German Rechthaberei

Thilo Sarrazin hat ein Buch geschrieben, das so kalt und weinerlich ist, dass es einem graust. Nicht einmal die eigene Bosheit kann es genießen

Eigentlich möchte ich weder unhöflich noch indiskret sein, auch nicht gegenüber jemandem, den ich nicht mag. Aber bei Thilo Sarrazins aktuellem Buch Der neue Tugendterror gelingt es mir nicht, Ideen, Argumente, Polemik meinethalben zu entdecken, die sich nicht auf die Grundkonstanten der rechten Phantasmen zurückführen lassen: die Mischung aus ethnischem und kulturellem Überlegenheitsgefühl und gekränktem Narzissmus, gepaart mit Zuwanderungsängsten, der Furcht vor den anderen, die „unser Geld“ haben wollen, der Angst vor der Gebärfreudigkeit der Fremden, der Ablehnung der Gleichstellung von Mann und Frau, der Verteidigung des klassischen Familienmodells als „Keimzelle“ (Sarrazin), der Verachtung für alles „Gleichmacherische“ und „Linksliberale“, der Hass auf „Verharmloser und Schönfärber im harmoniefreudigen Müsli-Milieu“ (Sarrazin) etc. Das Buch enthält nichts, was dein lokaler Rechtspopulist um die Ecke nicht auch bei jeder Gelegenheit zum Besten gibt.

Allerdings hat es eine eigene Erzählhaltung. Es ist keine reine ideologische Propagandaschrift, vielmehr eine Mischung aus Bildungssplittern und selektierter Information, Bekenntnis und Zahlen, vor allem aber ist es eine persönliche Geste gegen seine Kritiker, die aus einer tiefen Kränkung zu stammen scheint. Sie liegt offenbar tiefer, als es die ach so bösen, unfairen und unsinnigen Kritiken hergeben, die Sarrazin über geschlagene 116 Seiten hinweg zitiert und zu widerlegen versucht. Offensichtlich hat er jeden noch so unbedeutenden Zeitungsschnipsel gesammelt, der ihn betraf. Ein Narziss im Spiegel seines Verfolgungswahns.

Es bleibt mir nichts anderes übrig, als dieses Buch wie eine Krankenakte zu studieren. Als eine erstaunlich präzise Wiedergabe einer deutschen Krankengeschichte. Man muss sich durch 340 radikal esprit-, fantasie- und humorlose Seiten kämpfen, um an einen biografischen Schlüssel zu gelangen: „In meiner Schulzeit war ich in einer recht links eingestellten Pfadfindergruppe. Bereits als ich zwölf oder 13 Jahre alt war, unterwies uns unser Sippenführer zum (sic!) Unterschied zwischen Histomat und Diamat und erklärte uns, weshalb eine Marktwirtschaft nicht funktionieren könne. Mir allein fiel die Rolle zu, gleichzeitig NATO und Kapitalismus zu verteidigen, denn alle anderen waren links. Später dann studierte mein Sippenführer Theologie und wurde evangelischer Pastor“.

Diskurs-Dadaismus

Man beginnt zu ahnen, warum es in Sarrazins neuem Buch nur so wimmelt vor „Linkspastoren“ und warum dieses „Ich allein“ zum Leitmotiv werden musste. Das Selbstbildnis des jungen Thilo Sarrazin setzt sich fort in einer Art des tragischen Verfehlens des eigenen Lebens: Er allein gegen die anderen; ein Rechthaber ist geboren. „Das war für mich aber nur der Beginn einer lebenslang währenden Diskussion mit überzeugten Wahrheitssuchern über die ganze Kette linker Themen“.

Der Rechthaber gegen die überzeugten Wahrheitssucher? Im richtigen Leben wäre es Zeit, das Lokal zu wechseln. „Deshalb kam ich im rot-grünen Berliner Senat auch mit den Vertretern der PDS so gut aus: Ich wusste, wie sie dachten, war immer dagegen und konnte es doch stets nachvollziehen“. Es ist ein Wesen des Rechthabers, dass er seine Feinde besser zu kennen meint, als er Freunde findet.

Und natürlich, dass ein Rechthaber immer im Dienst ist: „Außerdem kenne ich mehr Geschichten aus Tausendundeiner Nacht und mehr große Werke der europäischen und amerikanischen Literatur als vermutlich die meisten unserer Politiker und Journalisten“. Jeder Rechthaber war einmal ein Musterschüler. Genau gesagt verhält es sich wohl so, dass der Rechthaber unter anderem aus einem Musterschüler wird, der nicht genug Anerkennung bekommt.

