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Queerness ist keine Privatsache

Ein kluger Mensch, leider habe ich vergessen, wie er heißt, antwortete einst auf die typische liberale Toleranzerklärung: „Ihr queeren Leute seid doch genau so wie wir gewöhnliche Heteros, nur der Sex ist anders“, mit einer überraschenden Volte: „Der Sex ist so ziemlich der gleiche. Alles andere ist anders.“ Die Toleranz, die sich der Mittelstand der neoliberalen Gesellschaft gegenüber den „sexuellen Minderheiten“ leistet, entstand aus der Verkennung dieses Modells. Man spaltet das Sexuelle, womöglich als Privatsache, vom Menschlichen/Bürgerlichen ab und lässt ansonsten nur das „Normale“ gelten. Daher haben wir Politiker, die im Privatleben schwul sind, aber wir haben keine schwulen Politiker.

Diese Abspaltung und Privatisierung, die Reduktion der sexuellen Identität auf den Sex, die Soap Opera-Toleranz, ist die perfekteste Form einer sozialen und vor allem einer kulturellen Unterdrückung von Queerness. Oder, um es vielleicht ein wenig positiver zu formulieren, Queerness als soziale Praxis und Queerness als Semantik und Ästhetik sind nicht mehr zwingend miteinander verbunden. Natürlich kann man das auch, weniger positiv, so sehen: Der Mainstream zapft noch allemal von queeren Energien ab, was er gebrauchen kann. Und schmeißt weg, was ihm lästig ist.

Eine dieser Zapfstellen ist das Kino. Seit es existiert, führt es ein Spiel mit dem Kitzel und zugleich mit der Bannung der Queerness. Dazu gibt es Modelle schon aus den vorherigen Medien, zum Beispiel dem Theater, wo die Verwechslungs- und Verkleidungskomödie ein mehr oder weniger ungefährliches Spiel mit sexuellen Codierungen erlaubt. Das Kino setzt so etwas noch stärker in Bewegung, und zugleich wird es eine klassische Konvention, als Fetisch, als das, was wir sehen wollen und doch nicht sehen wollen, als etwas, das wir genießen, in dem wir es von uns fortlachen. Wir, der Mainstream, oder wir, die wenigstens bereit sind, dem Mainstream zu geben, was er verlangt.

Die Konstruktion des Filmstars selber, die kinematografische Weise der Repräsentierung selber funktioniert nicht ohne eine Ebene der Queerness. Mittlerweile glauben wir dem Publikum nicht mehr, dass es von Montgomery Clifts, James Deans oder Rock Hudsons Queerness nichts gewusst hätte. Es hat nur nicht wissen wollen, was es wusste. Doch darüber hinaus hat das Kino schon auf der Oberfläche von Bild und Erzählung seine Tricks entwickelt, die sexuelle Ordnung zu bewahren und zu unterlaufen. Es kam immer darauf an, von welcher Seite man es sah. Teenagerkomödien und Coming of Age-Geschichten beinhalten die Begegnung mit der Queerness, so oder so, und nur Nuancen sind es oft, die eine Inklusion von einer Exklusion unterscheiden. Aber natürlich gibt es Genres, die sich mit Nuancen nicht abgeben, und die sich, wie die Mehrzahl der deutschen Klamotten und ihre Ausläufer im Fernsehen, nichts daraus machen, die komische Exklusion mit Denunziation zu verbinden.

Eine andere Form der Offenbarung und Bannung ist, natürlich, das Melodrama. Der queere Mensch erscheint hier stets als liebenswert und leidend. Statt ihn wegen seiner Dissidenz und wegen seiner Selbstermächtigung über die sexuelle Grammatik zu fürchten, können wir ihn als Opfer virtuell in den Arm nehmen. Sterbend, am liebsten. Noch das allerklammheimlichste Begehren (in Bezug auf das Haben wie in Bezug auf das Sein) wird hier in Mitleid aufgelöst.

