Am 15. Februar 2023 erschien in der Sächsischen Zeitung unter der Überschrift „Es liegt allein am russischen Präsidenten“ ein Artikel [1], der in einem Gespräch mit Außenministerin Annalena Baerbock die aktuelle Lage im Verhältnis zu Russland berührt. Beginnend mit der Überschrift – der Alleinschuld-Behauptung – die apostrophiert offensichtlich den Tenor in Baerbocks Sicht auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine wiedergeben soll, möchte ich meinen Widerstand gegen derzeitige kriegsbefeuernde Tendenzen in Deutschland zum Ausdruck bringen. Markiert Annalena Baerbock den russischen Präsidenten als allein Schuldigen, kann ich nur schlussfolgern, dass es seitens der deutschen Außenministerin grundsätzlich keine Bereitschaft zu vergleichenden Verhandlungen auf Augenhöhe mit Russland gibt. Dies werte ich als Entzug der Basis jeglichen diplomatischen Handelns, was für die „oberste Diplomatin“ Deutschlands wohl ein Paradoxon ist.

Auf die Frage der SZ-Autoren, „Befinden wir uns im Krieg mit Russland?“ antwortete Frau Baerbock: „Nein. Russland greift die Ukraine mit dem Ziel an, dieses Land zu vernichten.“ Diese Aussage über das Ziel Russlands ist in keiner Weise mit Worten und Taten der russischen Seite belegt. Sie ist, um sie nicht als bewusste Unwahrheit (= zweckdienliche Lüge) zu werten, bestenfalls eine Vermutung. In ihrer Absolutheit unterbindet diese Unterstellung jegliches zweifelnde Nachdenken über den Gegenstand des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland.

Warum sehe ich das so? Nehmen wir ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte: Im Irakkrieg 2003 wurde das Zweistromland von der „Koalition der Willigen“, angeführt von den USA, überfallen und in einem Blitzkrieg, der vom 20. März bis zum 1. Mai dauerte, erobert. Dabei wurde weder auf die Bevölkerung noch auf die Infrastruktur noch auf die reichen Kulturschätze, die teilweise zum Welterbe gehörten, Rücksicht genommen. In einem zerschossenen Bagdad, plünderte man, u.a. auch Militärangehörige der Invasoren, die Museen. Erinnert sei an die propagandistische Lüge als Mittel psychologischer Kriegführung, der Irak sei im Besitz von Massenvernichtungswaffen, die den Angriffskrieg begründete. Die chaotischen Verhältnisse in diesem Krieg verhinderten sogar die Zählung ziviler Todesopfer, so dass es bis heute darüber keine verlässlichen Aussagen gibt.

Ich behaupte, Russland wäre unter Einsatz der konzentrierten Schlagkraft seiner Armee nach dem „Vorbild“ des Irakkrieges 2003 bei einem vermeintlichen Ziel der Vernichtung der Staatsstruktur der Ukraine anders vorgegangen als wir es augenscheinlich erlebten. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands schien von Anfang an nicht staatsvernichtend angelegt zu sein. Vielleicht ging es darum, Gebiete mit überwiegend russischer Bevölkerung von der Ukraine abzutrennen? Diese Vermutung erhärtend, werden – nicht erst seit dem 24. Februar 2022 – von führenden ukrainischen Politikern alle Russen als Feinde bezeichnet! (Ukrainischer Botschafter: „Alle Russen sind unsere Feinde“, Sächsische Zeitung vom 07.04.2022) [2] Es besteht die reale Gefahr, ethnisch definierte Feinde nach historischen ‚Vorbildern’ zu inhaftieren, aus dem eigenen Staatsgebiet zu vertreiben oder zu vernichten.

Um die geschichtlichen und territorialen Hintergründe des Konflikts richtig einzuordnen, sollte man um die Geschehnisse ethnischer „Säuberungen“ wissen, die mit der deutschen Besetzung der Ukrainischen Sowjetrepublik während des 2. Weltkrieges, insbesondere in Kiew, einhergingen. Aus diesem Grunde habe ich ein Zitat eines Zeitzeugenberichtes (entnommen dem Dokumentarfilm „Die Frau mit den 5 Elefanten“) über die in der Ukraine geborene Russisch-Übersetzerin Swetlana Geier gewählt. In knappen Worten wird das Prozedere der Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung Kiews, die zehn Tage nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Jahre 1941 innerhalb von 2 Tagen vollzogen wurde, beschrieben. [3]

In Konsequenz der erklärten Feindschaft zu Russen wäre eine Tilgung alles Russischen innerhalb des ukrainischen Staatsgebietes eine Menschenrechtsverletzung von gewaltigem Ausmaß, die die internationale Staatengemeinschaft nicht zulassen darf! In der Ukraine lebten über 8 Millionen Russen (Volkszählung 2001), was 17,3 % der Bevölkerung entsprach. Mit der Sendung von Waffen an die ukrainische Kriegspartei wird daher keineswegs nur ihre Verteidigungsfähigkeit gestärkt, sondern es werden auch die erklärte Rückeroberung, die Vernichtung und Vertreibung aller Russen unterstützt.