Erfundener Feind

Der neue Tugendterror gewinnt aus dem schieren Gestus des „Ich habe recht und alle, die etwas was dagegen haben, sind Schurken, Wahnsinnige oder Verräter“ das einigermaßen geschlossene rechte Weltbild von einer Diktatur der linksliberalen Gleichmacher, einer „Medienklasse“, die von den „sogenannten 68ern“ abstammt, die es verbieten will, davon zu sprechen, „Deutschland und dem Deutschsein einen Eigenwert beizumessen“.

Kein ganz neuer Trick, sich einen Feind zu erfinden, damit man sich in eine Opferrolle wickeln kann. Der Tugendterror wird laut Sarrazin ausgeübt von „überzeugten Kommunisten, christlichen Missionaren, radikalen Umweltschützern, verbohrten Feministinnen und all jenen Vorkämpfern des islamischen Dschihad, die sich und andere irgendwo in der Welt in die Luft sprengen“. Das nennen wir, mit Thilo Sarrazin, „verständliche Sprache“.

Feministinnen, Christen, Kommunisten, Umweltschützer, Selbstmordattentäter … (Übrigens, wussten Sie, was am Untergang des Römischen Reichs schuld war? „Der Geburtenreichtum“ der Christen.) Und noch eine Perle der Sarrazin’schen Wissenschaft: „So wie der Mops zu hundert Prozent vom Wolf abstammt, und jede einzelne seiner Gemütsregungen aus dessen DNA bezieht, so stehen der eifernde evangelische Linkspastor oder der mit der Wahrheit im Dienste der guten Sache freizügig umgehende Spiegel-Redakteur in der Tradition des zweitausendjährigen abendländischen Tugendterrors“. Derartiger Diskurs-Dadaismus verbirgt sich in einer endlosen Abfolge von Ich-Sätzen. (Und wenn’s hier nicht um Ernsteres ginge, wäre eine Stilblüten-Sammlung durchaus vergnüglich: „Menschen, die in Afrika südlich der Sahara leben bzw. von dort stammen, haben traditionell das gemeinsame Merkmal der schwarzen Hautfarbe.“)

Gekränktes Ego

Aber woher stammt diese erstaunliche Gier nach dem Rechthaben? Erst einmal etwas Oldschool-Psychologie: Eine Person will recht haben, weil sie sich nicht genug geliebt wähnt. Oder andersherum: Eine Person will recht haben, weil sie nicht lieben kann. Das Rechthaben ist eine abstrakte und erkaltete Form der Kommunikation, und wenn wir uns die Verschwörungstheorien und Verfolgungsfantasien in Der neue Tugendterror genauer ansehen, so geht es immer um die Abwehr des Emotionalen und des Empathischen.

Der Tugendterror, von dem Sarrazin spricht, dieses „Gleichmachen“, dieses hartnäckige Absehen von den naturgegebenen Unterschieden der Klassen, Rassen und Geschlechter, diese „linksliberale Medienklasse“, die er überall am Werk sieht – das ist eigentlich nichts anderes als das, was Sarrazins „linkstheologische“ Feinde „Liebe“, „Solidarität“ oder „Mitmenschlichkeit“ nennen würden. Die Nazis nannten es „Humanitätsduselei“. Was „die“ wollen, ist dem Rechthaber unerreichbar: „Harmonie“, „Wahrheit“, „Freude“, „Glück“ – alles Eigenschaften, die Sarrazin, wohlgemerkt, bei seinen Feinden sieht.

Auf der Tiefenstruktur von Der neue Tugendterror sehen wir einem Menschen dabei zu, wie er sich von seinen christlichen und humanistischen Restemotionen und -verpflichtungen befreien will. Aus seiner Empathieunfähigkeit macht er ein Weltbild. Neu ist das nicht.

Literarisches Idol der rechten Szene

Wenn man die Kommentare von Sarrazins Unterstützern von der rechtsextremen und xenophoben Szene zum Beispiel auf der Webseite Politically incorrect liest, gibt es immer wieder zwei Vorwürfe an das ansonsten verehrte literarische Idol. Der eine lautet, dass Sarrazin nur schreibt und nichts von all dem tut, was einer mit solchem Einfluss tun könnte, und der andere besteht in der offensichtlich völlig verständnislosen Reaktion darauf, dass Thilo Sarrazin immer noch in der, wie es in diesen Kreisen heißt, „Verräterpartei“ SPD ist.

