David Lynch ist gewiss keiner, der das alles nicht weiß oder nicht wissen will. Deswegen kann man seine Kunst nicht nur als Wiederkehr des Surrealismus, mit einer Spur Dadaismus, Referenzen zu allem Fantastischen und Grotesken in der Kunstgeschichte ansehen, sondern auch als radikale Fortsetzung der Pop-Art. Lynch zeigt, was passiert, wenn man Warhols Tomatendosen aufmacht, seine Bananen schält und seine Wandblumen pflückt.

Und auf einmal sieht alles ganz anders aus.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 05.12.2009

Max Ernst Museum

David Lynch – Dark Splendor

Raum Bilder Klang

22.11.2009 – 21.03.2010