Neben dem Charley’s Tanten-Spiel, das jederzeit rückgängig gemacht werden kann, in dem zum Happy End die sexuelle Ordnung wieder hergestellt ist (sieht man einmal vom legendären Ende von Billy Wilders „Some Like it Hot“ ab), und neben der Geschichte der tragischen Transvestiten gibt es die Idee der Queerness als ewige Kindheit. Im Wunderland oder in der Karibik des Johnny Depp kann man Queerness in Aktionen übersetzen, in Auftritte und in Pointen; und selbst die Prärie war im Western oder in der Karl May-Phantasie von Pfaden der Queerness durchzogen. (Nein, Winnetou war nicht „schwul“; er war alles mögliche.) In gewöhnlichen Männerphantasien wie dem früheren „James Bond“ und seinen Zeitgenossen, können die Bösewichte gelegentlich, wenn sie nicht gerade mit dem Streben nach der Weltherrschaft zu beschäftigt sind, eine Queerness ausleben, die sich die Helden strikt versagen müssen. Das ist lustig und lustvoll in den Trashfilmen, wo wir sehen, welch Spaß das ist, so anders zu sein, auch wenn man dafür am Ende vom Macho-Helden auf die Mütze bekommt, und es hat Aspekte des Entsetzlichen, zum Beispiel im deutschen Kino des Postfaschismus, nicht nur beim furchtbaren Veit Harlan („Anders als die anderen“), aber auch im italienischen giallo der siebziger Jahre, in dem sich Queerness vorwiegend als Verknüpfung von Kunst und Mord zeigen muss. Queerness als „Perversion“ oder als „Dekadenz“ gezeichnet scheint (nicht nur) hier als Symptom von gesellschaftlichem, ja auch ökonomischem Wandel: Wie die Droge so ist auch die Queerness ein Kurzschluss zwischen den Klassen. Und so wird, in den aufmerksameren Filmen dieses Genres, die Dialektik der inneren und der äußeren Unterdrückung deutlich. Und dass man von Queerness nicht erzählen kann ohne von Politik zu erzählen.

Und zur gleichen Zeit spukt die Queerness (oder ihre Unterdrückung) auch in der Psychopathia Criminalis der Nazisploitation und den Sadiconazista-Filmen. Aber auch in den Filmen von Bernardo Bertolucci („Il Conformista“) und Pierpaolo Pasolini („Saló“) scheint der Faschismus, noch in der Orgie von Viscontis „Cadutta degli dei“, die nur mit dem Mord enden können, als ein Doppelspiel der Queerness und ihrer Unterdrückung. Der Tod ist nicht nur in Venedig die „Lösung“. Oder auch nicht.

 Queerness ist schließlich eine sehr beliebte Formel für das Wohlfühlkino.

Und dann ist eine Queerness erlaubt, die vor als Performance ausgelebt wird. Priscilla in der australischen Wüste, der türkische Transvestit auf „Auslandstournee“, die Cabaret-Stars im „Käfig voller Narren“. Nur in bestimmten Genres sind diese Elemente der Queerness-Bilder strikt isoliert, in vielen anderen, und gar wenn es um Film-Erzählungen des psychologischen Realismus geht, sind sie miteinander verbunden. Und selten lösen sie sich dabei, wie in „Zazie in der Metro“ in reiner Alltäglichkeit auf (was sie in Wirklichkeit nur einerseits innerhalb des Films tun, und andererseits im Äußeren der filmischen Repräsentation vollkommen ungeklärt bleiben: Louis Malle war ein sehr trickreicher Filmemacher). In aller Regel aber verbinden sich die Erzählelemente zu einem Mythos: Menschen, die sehr normal sind, verbergen ihre queere Sexualität, oder finden mehr oder weniger heftige Codes zu ihrem Ausdruck.

Queerness ist schließlich eine sehr beliebte Formel für das Wohlfühlkino. Als würden die gerührten Heteros im Arthouse-Kino in den queeren Szenen und Biographien des Kinos verlorene Freundschaft, Leidenschaft, Zärtlichkeit und Offenheit erhoffen.  „Nate & Margarete“, als eines der letzten Beispiele, erzählt von der Freundschaft zwischen einem schwulen Studenten und einer älteren Frau. Diese Freundschaft muss das Begehren überstehen. Und in unserem Arthouse-Kino wissen wir einmal mehr: Nur Außenseiter haben Aussicht auf Glück und Menschlichkeit.

