Wandel durch kritische Annäherung

Irrer, Gespenst, Operettenheld. Als Muammar al-Gaddafi dieser Tage über die Wohnzimmerbildschirme des Westens flimmerte, hagelte es nur so beißenden Spott. Zugegeben, der Mann, der da mit Schirm und Schutzbrille in einem maroden Verlies vor sich hin tobte, sah wirklich eher wie der Held eines US-Endzeitthrillers der B-Klasse aus als ein amtierender Staatschef. Noch bizarrer als der hilflose Nicolae Ceaucescu auf einem Balkon in Bukarest oder der stammelnde Erich Mielke in der Ostberliner Volkskammer, denen auch geschwant hatte, dass ihre letzten Stunden unmittelbar bevorstehen. Doch der behende Rückgriff in die unterste Schublade der Klischeekiste, Marke „Orientalische Despotie“, war auch ein geschicktes Ablenkungsmanöver.

Der Mann in Libyen hat gewiss einen Hang zum Drama. Wie sich bei Gaddafis Kombination von Fantasieuniform und Grausamkeit eher Parallelen zu Hermann Göring aufdrängen als zu Mehmet dem Eroberer. Hinter der theatralischen Kulisse agierte aber auch immer ein Politiker, der mit atemberaubender Geschwindigkeit vom Liebling der volksrevolutionären Bewegungen aller Länder ins Fach des knallharten Realpolitikers gewechselt hatte. Und von derselben Europäischen Union, die ihn jetzt zum Psychopathen erklärt, deswegen hofiert wurde. Gerhard Schröder, Silvio Berlusconi und Nicolas Sarkozy gaben sich bei dem Wüstensohn die Zeltheringe in die Hand. Und noch vergangenen November hat sich die EU gern zu einem gemeinsamen Afrika-Gipfel nach Tripolis einladen lassen. Statt ihn dort nach Menschenrechten zu fragen, bezahlte sie ihren drittwichtigsten Öllieferanten lieber dafür, die Armutsflüchtlinge aus Schwarzafrika abzufangen und in Lager zu sperren.

Alle loben nun Facebook und Twitter. Ganz zu Recht. Doch diese segensbringenden Netzwerke werden die Politiker nicht ihrer Pflicht entheben können, selbst überall auf dem Globus für demokratische Verhältnisse zu sorgen. Deshalb werden sie auch in Zukunft immer mal wieder einem Mann die Hand geben müssen, den sie eigentlich lieber sofort zum Teufel jagen würden. Doch der Westen muss sich eine andere Ethik im Umgang mit Despoten zulegen, wenn er glaubwürdig bleiben will – von Myanmar bis Weißrussland. Erst im UN-Sicherheitsrat Schaufensterreden halten und dann die Weihnachtsferien in Diktatorenpalästen verbringen – damit darf kein Staatsmann mehr durchkommen, dem es mit den westlichen Werten ernst ist. Wer eine Allianz für globale Demokratie schmieden will, sollte sich die sozialliberale Entspannungspolitik der siebziger Jahre zum Vorbild nehmen. Ihr Konzept: Wandel durch kritische Annäherung, ist ein Beispiel dafür, wie man die Realpolitik des Tages mit dem langfristigen Ziel in Einklang bringen kann. Das Ergebnis 1989 konnte sich sehen lassen.

Text: Ingo Arend

Bild: wikipedia.org