Schlussfolgernd befürworte ich, einseitig rechthaberische Standpunkte aufzugeben und eine Verhandlungsbereitschaft zu entwickeln, die nur dann fruchtbringend sein wird, wenn die gegenseitigen Interessen gebührende Berücksichtigung finden und eine wirkliche Bereitschaft zu Kompromissen vorhanden ist. Ansonsten muss, wie es zum Beispiel der gegenwärtige ukrainische Botschafter in Deutschland Oleksij Makejew in einem Interview mit der Sächsischen Zeitung vom 11./12.02.2023 [4] erklärte, „Was auch immer passiert, wir kämpfen bis zuletzt.“, bedingungslos weiter bis zur „endgültigen Rückeroberung“ gemetzelt werden. Einer solchen Absicht verweigere ich meine Unterstützung kategorisch!

 

Hoyerswerda am 11. März 2023

Gerhard Walter



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Quellen:

[1] Sächsische Zeitung am 15.03.2023: „Es liegt allein am russischen Präsidenten“, Autoren im Gespräch: Felix Hackenbruch, Valerie Höhne und Hans Monath

[2] Sächsische Zeitung am 07.04.2022: Ukrainischer Botschafter: „Alle Russen sind unsere Feinde“ … (in einem) Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte Melnyk: „Ich sage es ganz klar: Russland ist ein Feindstaat für uns. Und alle Russen sind Feinde für die Ukraine …“

[3] Wortprotokoll aus dem Film „Die Frau mit den 5 Elefanten“, Schweiz / Deutschland 2009 – ca. ab Minute 49:00 (https://www.youtube.com/watch?v=ULtNc3M1IUg)

Sprecher: Am 22. Juni 1941 bestand Svetlana das Abitur mit Auszeichnung. Am selben Tag überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Deutsche Verbände rückten auf Kiew vor.

Swetlana Geier: Bevor die Deutschen kamen und bevor der Ring um Kiew geschlossen war, man ausreisen konnte, hatte meine Mutter mir gesagt, ganz klar: du bist jung, dein Leben ist vor dir, du kannst gehen. Ich gehe mit den Mördern deines Vaters nicht.

Sprecher: Mutter und Tochter blieben. Drei Monate später wurde Kiew von deutschen Soldaten besetzt. Die meisten Leute hießen sie als Befreier von Stalins Diktatur willkommen.

Swetlana Geier: Es war ein grau-kühler September. Sie kamen an dem Tag, an dem die Juden sich sammeln sollten. Meine Freundin kam, und wir wollten uns genau und klug verabreden, dass wir uns nicht aus den Augen verlieren. es war eine jüdische Familie. und ich brachte sie aus dem Haus raus … Und dann ist meine Freundin gegangen. und ich bin ins Haus gegangen. Als sie sich bei mir verabschiedete, haben wir nicht im Leisesten damit gerechnet, was kommt.

Sprecher: Zehn Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht oder der jüdischen Bevölkerung von Kiew befohlen, sich für ihre Evakuierung zu sammeln. Svetlanas Freundin Neta und ihre Mutter zogen in einer endlosen Kolonne zu einem Güterbahnhof am Rand der Stadt.

Swetlana Geier: Man wusste, dass Hitler also den Juden nicht wohl ist, aber das hat man als antideutsche Propaganda aufgefasst. Man hat das ganz und gar nicht ernst genommen.

Sprecher: Ihr Weg führte durch die Schlucht Babyn jar. Dort warteten ein Sonderkommando der SS und Einsatzkommandos des Sicherheitsdienstes. Zwei Tage lang hörte man die Maschinengewehre bis in die Stadt. Für über 30.000 Menschen wurde die Schlucht zu einem Massengrab.

Swetlana Geier: Es hört nie auf. Es hört nie auf. Und es ist nie eine Vergangenheit geworden. Das tut mir so weh, jetzt zu sprechen, so wie vor 60 Jahren. Das vergisst sich nicht.

[4] Sächsische Zeitung am 11./12.02.2023 Annette Binninger, Franziska Klemenz im Gespräch: „Was auch passiert, wir kämpfen bis zuletzt.“



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