Konstantinopel-500

 

Auf den Spuren von Patrick Leigh Fermor

Ich könnte sagen, dass ich wieder zurück bin, aber eigentlich bin ich nur hier angekommen, was ein Unterschied ist, weil das Ende einer Reise bloß ein ungenauer Zeitpunkt auf einer Linie, auf einer Spur ist, und auch nur der Beginn einer neuen.

Das ich nicht in Istanbul, sondern hier ankommen würde, war mir nicht klar, obwohl ich mir schon die Frage gestellt habe, warum ich eigentlich in den Orient fahren sollte, denn für mich war der Orient bereits fertig, in meinem Kopf. Auch wenn er in der Realität gerade sehr in Bewegung ist. Ich hatte ein Unbehagen davor, in den Orient zu fahren.

Eine Reise war es aber dennoch, und also kein Scheitern, nur eben anders als gedacht. Im winterlichen Sofia habe ich ein paar Frühlingsbotinnen getroffen und den Palmsonntag als orthodoxes Fest erlebt, weil die Deutsche Bahn die Zeitverschiebung nicht beherrscht.

In Budapest musste ich eine Nacht bleiben, weil der Zug schon weg war. Es ist üblich in Osteuropa, dass Züge ein oder zwei Stunden Verspätung haben. Und für weit entfernte Ziele gibt es immer nur einen Nachtzug je Abend.

Eine junge Ungarin, sie hatte neben mir im Zug gesessen und fuhr von Berlin über Ostern nach Hause, brachte mich zu einem Hostel und zeigte mir das Viertel, in dem es lag. Sie zeigte mir alles was sie kannte auf der Pester Seite bis zur Donau und von dem sie meinte, ich müsste es sehen. Wir standen immer kurz vor Museen, Kirchen und anderen Gebäuden, die geschlossen waren. Dann gingen wir ungarisches Bier trinken. Die nächtliche Stadt war voller Menschen am Abend vor Ostern.

Ich sah mir Budapest am nächsten Tag noch einmal an, jedoch ohne Ruhe, weil ich weiter wollte. Ich sah einige der Gebäude wieder, ging aber auch jetzt in keines hinein.

Gebäude, Donaubrücken, ich stand davor und hakte es ab, ich war da, hatte gesehen, dass es diese Dinge gibt und ging weiter. Ich aß in einem Café, ging in ein anderes, trank Kaffee, ging weiter, trank Tee. Es war gegen vier Uhr nachmittags, die Sonne schien kräftig, der Zug ging um Sieben. Dieses Gefühl, immer etwas in der Zeit verrutscht zu sein. Warten an einem Bahnsteig auf später, irgendetwas später im Leben, einen späteren Zug. Ich könnte jetzt schon dort oder dort sein. Der ganze Tag war so, ich sah mir die Dinge an, wie Züge, mit denen ich nicht fahren würde.

Ich holte mein Gepäck aus dem Hostel, fuhr zum Keleti und wartete in der Sonne vor der Eingangshalle. Im Keleti steht nie fest, von welchen Gleisen die Züge fahren oder wo sie ankommen. Erst im letzten Moment zeigt die große Tafel es an. Fast die gesamte Eingangshalle ist voller Stehender, die auf die Tafel starren, wie bei einem Fussballspiel, nur ohne Regung. Dann lösen sich größere Gruppen und laufen plötzlich los. Ich stand etwa eine Stunde. Draußen wurde es dunkler. Mein Zug war spät, von irgendwoher musste er gekommen sein.

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Fast wäre ich wieder ausgestiegen, nachdem ich es geschafft hatte, in den Zug zu gelangen. Ein breiter bulgarischer Schlafwagenzuhälter oder Wagontürsteher ließ niemanden hinein, auch mich nicht mit meiner Reservierung. Der Schaffner im Nachbarwagon ließ einige Leute bei sich einsteigen oder schickte sie weiter nach vorne. Mich schickte er zurück.

Hinter dem breitbeinigen Jogginghosen-Türzuhalter stand jemand in einer Schaffneruniform, den ich auf mich aufmerksam machen konnte und der meine Reservierung nickend bestätigte, so als könne er leider nichts daran ändern, dass ich nun hinein durfte.

