Der Markt ist gekommen
In Istanbul wächst die Kunstszene, Sammler und Galeristen unterstützen kritische und junge Künstler. Aber befördert das auch die Liberalisierung des Landes?
In der Türkei geht die Angst vor dem Unsichtbaren um. Wie anders ist es zu erklären, dass die Regierung vor zwei Wochen ein Buch verboten hat, das noch nicht erschienen war. Das Material über die Bewegung des islamischen Predigers und Unternehmers Fethullah-Gülen, die der türkische Journalist Ahmet Sik für sein Buch „Das Heer des Imams“ zusammengetragen hat, muss Besorgnis ganz oben in der Staatsspitze ausgelöst haben.
Zur selben Zeit, als das unpublizierte Buch samt seinem Urheber aus dem öffentlichen Verkehr gezogen wurde, verschwanden mit Sik weitere 63 kritische Journalisten hinter Gittern. Der „Tiefe Staat“, das berüchtigte Bündnis aus Armee, Faschisten, Polizei, Konservativen und neuerdings offenbar auch islamischen Politikern, das da wieder einmal zuschlug, erregt gerade deswegen so viel Furcht, weil es unsichtbar ist, unerwartet aus dem Off agiert.
Die Angst vor dem Unsichtbaren
In einer Brandrede warnte kürzlich die Oberste Richterin in Ankara, Emine Ülker Tarhan, vor dem Verschwinden des Rechtsstaates in ihrem Land und trat zurück. Angesichts der blutigen Dialektik von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Verschwinden und Erscheinen, von Verschleiern und Enthüllen in der Türkei war es keine schlechte Idee, vergangenes Wochenende am Bosporus die Ausstellung „Tactics of Invisibility“ zu eröffnen. Denn die dritte Ausstellung im neuen Kunsthaus Arter, die zuvor schon in Berlin und Wien zu sehen war, legt deren Mechanismen offen. Mitten im Herzen Istanbuls.
In seiner Videoinstallation „Invisible“ zeigt beispielsweise der 1974 geborene Künstler Nasan Tur zehn heimlich gedrehte Aufnahmen von Moscheen in Deutschland auf Überwachungsmonitoren. Unauffällig verstecken sich die Gebäude zwischen Wohnblöcken, Hinterhöfen und Garagen; damit zeigt Turs Arbeit, wie eine beargwöhnte Minderheit sich in einem feindseligen Umfeld zu schützen versucht, indem sie sich selbst unsichtbar macht.
Auf diese Rückzugstechnik hat sich die Kunst in der Türkei, noch bis vor Kurzem selbst eine Art säkulare Minderheit, nicht eingelassen. Seit vier, fünf Jahren ist sie hier sichtbarer denn je. Zunächst war die 1987 gegründete Istanbul-Biennale der Fixpunkt der zeitgenössischen Kunst in der Türkei. Langsam gruppiert sich um diese streitlustige Oase ein Humus aus Museen, Galerien und Off-Spaces, ohne den auch die enthusiastischste Szene keine Nachhaltigkeit entwickeln kann. In den letzten vier Jahren öffneten in Istanbul rund 250 neue Galerien. Geschätzter Jahresumsatz: knapp 5 Millionen Euro.
Besonders private Sammler ließen in derselben Zeit gern Non-Profit-Häuser wie Pilze aus dem türkischen Boden schießen. Zu ihnen gehört das 2004 gegründete Istanbul Modern der Eczacibasi Holding. Selbst Orhan Pamuk baut sein eigenes „Museum der Unschuld“.
Das Kunsthaus Arter wird von der Industriellen-Familie Koc unterhalten. Im vergangenen Juli nahm es seine Arbeit mit einer vielbeachteten Ausstellung zeitgenössischer türkischer Kunst seit den sechziger Jahren auf. Viele Werke stammten aus der Sammlung der Familie. In Zukunft will Kurator Emre Baykal aber ausschließlich junge türkische Kunst zeigen. Ömer Koc, millionenschwerer Chef des Clans, der die größte Kollektion orientalischer Bücher der Türkei besitzt, will seine Sammlung im Herbst in einem neuen Museum im Norden Istanbuls präsentieren.
Millionenschwere Philanthropie
Das generöse private Sponsoring ersetzt in der Türkei die mangelnde staatliche Finanzierung der Kunst. Die Regierung gibt nur einen Bruchteil des Budgets für die Kultur aus. Ein neuerliches Beispiel der millionenschweren Philanthropie, die gerade die kritische Kultur trägt, gibt Salt, das schräg gegenüber von Arter, auf der anderen Seite der großen Einkaufsstraße Istiklal Caddesi, eröffnet hat. In diesem Trust hat Garanti, die größte Bank der Türkei, ihre Non-Profit-Institutionen zusammengezogen. Für 45 Millionen Euro hat sie in Beyoglu ein altes Istanbuler Bürgerhaus aus dem 19. Jahrhundert aufwendig renoviert.
Die Dialektik von Verschwinden und Erscheinen hat bei Salt einerseits spielerischen Charakter. Der indische Designer Prem Krishnamurthy durfte dem Haus eine teure Schrifttype entwerfen, bei der einigen Buchstaben ein Teil fehlt. Chef des Hauses ist Vasif Kortun, der wichtigste Mentor und Kurator der kritischen Kunst der 90er Jahre in der Türkei. Der Laden, dem der 1958 geborene Mann nun als „Forschungsdirektor“ vorsteht, ist ein Sammelsurium aus 16.000 Bank- und Künstlerarchiven und „innovativen Programmen“ von der Kunst- bis zur Wirtschaftsgeschichte. Salt, das türkische Wort für „einzig“, passt also.