Wir sprechen hier von einem Einschreiben der Vorstellungen von Queerness in den Mainstream. Ganz etwas anderes ist das Queer Cinema (wenngleich es natürlich eine Reihe von Schnittstellen gibt). Auch dieses Queer Cinema hat mittlerweile eine Geschichte, und es hat seine Brüche. Zu Beginn der neunziger Jahre kam in der Kritik der Begriff des „New Queer Cinema“ auf, das in engem Bezug zu den queer studies als besondere Form des Independent Film angesehen wird. Hier geht es nicht mehr um Selbstermächtigung oder die Ästhetik einer Subkultur, aber auch nicht mehr um die Bitte um Verständnis und Toleranz beim Mainstream, sondern um Konstruktionen der „sexuellen Identität“: Wenn der Film bis dahin, im Positiven wie im Negativen, diese „sexuelle Identität“ als Schicksal gezeichnet hat, dann geht es dem New Queer Cinema um die soziale Zuschreibung. Die alten Grenzen von Inklusion und Exklusion, von Mainstream und Subkultur, finden sich hier nicht mehr. Die „heteronormative“ Kraft wird dabei nicht mehr im Namen der Ausgegrenzten angegriffen, sondern als eine für alle Menschen destruktive Kraft. Während der subjektive Faktor in dem Film „My Own  Private Idaho“ von Gus van Sant seinen Schlüsselfilm fand, spielen in der Welle des New Queer Cinema nicht zuletzt auch historische Themen eine Rolle, wie zum Beispiel in „Harvey Milk“. Es ist nicht zuletzt ein Kino der Anklage gegen die Heteronormativität, und es beschreibt die Geschichte einer Befreiung sowohl aus innerem wie aus äußerem Zwang.

AIDS wurde paradoxerweise zu einem Verständigungsmotiv zwischen Queer Movie und Mainstream. Im neuerlichen Bild des leidenden Menschen war die Versöhnung leicht, manchmal fast ein wenig zu leicht zu haben. Aber zweifellos war AIDS auch das Motiv, anhand dessen deutlich wurde, wie Politik (die bösartig ignorante Reagan-Administration) Heteronormativität benutzt, und wie diese Politik erzeugt. New Queer Cinema widerspricht daher auch in seiner gesellschaftlichen, politischen und historischen Dimension dem scheinbar toleranten Gebot von der Privatheit der sexuellen Identität. Queerness ist keine Privatsache.

Soderberghs Film über den Performer Liberace bringt wohl die Elemente des New Queer Cinema und des Mainstream-Films perfekter zueinander als alle anderen Filme zuvor. Das beginnt mit der Wahl der Schauspieler, führt über die Verknüpfung der Motive von Komödie und Melodrama, historischem Biopic und Performance-Spaß bis zu einem sehr Soderberghschen Bekenntnis zur sanften Subversion.

Dass nicht die Traumfabrik Hollywood, sondern der Kabelsender HBO die Produktion übernahm, und sie mit 3,5 Millionen eingeschalteter Geräte einen Quotenerfolg erzielte, rekonstruiert mitnichten das Tabu. Es könnte sozusagen der Schlussstrich unter die Geschichte der sexuellen Lüge in der (amerikanischen) Geschichte sein. Liberace verbot sich und seinem Publikum das Aussprechen der Wahrheit über seine „sexuelle Identität“ und drückte sie doch zugleich in seiner Performance mehr oder weniger unmissverständlich und gewinnbringend aus. Und paradoxerweise dreht sich die Toleranz-Konstruktion in diesem Film durchaus um; Sexualität und Liebe in diesem Leben sind so entmutigend „normal“, dass man versteht, was der kluge Mensch, dessen Name ich vergessen habe, sagen wollte. Das andere ist Kultur, ist Politik, ist Narrativ, ist Performance; Matt Damon und Michael Douglas müssen daher kaum (wie noch Tom Hanks in „Philadelphia“) einen „Tabubruch“ riskieren, sie zeigen vielmehr: Die sexuelle Komponente der Queerness ist nicht der Konflikt-Kern des Mythos. Was aber macht der Mainstream mit einer Dekonstruktion der Andersheit? Wird man dem anderen vergeben, dass es so anders nicht ist? Oder ist „Behind the Candelabra“ nur ein weiteres Missverständnis in einer langen Reihe der cineastischen Missverständnisse?

Georg Seeßlen, Spex 9+10/2013

Bild: Priscilla – Königin der Wüste (Stephan Elliott, USA 1994)  © MGM Home Entertainment