Gusmão + Paiva: Von der Magie der Wirklichkeit
„Imagine Reality“ – so lautet der Titel der Hauptausstellung der „RAY Fotografieprojekte 2015“.
Im Rahmen der Schau ist im Frankfurter Museum für Moderne Kunst eine neue Film- und Fotoinstallation von Gusmão + Paiva zu sehen.
Über eingebildete Realitäten, optische Täuschungen und ekstatische Voodoo-Tänzer im Werk des portugiesischen Künstlerduos.
„Grüne und rosa Streifen und ein hellblaues Kreuz auf schwarzem Hintergrund“, „Einfaches violettes Kreuzmuster“, „Schwache Apricot-Streifen und blaue Bänder auf Schwarz“. Die Titel der jüngsten Arbeiten von Gusmão + Paiva sind so demonstrativ funktional, als wollten sie jeden Anschein von Bedeutung von sich weisen. Die übereinander gelegten, pastellenen Folien wirken wie Experimente in Sachen Farbe, Form und Maßverhältnissen. Sie erinnern an Küchenhandtücher oder Stoffproben im Muster von Schottenkaros.
Erst bei näherem Hinsehen geht von dem Geflecht unterschiedlich langer Vertikalen und Horizontalen ein Irritationseffekt aus: Die Linien scheinen nicht mehr gerade, ihre Konturen beginnen vor den Augen zu tanzen, die Kreuzungspunkte der Linien verdunkeln und verdichten sich, sie mischen sich auch nicht nach den Regeln der Farblehre. „Wie sanft ist doch die Täuschung“ – die politische Methode, die der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli einst pries, ist auch eines der Erfolgsgeheimnisse der Kunst.
João Maria Gusmão (geboren 1979) und Pedro Paiva (geboren 1977) wurden durch ihre geheimnisvollen Filme bekannt. Auf 16-mm Celluloid-Filmmaterial gedreht, verbinden diese Werke in Ästhetik und Choreografie Referenzen an den Stummfilm mit Anleihen an wissenschaftliche Schulfilme der 1960er und 1970er Jahre. Die 16 nüchternen Fotografien, die sie nun im Rahmen der RAY Fotografieprojekte 2015 im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK) präsentieren, stehen nur scheinbar im Gegensatz zu dem vorherigen Œuvre des portugiesischen Künstlerpaars, das in Lissabon Malerei studiert hat.
Denn um eine „Imagined Reality“, um eine eingebildete Realität, geht es in allen ihren Werken. So wie sich die geometrischen Streifen in ihren Fotografien zu bewegen scheinen, entspricht das dem Prinzip der Künstler: Aus der unspektakulären, nichtfiktionalen Realität unmerklich eine neue, andere Realität erwachsen zu lassen. Nicht umsonst haben sie eines ihrer Bücher Teoria Extraterrestre (Mousse Publishing, Mailand, 2014/15) genannt. Dahinter verbirgt sich ihre Annahme, dass es Dinge gibt, die „aus jeder Ordnung fallen“.
Mit ihren jüngsten Arbeiten kehren Gusmão + Paiva zu ihrem ursprünglichen Genre zurück, wenn auch mit Hilfe der Fotografie. Das fotografische Verfahren ermöglicht ihnen die Täuschung, die mit der Malerei nicht gelänge. Sie haben unterschiedlich farbige Flächen fotografiert und die Negative mehrfach belichtet, bis der gewünschte Effekt eintrat. Damit variieren sie ein beliebtes Motiv der zeitgenössischen Kunst, das von den minimalistischen Liniengeflechten der amerikanischen Malerin Agnes Martin bis zu den psychedelischen Streifenbildern der britischen Op-Art-Malerin Bridget Riley reicht. Auch bei Gusmão + Paivas Arbeiten entsteht ein Gefühl visueller Instabilität.
Der innere Zusammenhang von Gusmão + Paivas Fotografie und ihren Filmen lässt sich an zehn Filmen studieren, die die neuen Fotografien im MMK flankieren.. Der geisterhafte Effekt, der ihr Werk durchzieht, ergibt sich aus einer gegenläufigen Machart. Die Künstler nehmen ihre Sujets mit einer Geschwindigkeit von 3000 Bildern pro Sekunde auf und verlangsamen das Filmmaterial während des Screenings wieder auf die normalen 24 Bilder pro Sekunde.
