Giftsüß und verführerisch

Seit den sechziger Jahren kommt immer mal wieder eine Frage in mir auf: Was eigentlich ist aus Zazie geworden, nachdem sie damals Paris (vermutlich nicht allzu lange) verlassen hat? Würde sie eine mehr oder weniger normale Frau mit Beziehungsproblemen und beruflichen Sorgen und, wer weiß, in Filmen von Truffaut oder Rohmer wieder auftauchen? Oder würde sie ihre Spiele verschärfen und als eine der schönen Mörderinnen von Claude Chabrol weiter an ihrer Biographie der Dissidenz schreiben?

Jean Pierre Jeunet macht einen anderen Vorschlag. Natürlich liefert er dazu auch eine etwas andere Biographie, aber damit hat es Zazie ja nie sehr genau genommen. Zazie heißt jetzt Amélie, und sie hat immer noch so märchengroße Augen, mit denen sie nicht nur mehr sieht, sondern vor allem anders. Sie wird von Audrey Tautou gespielt, und spielen darf man hier einmal wörtlich nehmen.

Amélie wächst in einer so furchtbaren, komischen Kleinfamilie auf, daß es vielleicht eine Erlösung ist, als ihre Mutter durch einen Selbstmord aus dem Leben scheidet. Nicht durch den eigenen, übrigens. Wenn wir in einem psychologischen Film wären, könnte man wohl sagen, Amélie sei ein wenig gestört. Sie hat ein paar handfeste zwangsneurotische Tics, und befindet sich eher außerhalb als innerhalb der Welt, wie wir sie kennen. Aber sie hat ein großes Vergnügen daran, in diese Welt einzugreifen. Sie spielt Kupplerin in dem Cafe, in dem sie arbeitet, sie sorgt für die Bestrafung eines Gemüsehändlers, der seinen Angestellten mies behandelt, sie erteilt dem Vater eine Lektion, indem sie seinen geliebten Gartenzwerg vom Grab der Mutter auf Weltreise schickt. Eigentlich will sie immer nur andere glücklich machen, wie die Concièrge, die vergeblich auf einen Brief ihres Mannes gewartet hat, der sie verließ. Amélie sorgt natürlich für diesen Brief, nebst einer gewaltigen Legende zu seiner halb lebenslangen Verspätung. Aber merkwürdigerweise produziert gerade der Mensch, der »Schicksal spielen« will, am meisten Zufälle oder selbstreferentielle Katastrophen, oder auch, wenn man so will, Gesetze. Und am Ende erwischt es ihn selbst. Aber an jenem 30. August 1997, dem Tag, als Lady Diana starb, ändert sich auch Amélies Leben – sie findet hinter einer Kachel im Bad eine Blechdose mit kleinen Habseligkeiten, wie sie ein Junge zu sammeln pflegt. Also macht sich Amélie auf die Suche nach dem Besitzer. Dabei begegnet ihr ein anderer Mann, der auf einer ähnlich traumhaft-traumatischen Mission in der Stadt unterwegs ist. Er setzt zerrissene Bilder aus dem Fotomaten zusammen, sammelt die verlorenen Bilder eines angespannten Moments. Das Spiel geht wie in einer Schnitzeljagd weiter, und am Ende macht Amélie dann doch die Tür auf. Wird sie jetzt »normal«?

Natürlich spielt der Film mit uns Zuschauern nicht viel anders als Amelie mit den Menschen ihrer Umgebung. Wie das bei einem Spiel so ist: Man muss auf jeden Zug aufpassen, weil sich seine Absicht erst viel später erweisen kann, dann, wenn man schon drauf und dran war, ihn zu vergessen. Ein bisschen was von Taschenspielertricks, Ablenkungen und Finten gehört schon auch dazu. Ein hübscher Einfall kann einfach ein hübscher Einfall sein, aber er kann ebenso die notwendige Voraussetzung für einen anderen hübschen Einfall sein. Traum, Bild und Alltag spiegeln sich ineinander wie in einem Glaskristall. Der alte Maler Dufayel, der seit Jahr und Tag an einer Version von Renoirs »Frühstück der Ruderer« arbeitet, kann durch Amélie das Bild vervollkommnen – und sie durch ihn ihr Leben oder ihren Traum, wie man es nimmt. Auf der nächsten Ebene funktioniert »Die fabelhafte Welt der Amélie« auch selbst wie ein Gemälde, eine Farbkomposition in der Zeit statt im Raum, in dem rote, blaue und grüne Szenen miteinander korrespondieren, und Szenen in kräftigen mit solchen der pastellenen und »unreinen« Farben. So ein Spiel, gewiß, kann auch ermüden. Wie sollen wir sehen, wenn uns so viel gezeigt wird? Aber am Ende macht auch der Film die Tür auf; man kann einfach hinausgehen, und muß nicht wie in »Die Stadt der Kinder« alles in die Luft jagen oder wie in »Alien 4« ein schwangeres Ungeheuer bezwingen.