Er brachte mich zu einem Abteil und nahm mir mein Ticket ab. Das ist normal, nur hatte ich das Gefühl, die würden es gleich weiterverkaufen und wenn dann die richtigen Schaffner kämen, hätte ich kein Ticket mehr. Ein einziges weiteres Abteil stand offen, darin saß eine junge Frau. Später stellte ich fest, dass Schlafwagenbesatzungen in Osteuropa immer junge Frauen dabei haben.

Take your protein pills and put your helmet on

Der Uniformierte brachte eine Wolldecke und zwei Laken und legte sie auf die Liege. Ein alter in Ostdeutschland gebauter Liegewagen, Bautzener Wagon, Ostknastatmosphäre und ein bulgarischer Schläger. Ich stand im Gang und öffnete das Fenster und sprach eine Frau auf Englisch an, die vorbei ging. Sie verstand mich nicht. Ich wollte noch mit jemandem ein paar letzte Worte wechseln. Sie sah mich verächtlich an, vielleicht dachte sie, ich hätte etwas Anzügliches zu ihr gesagt.

Ground Control to Major Tom
Commencing countdown, engines on
Check ignition and may God’s love be with you

Der bullige Bulgare sagte etwas in das Abteil der jungen Frau, dann kam er zu mir herüber und zeigte mir den Lichtschalter und wie meine Tür zu verriegeln war. Sehr langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Ich schloss meine Tür, zog die Vorhänge zu, öffnete das Abteilfenster und sah wie die Nacht über Budapest kam. Sehr lange stand ich am Fenster und rauchte.

Ich hatte keine Lust das Bier zu öffnen oder mich auf die Liege zu legen, ich saß einfach nur da. Das normale Zubettgehen dehnte sich über die halbe Nacht aus. Pullover und Schuhe ausziehen, oder lieber doch nicht, vielleicht braucht man sie ja gleich, dann doch die Decke nehmen, es wurde kalt und notwendig, richtig zugedeckt zu sein. Ich zog die Vorhänge wieder auf, der Rausschmeisser hatte sie zugemacht, als Schutzmaßnahme?

Irgendwann brach die Hölle auf. Ich muss eingeschlafen sein.

Die Heizung hinter der Plastikverkleidung im Holzlook brüllt, wirklich, sie brüllt die Hitze aus. Ich bekomme Angst, das gleich alles in Flammen aufgeht. Ich hatte den Regler auf voll gestellt, nachdem nichts passiert war. Ich hatte es vergessen. Mit einer halben Stunde Verzögerung setzte die Heizung ihr zerstörerisches Werk in Gang. Ich stellte den Regler herunter, ich war benommen von der Hitze, mir blieb die Luft weg. Die Tür wollte ich nicht öffnen, nur das Fenster, nur kurz, falls ich wieder einschlafe, damit niemand hereinklettert bei dem Schritttempo.

Im Nebenabteil knarckste es, die Plastikwand würde gleich zerbersten. Ich war mir sicher, der Dicke liegt dort.

Ich schlief für einige Minuten. Vielleicht auch länger. Dann hielt der Zug irgendwo, ich sah gar nichts, ich hörte Leute einsteigen. Beim nächsten Halt die gleichen Geräusche, vielleicht stiegen die Leute wieder aus. Erst jetzt fiel mir auf, dass niemand sie davon abhielt, der Rauschmeisser schlief und die Türen waren offen. Ich zog den Vorhang zum Gang so, dass man auch durch die Löcher nicht hereingucken konnte.

Ich wusste nicht wo ich war. Und ob und wo die Zeitverschiebung stattgefunden hat. Welche Zeitzone mein Fahrplan der Deutschen Bahn angab, die Verspätung beim Losfahren, das Wachsein zwischen dem Schlafen, alles ging in einer Gleichung auf.

Ich hatte vergessen, was ich zuletzt wahrgenommen hatte, bevor mich der Schlaf wieder überkam, dann Geräusche, die mich weckten. Dann Klopfen. Passport! Ich überlegte kurz, ob ich mich nicht rühren sollte und lugte durch den Vorhang. Da standen Leute in Uniformen, die echt sein könnten. Ich stand auf, machte das Licht an und öffnete die Tür. Ich war bis jetzt auf dem ganzen Weg noch nicht kontroliert worden. Jemand hielt mir eine Taschenlampe ins Gesicht und blickte auf meinen deutschen Personalausweis. waren ungarische Zöllner. Sie fragten, ob ich noch ein anderes Dokument dabei habe. Habe ich nicht. Nur mein Nachtgesicht. Keine zehn Minuten später hält der Zug erneut, diesmal rumänische Zöllner, die gleiche Frage. Das Foto in meinem Ausweis ist zehn Jahre alt, fällt mir auf. In Osteuropa sind die Fernzüge Nachtzüge, alle Grenzen liegen im Dunklen, der dunkle Teil der Welt. Schlecht gelaunte Zöllner, verschlafene Reisende.

