In Kuba gibt es wenig Zeitungen. Genau genommen sind es wohl mehr oder weniger nur zwei, und von denen gibt es auch nicht viele Exemplare auf der Straße. Ein Zeitungskiosk in Havanna macht für unsere Augen einen trostlosen Eindruck. Neben der „granma“ sieht man allenfalls ein paar Jugendzeitschriften, die aussehen wie etwas unbeholfen gelayoutete Fanzines. Noch desolater scheinen Bibliotheken, wo man seit Jahrzehnten nichts neues mehr angeschafft hat. Der Aufmacher der Zeitung heute: Die Notwendigkeit, den Preis für schwarze Bohnen um einige Cent pro Kilo zu erhöhen. Man würde einer Gesellschaft, die sich in einem Übergang befindet, aber mehrheitlich nicht bereit ist, sich einfach fressen zu lassen von Kapital und Entertainment, mehr Diskurs-Kultur, mehr Pressefreiheit wünschen.

Ja, das würde man. Jedenfalls so lange, bis man wieder in den heimischen Gefilden gelandet ist. Schon bei der Lektüre der ersten Zeitung an Bord des Flugzeuges wird einem klar, was ein gut recherchierter Artikel über die Preiserhöhung von schwarzen Bohnen wert ist. Wenn man nämlich die (für unsereinen zugegeben etwas mühsame) Lektüre vollzogen hat, weiß man etwas über den Zusammenhang von Wetter, Düngemittel, Versorgungsauftrag und Weltmarkt. Und natürlich weiß man, was die Erhöhung des Preises für schwarze Bohnen für das Leben einer kubanischen Familie bedeutet. Dann erinnert man sich an einen Artikel über die Möglichkeit, Baumaterialien auch für private Baustellen zu beziehen, wenn die Dringlichkeit der Bauarbeiten nachgewiesen werden kann. Und man weiß, dass diese Änderung das Leben vieler Menschen betrifft. Was aber weiß ich nach der Lektüre einer deutschen Zeitung (jedenfalls der Art, wie sie in Flugzeugen verteilt werden)?

Nach einem Monat Abwesenheit scheint es, als könnte die Zeitung von heute genau so gut die Zeitung von vor vier Wochen sein. Ist man gelandet, so erwarten einen die schreienden Medien der Niedertracht. Nichts zum Preis von schwarzen Bohnen (oder Kartoffeln), aber alles über faule Griechen, Dschungelcamps und Ferienfreunde des Bundespräsidenten, wie gehabt. Die einen interessieren sich dafür, was Models anhaben, die anderen dafür, was sie ausziehen. Die kubanischen Zeitungen versprechen, davon zu berichten, was im eigentlichen die Menschen angeht, unsere Zeitungen versprechen, davon zu berichten, was uns eigentlich nichts angeht. Sie kriegen das vielleicht beide nicht in letzter Konsequenz hin. Aber zur Überheblichkeit gibt es weiß der Himmel keinen Grund.

Die politische Ökonomie unserer Medien, so viel ist bekannt, hat aus der Pressefreiheit in der Demokratie eine Pressefreiheit auf dem Markt gemacht. Es ist, gewiss, nur noch die Freiheit einiger weniger Konzerne. Aber was wäre die Bild-Zeitung ohne Leser und Käufer? Auch unsere Gesellschaft ist eine des Übergangs, doch anders als die kubanische will sie sich das partout ausreden lassen. Selbst die „granma“ vermittelt, bei aller Linientreue, dass es nicht einfach so weiter gehen kann, und dass es für die anstehenden Veränderungen einen gesellschaftlichen Konsens geben muss. Kleine Veränderungen, gewiss, ohne Glamour, und noch entfernt von dem, was man mit gutem Gewissen „Freiheit“ nennen darf. Hier indes macht man, von Schaudern der moralischen Hysterie und des schlechten Geschmacks durchzogen, immer so weiter. Immer so weiter. Immer.

Da trifft es sich gut, dass anlässlich der Korruptionsschwurbel um Herrn Wulff auch die Journalisten selber einen moralischen Anfall kriegen. Haben Sie nicht Rabatte bei Fluggesellschaften, Eisenbahn und Automobilherstellern? Dürfen sie nicht umsonst ins Museum? Was machen eigentliche Reise-, Automobil- und Gastronomiejournalisten, wenn sie nicht gerade einen von ihrer Branche ausgelobten Preis für die Förderung von „Verständnis“ in der Bevölkerung abholen? (Ich persönlich bin, wie einige meiner besten Freundinnen und Freunde, was dies anbelangt, fein heraus, denn da wir uns nie als „Journalisten“ beschimpfen lassen wollen, haben wir auch nie einen Presseausweis besessen, so dass die Vorteilsannahme nicht über einen Gratiskaffee bei einer Pressevorstellung im Kino hinausging. Viel nutzen tut uns und dem Rest der Kommunikationswelt so ein Heiligenscheinchen nicht.) Die Journalisten wiederholen, zwanghaft, wie mir scheint, an sich selbst, was sie der Politik angedeihen lässt. Sie lenken mit einer moralischen Geste vom wirklichen Problem ab. So wie sie „Würde“ von einem Bundespräsidenten verlangen, in einer Gesellschaft, die die Würde abgeschafft hat, weil sie nichts einbringt, so verlangen sie ein kleines bisschen Integrität von sich auf einem strukturell korrupten Markt der Meinungen und Bilder.