Die Motive dieser Kurzfilme sind unspektakulär und isoliert von jedem sozialen Kontext: Eine endlos rotierende Wassermühle (Water Mill, 2012), ein Truthahn, der vor einem Landschaftsbild steht und Körner pickt (Cassowary, 2010). Neben solcher Poetisierung des Alltäglichen thematisieren Gusmão + Paiva auch Fragen zu Natur und Wissenschaft. In Fried Egg (2008), eines ihrer berühmtesten Videos, sieht man, wie ein Speigelei gegart wird. Dieser Film aus der Serie On Meteorics , in dem für ihre Arbeiten typischen Slow-Motion gedreht, fungiert als quasi-wissenschaftliche Demonstration der Philosophie der antiken Atomisten und ihrer Teilchenlehre. So schrieb Demokrit im 4. Jahrhundert vor Christus: „Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und leeren Raum.“
Immer ist das Werk der Künstler eingebettet in ein reiches, philosophisches Referenzsystem von Platon bis Popper. Experiments And Observations On Different Kinds Of Air – der Titel der Installation aus 35 Kurzfilmen und 3 Camerae Obscurae, mit der Gusmão + Paiva Portugal auf der 53. Biennale von Venedig 2009 vertraten waren, bezog sich auf das gleichnamige Werk des amerikanischen Philosophen und Physikers Joseph Priestley, der im 18. Jahrhundert erstmals die Darstellung und Wirkung des Sauerstoffs beschrieb. In dem Film The Soup (2009) versucht eine Affen-Familie Kartoffeln aus dem kochenden Wasser eines Kochtopfs zu ziehen. Der lebende Fisch, der in dem Video Cowfish (2011) auf einem Teller liegt, nach Luft schnappt und mit den Flossen schlägt, wirkt wie der Beweis, dass ein Zuviel an Sauerstoff zum Tode führen kann. Zugleich sieht er so aus, als gelänge ihm jeden Moment etwas Unmögliches: Abheben und Davonfliegen.
So sehr auch Gusmão + Paivas Arbeiten zwischen Mythos und Wissenschaft oszillieren, immer werfen sie die Frage nach den Paradoxien der Realität, nach der Natur und den Bedingungen der Wahrnehmung, der Genese und der Objektivität von Visionen und Erscheinungen auf. Mitunter erinnern ihre Filme an Bewegungsstudien der frühen Wissenschaftsfotografie. In dem knapp dreiminütigen Video Getting into bed (2011), dem Remake einer Edward Muybridge-Arbeit von 1887 mit dem Titel Woman getting into bed, sieht man, wie eine nackte Frau langsam auf ein Bett zugeht, sich hineinlegt und zudeckt: Geister- und Wissenschaftsfilm zugleich. Das gelbe Eidotter in dem Video Fried Egg ist sowohl eine Anspielung auf das menschliche Auge als Wahrnehmungsorgan als auch auf den Himmelskörper Sonne. Es kommt immer auf den Blickwinkel an, aus dem man auf die Dinge schaut.
Gusmão + Paivas Arbeiten sind ein bemerkenswerter Kontrapunkt zu dem aktuellen Trend der Adaption wissenschaftlicher Forschung durch die Bildende Kunst. Wo die „Wissenskünste“ ihren Hang zur Objektivierung ausleben, verfolgt das Duo seine „Parawissenschaft“, spielt mit dem Opaken und Mysteriösen. Den Titel ihres 2012 erschienen Buches muss man programmatisch lesen: Abissology: Theory of the Indiscernible (Abgrundwissenschaft. Theorie des Nichtwahrnehmbaren). Diese „Wissenschaft“ will keine definitive Wahrheit proklamieren. Sie rückt das Unstabile aller Erscheinungen, rückt das Unbewusste in den Vordergrund. Die 2009 von den Künstlern gegründete International Society of Abissology als „main platform for production, edition and promotion of Abissological research and associates“ pflegt sogar eine eigene Facebook-Seite.
Diese „Abissology“ markiert keine Rolle rückwärts zu Mythos, Esoterik oder Okkultismus. Auch wenn sie in ihrem jüngsten, ausnahmsweise 43 Minuten langen Video Papagaio (2014) dem Voodoo-Kult der Jambi in São Tomé in Neu-Guinea nachgehen. Mit Hilfe von Alkohol, Zigaretten und der Gegenwart der Toten geraten die Tänzer in der Dunkelheit in Entrückung und Ekstase. Es ist genau diese Erfahrung des Irrealen die „Papagaio“ mit ihren neuen Fotografien verbindet. Und wie um zu demonstrieren, dass es auch in Zeiten der Post-Internet-Art keiner digitalen Wunderwaffen bedarf, um ein Fenster zu der Welt hinter der Welt aufscheinen zu lassen, haben sie diese Arbeiten analog und manuell produziert.
Ingo Arend
Text zuerst erschienen in ART MAG
AUSSTELLUNG
RAY Fotografieprojekte
Imagine Reality
20.06. – 20.09. 2015
Fotografie Forum Frankfurt
Museum Angewandte Kunst, Frankfurt
MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt
Alle Informationen zum Programm von RAY finden Sie hier.
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