 

Karpaten

Jemand rüttelt an mir. Ich merke einen festen Griff an meine Schulter. Kreischen, ich höre jemanden kreischen. Schwarzer Nebel und weisser Nebel. Weisser Nebel oben, schwarzer unten. Es rüttelt, ich werde hin und her gerollt. Es ist ein Kind, das Wände aus Klötzen aufgetürmt hat und einen Spielzeugzug hindurchsteuert.

Felswände, es sind Felswände hinter dem Nebel, steil nach oben aufragend. Unten ein Bach, ich kann den silbrigen Grund sehen oder ist es der Himmel? Der Zug wechselt ständig die Seite, der Zug kann gar nicht hier hineinpassen, er knallt gegen die Wand.

Es ist alles schwarz. Ich habe anscheinend die Augen wieder zugemacht. Aber der Nebel ist noch da, noch dichter, dunkler. Ich fliege hindurch, schwebend, meine Liege ist ein fliegender Teppich – Orient ich komme.

Es sind Täler, mit Tunnelröhren verbunden, aus denen der Nebel nicht entweichen kann, wie bei einem Topf, nur der Zug reißt Schwaden mit in den Tunnel, dass es zischt, als wäre der Deckel nun doch aufgesprungen.

Ich muss so fest geschlafen haben, dass ich gar nicht merkte, wie der Zug geteilt wurde, wahrscheinlich in Timisoara nur 84 Meter über dem Meer, Banater Heide, Große Ungarische Tiefebene. Dann in einem Tal, einem Pass, die Berge hoch. Ein scharfer gerader Schnitt, links, nach Osten, die Wand der Transsilvanischen Alpen oder Südkarpaten, die später über zweitausenfünfhundert Meter anwachsen; rechts, im Westen, das Banater Gebirge, die rumänischen Westkarpaten.

Baile Herculane, das Tal genau die Grenze zwischen zwei Gebirgen, hier knirscht es zusammen, schiebt sich gegenseitig in die Höhe, am schmalen Grund der Bach, die Bahnstrecke und ich.

Ich sehe auf die Uhr, ich habe gerade mal zwei Stunden geschlafen, eingedämmert noch beim Gleichklang der Ebenen, windet sich mein Träumen durch die Berge: shake dreams; trunken, müde, klebrig, draussen nur der Hauch, der Anschein eines ersten Lichts, als wäre es das erste Licht überhaupt, das den Nebel und die Felsen trifft am Tag der Schöpfung.

Baile Herculane. Barock? Hier? Neoklassizistische Kuppeln stechen aus dem Dunst, ich springe auf und öffne das Fenster, die Luft, die man draussen sehen konnte, strömt ein. Im Dunkeln Polizisten und andere Uniformierte im fahlen Licht einer Kulisse, die aussieht wie ein Bahnhof, ein Pfiff.

Wieder das tosende, ungeheuerliche Kreischen vom Widerhall des Zuges im Tunnel, dann, suddenly, klare Sicht. Ein Bilderbuchtranssilvanien mit Bildern von vergilbten Häuschen und Hüttchen mit Holzzäunchen, Pferdchen, alten Mütterchen. Kein Baumarkt der Welt könnte das renovieren.

 

Donau

Das Land lag da, als unendliche Fläche, von Wasser durchzogen, großen Strömen, Nebenarmen, Lachen, Sümpfen, Pfützen, in einer orientierungslos machenden, verwirrenden Größe, dass die Menschen allem Wasser den gleichen Namen gaben.

Dn Dnpr Dnstr Dn. So spricht sich dieses Wasser aus, wenn man die Vokale weglässt. Und so wird es geklungen haben, als das Gebirge sich hob und das Wasser hineinschnitt. Don, Dnepr, Dnestr, Donez, Donau, der alte sarmatische, skytische Klang für Strom, für Wasser, als hätten die Steppenvölker das Schneiden und Schieben noch gehört. Das Wasser der Donau war schon da, als die Gebirge sich hoben. Alpen, Balkan, Karpaten, die alpinen Gebirge und die darin gebliebenen Ebenen, diese unendlichen Landmassen, die tief bis nach Asien reichen.