Unsere „Presselandschaft“ wäre außerstande einen realistischen und detaillierten Artikel über die Erzeugung des Preises von schwarzen Bohnen (oder Kartoffeln) hervorzubringen. Und das gleich aus drei Gründen: Ein solcher Artikel „verkauft“ nicht. Ein solcher Artikel benötigt eine journalistische Arbeit, die im Lohndrücker-Kapitalismus unbezahlbar ist. Und: Wer wirklich dahinter käme, wie der Preis von schwarzen Bohnen (oder Kartoffeln) auf dem Markt zustande kommt, der würde unbequem, der lebte gefährlich. Und wer über das Bauwesen in unserem Lande im Detail berichtete, der oder die lebte gefährlicher als ein Castro-Feind in Kuba.

Der moralische Anfall unserer Journalisten ist aber vielleicht doch etwas mehr als eine der mittlerweile gewohnten Volten, in denen das F.A.Z.-Feuilleton plötzlich marxistisch schwärmt, queere Pfarrer den Glauben an die Kirche retten und die CDU zur Umweltpartei wird. Es könnte der Beginn eines Weges zur Einsicht sein, dass generell die politische Ökonomie unserer freien Presse auf dem Prüfstand steht. Was da passiert, auf mailboxen und woanders, zwischen einem Bundespräsidenten und einem Medium der Niedertracht, das ist ja nur ein Symptom. Dahinter stecken drei schwerste Erkrankungen der freien Presse: Die Verflechtung von Politik und Medium bis hin zu einer gegenseitigen Abhängigkeit von Mafia-Ausmaßen. Die Verwandlung der Medien in ökonomische Instrumente, bei der die Vermischung von Werbung und redaktioneller Aussage überführt wird in einen Meta-Text des Marktes, Nachricht und Ware als vollendete Einheit. Die Konzentration der Macht über den Pressemarkt und durch den Pressemarkt in wenigen Händen und Firmen, die global spielen und deren Protagonisten es ein leichtes ist, wenn man sie lässt, einen nationalen oder regionalen Kommunikationsmarkt zu vernichten oder aufzufressen. Die Medien der Niedertracht haben die Politik und die populäre Kultur ungefähr so unterwandert wie die Neonazis den Verfassungsschutz unterwandert haben: Unterwanderung als Wechselspiel. Alles andere, das rapide Verschwinden des „Qualitätsjournalismus“, die verhängnisvolle Macht des Vertriebs, Kampagnen-Fahrten und Mainstreaming, Aufmerksamkeitsökonomie statt demokratischem Auftrag usw. sind in aller Regel direkte Folgen dieser Krankheiten. Wir trauen gewiss keinem unserer famosen Politikerinnen und Politiker zu, für die Entflechtung von Politik und Medien einzutreten und Bedingungen für eine Rückkehr zur wirklichen Pressefreiheit zu schaffen. Aber genau so wenig trauen wir unseren famosen Journalistinnen und Journalisten zu, ihr eigenes System so weit aufzuklären, um die Erkenntnis zu kommunizieren: Es darf so nicht weiter gehen. Die Demokratie wird auch am Zeitungskiosk verspielt. Und die wenigen verbliebenen kritischen Stimmen sind keine Ausrede.

Wer die Zeitschriftenregale eines deutschen Supermarkts betrachtet, der möchte ganz einfach kotzen, was durch die ansonsten angebotenen Speisen, Getränke und 1-Euro-Accessoires nicht wirklich erschwert wird. Nicht weil man über die Dummheit und Obszönität, diese Wegwerfprodukte, die nur für Wegwerfprodukte Reklame machen können, so kulturell empört, nicht weil man was besseres wäre, sondern weil hinter den Grinse- und Blutfarben die große Verzweiflung sichtbar wird über das nicht gelebte Leben. Nicht weil diese Presse so lügt, wirkt sie so erschreckend, sondern weil sie so die Wahrheit über die Welt sagt, in der wir leben. Die ökonomisierte und privatisierte Presse kann nur über eines wahrheitsgemäß berichten, über die Ökonomisierung und Privatisierung unseres Lebens. So tauchen wir aus dem Endlossumpf des Intimen – auch die Liebesgeschichte von Merkel und Sarkozy ist eine Soap Opera mit leicht degoutanten Untertönen – nur noch auf, wenn Skandal und Katastrophe locken. Nur von unserem eigenen Leben, darüber, warum es so ist, wie es ist, erfahren wir nichts.

Kuba muss Pressefreiheit lernen. Aber bitte nicht von uns.

Georg Seeßlen, taz