Eben das mag man sich auch von der anderen Seite her fragen. Es ist das Unglückskonstrukt des Lebens von Thilo Sarrazin: Es gibt zwei widerläufige, nahezu gleich starke Impulse, nämlich einerseits „dazuzugehören“ zu einem Milieu, zu einer Firma, zu einer Kultur, und er muss andererseits zwanghaft dagegen sein, gegen alle anderen „recht zu haben“.

So war die politische und ökonomische Karriere von Thilo Sarrazin die endlose Wiederholung der Urszene: Immer war er der Mann am falschen Platz, immer suchte er sich den neuen Gegner (mit Hartmut Mehdorn bei der Bundesbahn, sagten die Kollegen, habe ihn eine „Dauerfeindschaft“ verbunden), immer stand der einsame rechte Rechthaber gegen alle anderen. Und wenn es schief ging, und es musste immer schiefgehen, dann waren natürlich immer die anderen schuld. Seit seiner Rolle des einsamen Rechthabers, die der junge Thilo Sarrazin gegen seinen linkstheologischen Sippenführer gefunden hat, hat dieser Mensch offensichtlich nicht mehr an sich gezweifelt.

Aber er war unentwegt gekränkt: „Meine Leistungen in 38 Jahren Dienst an Staat und Gesellschaft waren in den Medien stets nur auf mäßiges Interesse gestoßen“. Darin sieht Sarrazin ein Verbrechen gegenüber seiner Person, schließlich hat er als Berliner Finanzsenator „ein großes, aber auch sehr kontroverses Paket struktureller Einsparungen erfolgreich auf den Weg gebracht“ (mittlerweile wissen wir, wie das ging und welche Folgen das hatte – vom Golfplatz bis zum Verzocken des Geldes für den Nahverkehr). Niemand, außer dem Rechthaber, würde so hemmungslos egoman und selbstgerecht sprechen, doch der „darf“ das, weil er ja der Verfolgte ist.

Pfadfinder mit Zwangsneurose

Die Zwangsneurose, die jeder halbwegs erfahrene und psychologisch geschulte Berufsberater bei einem weniger exponierten Arbeitnehmer rasch als destruktiv für die eigene Arbeit wie für die Zusammenarbeit diagnostiziert hätte, führte zu einer steten Wiederholung der gleichen Katastrophe: Fleiß und Eifer (und die eine oder andere weniger sympathische Eigenschaft) führen den Rechthaber rasch auf der Karriereleiter nach oben, aber dort ist er ebenso rasch fachlich und, wie man so sagt, menschlich überfordert. Im Kern verhält er sich immer wieder, wie er sich in seiner Pfadfindersippe verhalten hat.

Und vieles ist dann in seiner Mischung aus Kleinkariertheit und Selbstüberschätzung absehbar: Wo es um wirkliche Macht geht, ist der Rechthaber bald extrem lästig, und die Dramen im Berufsleben des Thilo Sarrazin zeigen sich vor allem als zähe Abwehrkämpfe gegen die Bemühungen seiner Kollegen, ihn loszuwerden. Ohne jede Häme gesagt: Ein erfolgreiches, ein harmonisches Berufsleben sieht anders aus. Man muss sich Thilo Sarrazin als einen unglücklichen Menschen vorstellen.

Dieses Unglück ergibt sich aus dem Charakterbild des Rechthabers. Es ist ein Mensch, der sich zunächst nach Anerkennung, Zuwendung und Integration sehnt, eben dies alles aber verfehlt, weil er selber nichts davon geben kann, weil er Nähe, Verständnis und Berührung scheut. Wenn man ein Buch wie Der neue Tugendterror durchliest, es ist, wie gesagt, kein Vergnügen, dann fällt einem etwas auf: Es gibt in diesem Buch kein Wort der Sympathie, es gibt all diese linksliberalen, gleichmacherischen Feinde, und es gibt Menschen, die seinen Wert erkennen, aber es gibt keinen Freund.