Und jetzt kann man ein bisschen darüber nachdenken, was da gerade los war, 120 Minuten lang. Ein Kunst-Spiel von höchster Raffinesse und vergleichsweise wenig Substanz? Eine subversive Attacke gegen die mächtigen Kino-Konventionen? Ein Essay über das Bild des Bildes im Bild? Oder über den Zusammenhang zwischen Phantasie und Zwanghaftigkeit? Oder doch eine giftsüße und verführerische Neufassung der Jeunet-Obsessionen und der psychotischen Brüche?

In »Amélie« fehlen auf den ersten Blick die schweren und immer ein bisschen unappetitlichen Symbole Jeunets, das tiefenpsychologische Rumoren, das sich nur unvollkommen hinter den surrealistischen Maschinen und den grotesken Gestalten verbirgt. Das Spiel der Farben und Formen ist freier, das, was in den schönen und grotesken Bildern bedrohlich sein kann, geschieht jetzt nur noch am Rande und zwischen den Bildern (und vielleicht: zwischen den Farben). Die Kameraschwenks prallen nicht mehr samt und sonders an den engen Grenzen der finsteren Jeunet-Stadt auf. Die Welt ist voller Risse und Spiegelungen, wenn man nur genau hinsieht, und dazu kann uns Amélie durchaus verführen. Dann sieht man, dass sie aus lauter verschiedenen Welten, aus lauter Spielen und Erfindungen besteht, die sich in unendlichen Spiralen bewegen. Ohne Ursprung und ohne Ziel, aber doch wieder alles andere als zufällig. Amélie alias Jeunet, das ist ein Fälscher, wie Orson Welles einer war, einer der klipp und klar behauptet, die Welt sei nichts anderes als das, was wir von ihr erfinden können.

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So ist Amélie, auf den zweiten Blick, dann doch nicht die Zazie, die in die Welt eingriff, weil sie Metro fahren und Blue Jeans tragen wollte. Das war eine unbarmherzige Realistin in einer Welt von starren Spielern, und Amélie ist eine nicht minder unbarmherzige Spielerin in einer Welt der starren Realisten. Oder? Irgendwie will sie uns immer ein bißchen zuviel zeigen, irgendwo ahnen wir eine Musterschülerin in ihr, oder sogar eine Lehrerin, die ihre Schüler für Poesie begeistern will. Das macht sie gut, aber auch bei Orson Welles ist die große Fälschung an der Eitelkeit des Fälschers gescheitert.

Jeunet beschreibt seit »Delicatessen« so etwas wie geschlossene Systeme; nicht zuletzt sind seine Filme auf der einen Seite bewegte Comic Strips, auf der anderen aber auch Modelle von Gesellschaften und Staaten, auch wenn die auf sehr merkwürdigen Prämissen beruhen, dem Kannibalismus oder der körperlichen und mentalen Ausbeutung der Kinder. Auch in seinem »Alien«-Film zieht sich eine Welt zusammen, bis sie geschlossen ist und daher nur noch zerstört werden kann. Immer spielen da merkwürdige, inversive Maschinen eine wichtige Rolle, die Selbstmord-Maschinen in »Delicatessen«, die Traummaschinen in »Stadt der Kinder«, Winona Ryder als Maschinenmensch in »Alien 4«. In »Amélie« scheint es auf den ersten Blick, als würde der Regisseur den umgekehrten Weg gehen und statt von der geschlossenen Welt der Maschinen von der Öffnung der Welt für das Spiel der Heldin erzählen, der Öffnung der Heldin für, vielleicht, das wahre Leben (natürlich die Liebe, was sonst?). Aber eigentlich geht es doch wieder um Kreise, die sich schließen (wie die Reise des Gartenzwergs), Räume, die die ganze Welt beinhalten (wie das Café, in dem sie arbeitete), und es geht um das Opfer der Kinder, die in der einen oder anderen Weise missbraucht oder misshandelt werden und die nach einer Form der Befreiung und vielleicht Rache suchen, an ihrer Geburts- und Todesmaschine. Diese Maschine ist bei »Amélie« das Kino selbst. Eine Maschine, die den cineastischen Surrealismus ebenso verarbeitet und schmackhaft gemacht hat wie die Nachtmärchen Rivettes, eine Maschine, die Carnet und Prévert verknetet, und Jacques Tati und Louis Malle durch echte und imaginäre Museen treibt. Das also ist der Nachtisch des modernen französischen Kinos. Eine sehr fette, sehr süße, sehr bunte Torte. Trotzdem: Mir bitte ein großes Stück davon.

Georg Seeßlen

Bild: Universal