Dass Salt seine Eröffnungsausstellung dem 2008 gestorbenen Hüseyin Bahri Alptekin widmete, lässt sich als andererseits Plädoyer für das Wiedersichtbarmachen eines kritischen und marktfernen Künstlers werten. „I am not a studio artist“ beschrieb sich der Philosoph und Fotograf einmal selbst. Selbst bei Gründung der privaten Galerie Rampa im weiter östlich gelegenen Besiktas spielte ein nichtkommerzieller Aspekt eine Rolle. „Wir wollten türkischen Künstlern eine Plattform bieten, Neues auszuprobieren“, sagt Leyla Ara, die Besitzerin und Architektin. Mit 900 Quadratmetern ist Rampa zur größten privaten Galerie in Istanbul aufgerückt. Dass Ara ausschließlich türkische Künstler ausstellt, ließe sich als Nachhall der nationalistischen Idee lesen, der die Kultur der Türkei noch immer imprägniert. Doch dass es Ara nicht um die ästhetische Verteidigung des Türkentums geht, macht ein Blick auf die Künstlerliste deutlich. Vom 1945 geboren Cengiz Cekil bis zur 1972 geborenen Nevin Aladag reicht die Spanne der kritischen Positionen.
So viel Geld und Leidenschaft für die gottlose Kunst in einer säkularen Republik, die zu 99 Prozent aus Muslimen besteht, müsste eigentlich hoffen lassen. Doch die poetische Direktheit der türkischen Gegenwartskunst, die René Block so schätzte, als er Mitte der achtziger Jahre an den Bosporus kam, weicht mehr und mehr einem routinierten Betrieb. Und einem guten alten Bekannten, dem Markt. Als das Auktionshaus Sothebys im vergangenen Frühjahr zum ersten Mal türkische Gegenwartskunst versteigerte, bekam ein Werk der bekannten Künstlerin Fahrelnissa Zeid für eine Million Dollar den Zuschlag.
„Wir sind kurz vor einer Explosion“, freute sich Vasif Kortun noch im letzten Jahr angesichts des Booms, der sich da zusammenbraute und riet den Künstlern, ihre Werke nicht zu früh zu verkaufen. Jetzt, wo der Markt gekommen ist, fasst er die Lage skeptischer zusammen. „Wir müssen mal sehen, wie wir ihn dominieren können“, sagt der Intellektuelle mit der markanten Hornbrille skeptisch lächelnd beim VIP-Empfang im Besiktaser Nobel-Nachtclub Vogue.
Die Hoffnung, dass die Kunst als Katalysator und Speerspitze einer neuen, liberalen und multikulturellen Zivilgesellschaft fungieren könnte, schwindet nicht nur in dem Maße, wie sich ihr Betriebssystem professionalisiert und immer teurere Häuser bezieht. Zwar ziehen die immer häufigeren Kunstevents eine junge, selbst- und modebewusste Klientel aus der oberen Mittelschicht an. Und Bahattin Öztuncay, Generalkoordinator von Arter, verweist stolz auf die 250 Besucher, die das Haus jeden Tag betreten. Kein Wunder, liegt es doch an Istanbuls Hauptverkehrsstraße Istiklal Caddesi, auf der Tag und Nacht Tausende zum Shoppen und Flanieren vorbeiziehen.
Plötzliche Gewalt
Dieser Vermehrung einer liberalen Öffentlichkeit stehen dann aber doch wieder Staatsaktionen wie die gegen Ahmet Sik gegenüber. Oder die plötzlichen Attacken gläubiger Kleinbürger. Bei einer Galerieeröffnung im Stadtteil Tophane wurden im vergangenen Sommer die Besucher von jugendlichen Schlägern überfallen. Das kleine Häufchen der Vereinigung der „Mütter der Verschwundenen“, die vergangenes Wochenende auf Istanbuls zentralem Platz Taksim demonstrierte, wirkt gegen diese periodisch aufbrechende Gewalt wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Frauen fordern Aufklärung über das Schicksal der vielen Opfer der Willkür von Staat, Justiz und Polizei. Ob die Kunst die Türkei langsam, aber sicher zivilisieren hilft, ist längst nicht ausgemacht. „Die Situation ist offen“ gibt Bahattin Öztuncay im Gespräch unumwunden zu.
Ganz unbegründet ist die unter Intellektuellen und Künstlern grassierende Angst vor der schleichenden Islamisierung nicht. So pauschal wie die Kritik daran vorgebracht wird, unterschlägt sie aber auch die Widersprüche auf der Gegenseite. Genau darum geht es Nilbar Güres. Im schicken Teil von Besiktas, wo abends die Hautevolee in sündhaft teuren Lokalen zum Dinner schlendert, läuft im Schaufenster von Rampa ein 2006 entstandenes Video der Künstlerin.
In „Undressing“ legt eine vollkommen vermummte Frau langsam die vielen Schleier ab, die sie sich um ihren Kopf gewunden hat. Eine Stimme spricht unter Muslimen beliebte Frauennamen wie Sisi oder Nuriye. Güres will daran erinnern, dass auch verschleierte Frauen immer noch Individuen sind. Zum Schluss zögert die fast Entblößte einen Moment. Und zieht dann doch den letzten Schleier herunter. Erleichtert atmen die neugierig gewordenen Passanten, die vor dem Schaufenster stehen geblieben sind, auf, als die junge Frau lachend ihre offenen Haare schüttelt. Zumindest im Video hat die Kunst der „Visibility“ gesiegt.
Text und Foto: Ingo Arend
Text erschienen in taz, 12.04.2011
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