Zahlenschwurbler

Es gibt oft tückische und verdrehte Beschimpfungen, aber kein Wort der Zuwendung zu irgendeinem anderen Menschen außer sich selbst. Wenn Thilo Sarrazin jemanden bewundert wie Oriana Fallaci für ihren verbalen Zornanfall nach 9/13, dann liest sich das so: „Ein Stahlbad der Sprache, eine klarsichtige, schonungslose Kritik nicht nur des islamischen Terrors, sondern auch der europäischen linksliberalen Medienklasse“. Sobald Tilo Sarrazin damit aufhört, sich hinter Zahlenschwurbel und seinem typischen Oberlehrer-Zeigefinger zu verstecken, und sobald er aufhört, sich zwischen Wehleidigkeit und Heimtücke gegen seine Kritiker zu positionieren, kommen ihm solche Sätze unter.

Das verbale Stahlbad gegen die europäischen linksliberalen Medienklassen, das muss einem erst einmal einfallen. Der Rechthaber braucht ein „gestähltes“ Denken gegen die Zumutungen der Gefühle und der Sinne, gegen die allfällige „Hexenjagd“ gegen ihn, die auch ins Private lappen muss: „Meine Frau verdankt es zu einem großen Teil ihrer robusten Konstitution und zu einem guten Teil meiner Unterstützung, dass sie über den unglaublichen Vorgängen um ihre Person, die durch mein Buch ausgelöst wurden, nicht psychisch erkrankte“. Selbst die eigene Ehefrau ist nichts anderes als Objekt des grotesk verzerrten Egos des Rechthabers. Nichts, wirklich gar nichts ist dem Rechthaber nicht Gelegenheit, sich selbst zu preisen.

Allerdings half der Frau ein eigenes Rechthaber-Buch mit dem Titel: Hexenjagd. Mein Schuldienst in Berlin. Auch sie war immer verfolgt und hatte immer recht. Aber, das versteht sich doch von selbst, „Reaktionen, soweit sie stattfanden, waren umso negativer, je linksliberaler das Medium war“. Echt jetzt.

Der Rechthaber argumentiert nicht, er akkumuliert. Was sein Rechthaben unterstützt, wird benutzt, gleichgültig welche Wertigkeit es hat, da gibt es keinen Filter, der das Unbedeutende vom Bedeutenden trennen könnte. Umgekehrt wird alles, was dem Feindbild nutzt, ebenso gesammelt, egal ob es überhaupt in den Kontext passt oder nicht. Daher muss in Der neue Tugendterror auch Sigmund Freud vorkommen, weil er etwas über das Tabu geschrieben hat.

Spirale von Kränkung und Denunziation

Der therapeutische Trick des gescheiterten rechten Rechthabers Sarrazin bestand in einem Buch, in dem seine Neurose zum System ausgedehnt wurde. In Deutschland schafft sich ab beschreibt er im Kern sich selbst, seine Ängste, sein endloses Winden in der Sehnsucht dazuzugehören und der Unfähigkeit zur Kooperation, dass aus ihm nichts mehr werden kann, weil die anderen so viele sind, weil dem Menschen, der doch recht hat, alle diese linksliberalen, linkstheologischen, „verbohrt feministischen“ „Gleichheitsapostel“ gegenüberstehen, die den Rechthaber um sein Recht bringen. Der neue Tugendterror ist nichts weiter als der Schatten von Deutschland schafft sich ab, die Spirale von Kränkung und Denunziation nur eine weitere Umdrehung gedreht.

Immerhin ist ein neuer Feind ausgemacht, nämlich die Nationale Armutskonferenz. Herr Sarrazin möchte die Dinge immer gern beim Namen nennen, und so ist ein Neger eben ein Neger und ein Wirtschaftsflüchtling ein Wirtschafstflüchtling: „Der Wirtschaftsflüchtling muss weder idealisiert noch verteufelt werden, er muss aus Sicht der deutschen Interessen schlicht verhindert werden“. Und: „Die NAK will offenbar die Benennung des Problems verhindern“. Warum? „Wahrscheinlich gehört sie zu jenen, die der Auffassung sind, dass eigentlich alle armen Menschen in der ganzen Welt mindestens einen moralischen Anspruch auf die deutsche Grundsicherung haben“. Heimtückischer kann man mitmenschliche Gleichgültigkeit kaum ausdrücken.

Der Rassismus des rechten Rechthabers will auf eine rassische Ordnung der Welt hinaus, und die wiederum bezieht sich auf eine simple Grundidee, nämlich die, dass es zwischen den Menschen, den Geschlechtern, den Rassen, schließlich auch den Klassen eingeschriebene Unterschiede gibt. Alles, was diese rassische Ordnung der Welt stört, ist der Feind. Wären nämlich die „Gleichmacher“ und „Tugendterroristen“ zum Schweigen gebracht, ja, dann wäre der, der qua Bestimmung doch was Besseres als die anderen ist, endlich am rechten Ort.

Der Rassismus ist im Kern eine logische Folge der Rechthaberei, und eine weitere logische Folge ist der Verfolgungswahn. Und das vierte Symptom dieser deutschen Krankheit ist die Monomanie, Sarrazin wiederholt immer wieder die gleichen Modelle und Phantasmen, es läuft sogar immer wieder auf die gleichen Worte hinaus, 388 Seiten lang. Eine trostlose Müdigkeit befällt einen nach der Lektüre.

Held und Märtyrer

Was aber macht dieses Denken so attrakiv, das seine Gekränktheit und Krankheit gar nicht verbirgt? Es ist zum einen, natürlich, die Komplexitätsreduzierung. Wer Sarrazin liest, darf glauben, dass die Dinge einfach sind. Sarrazin schreibt wie ein Lehrer, der weder die Intelligenz noch die Fantasie seiner Schüler hoch einschätzt, wohl aber ihre Verführbarkeit durch alles kennt, was Autorität und Ordnung verspricht. Der glaubt, dass man noch das dümmste Vorurteil pflegen darf, weil man es irgendwie durch Wissensautorität oder durch Zahlen unterstützen kann.

Es ist zum anderen ein Jive, der das Oberlehrerhafte des Rechthabers mit den Anbiederungen eines Kneipengesprächs versetzt. Schließlich ist es die Selbststilisierung als Held und Märtyrer. Der Rechthaber bietet sich selbst als Rollenmodell an; in ihm sollen all die Gescheiterten triumphieren, die für ihr Scheitern die anderen verantwortlich machen. Er bietet ein einfaches Modell: Man kann das System, in dem man so kläglich scheiterte, trotzdem akzeptieren, wenn man nur die richtigen Feindbilder hat.

In Sarrazin hat der Populismus in Europa auch insofern ein sehr, sehr deutsches Gesicht, als es aus performativer Lustlosigkeit entsteht. Die Rechtspopulisten ringsum, in der Schweiz, in Frankreich, in Italien etc., zeigen ein lebenslustiges, oft schon dionysisches Gesicht. Sie genießen ihre Bosheit, so viel steht fest. Nicht so dieser „hölzerne Finanzfachmann mit seinen Vorurteilen“ (Richard David Precht), dessen Erfolg offensichtlich genau mit dieser bewussten Selbstreduktion zusammenhängt.

Der Rechthaber verwandelt sein eigenes Unglück in eine rhetorische Figur. Ich bin nicht der Mensch, der ich sein könnte, sagt der Rechthaber, ich konnte „die im Menschen selbst begründeten Unterschiede“ (Sarrazin) nicht zu meinen Gunsten einsetzen. Schuld sind all jene, die diese Ordnung der Unterschiede infrage stellen: Die Kommunisten, die Frauen, die Christen, die 68er, die Terroristen, die „Linksliberalen“, die harmoniesüchtigen Gleichmacher. Die sind schuld daran, dass wir uns vor dem Islam fürchten müssen, wo sie doch wissenschaftlich bewiesen ist, „die Unterlegenheit der Muslime in Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft – kurz bei allem, worauf es in der modernen Welt ankommt“.

Es ist unnütz zu sagen, dass ein gekränkter Narziss und rechter Rechthaber wie Thilo Sarrazin, so wehleidig er auf Kränkungen reagiert, die ihm eingebildet oder tatsächlich beigefügt wurden, so hemmungslos und aggressiv auf jene Mitmenschen einschlägt, die entweder Feinde oder in ihren „im Menschen selbst begründeten Unterschieden“ abwertbar sind. Der neue Tugendterror ist das unchristlichste Buch, das ich je gelesen habe. Dass es auch zu den dümmsten gehört, macht das nicht besser.

Georg Seeßlen, der Freitag 27.02.2014

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Thilo Sarrazin
Der neue Tugendterror

Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland
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Verlag: DVA Sachbuch

 

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