Dann hob sich das Gebirge. Knautsch, Knautschzone, dieses ontopoetische Etwas. Der Balkan ist eine einzige Knautschzone, es knautschen Landmassen, Landflächen und Menschen.

Siebenbürger Meeresboden
einer längst verflossnen Flut
Nur ein Meer von Ährenwogen
dessen Ufer waldumzogen
an der Brust des Himmels ruht,

heißt es in einer alten deutschen Hymne.

Die Wasserströme sind die eigentlichen Ureinwohner, native europeans. Die Menschen darauf sind nur Gäste, eingeschlossen von Gebirgsmassen die sich plötzlich erhoben. Sie blieben und zankten sich immerfort, der Donauwalzer ist doch ein Witz.
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Ich schiebe den Vorhang hinter mir zur Seite, unter dem blauen Nebel: Wasser, ein breiter See jetzt, nach der Enge: die aufgestaute Donau, das Eiserne Tor.

Ich suche mein Telefon hervor und mache ein Foto. Später sehe ich, ich habe eine Insel fotografiert, sie ist aber nicht auf dem Bild, sie ist nicht mehr da ist. Sie ist versunken.

Ada Kaleh hatte man bei irgendeiner Konferenz vergessen, das Osmanische Reich war zurückgedrängt worden, nur auf der Insel blieben Türken. Auch 30 Jahre später, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als auch Östereich-Ungarn zerfiel, blieb es so. Es entwickelte sich zu einer Touristenattraktion, selbst im kommunistischen Rumänien, zu dem es mittlerweile gehörte. Ein kleiner Orient mit Zigarettenmanufakturen und Kaffeehäusern, aus der Zeit gefallen.

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Ada Kaleh, zeitgenössische kolorierte Fotografie

Erst der Bau des Staudamms in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ließ die Insel versinken. Man versuchte die Attraktion auf eine leere, höhergelegene Insel umzusiedeln. Die meisten Bewohner gingen lieber in die Türkei zurück. Ganz wenige noch blieben, an den Ufern der Donau verstreut.

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Erst die Pannonische Tiefebene, dann die Karpaten, jetzt die Ebenen in Rumänien voller Ödnis, nur manchmal Ansammlungen von Menschen und Müll, wobei man nicht sagen konnte, was zuerst dagewesen ist. Lebten die Menschen dort, weil es Müll zu durchwühlen gab, oder lebten sie von ihrem Müll umgeben, wie eine ferne Zivilisation. Der Zug rollt mit etwa 30 Kilometer in der Stunde hindurch. Mittlerweile muss es neun oder zehn Uhr sein. Ich döse auf der Liege, bis ein Ruckeln einen Halt einläutet.

Bewegung kommt in den Wagon, der Schaffner und der Rausschmeißer sind wohl auch aufgestanden. Ich höre eine österreichische Stimme im Gang und stehe auf. Da aber alle aussteigen, auch der Österreicher, nachdem er sein Gepäck in einem Abteil verstaut hat, steige ich auch aus.

Der ganze Zug besteht nur noch aus zwei Wagons, er steht in einem kleinen Ort im Nirgendwo. Am Abend war es noch ein langer, großer, internationaler Zug. Der Österreicher macht Fotos, die Lok wird gewechselt. Er erzählt, dass er sich den Zug extra ausgesucht hat, um ihn zu fotografieren. Er sieht selbst ein wenig verwahrlost aus, seine Zähne so grau wie die Fenster.

Der andere Wagon ist ein ungarischer, besser ausgestattet als mein bulgarischer. Zu meiner Überaschung sind auch darin nur Touristen. Drei junge deutsche Rucksacktouristen und zwei Schweizer Damen auf Abenteuerreise, die bis ins Kosovo weiterfahren wollen, nach Pristina. Die junge Frau ist verschwunden. Der Östereicher erzählt, das er hier übernachtet hat und nachts nicht mit diesem Zug fahren würde, da der regelmäßig an der ungarisch-rumänischen Grenze überfallen wird. Auch oder gerade die Zöllner sollen darin verwickelt sein. Vielleicht haben sie sich in dieser Nacht nicht getraut, internationale Verwicklungen.

Nach 20 Minuten geht es weiter, ich frage den Rausschmeißer nach Kaffee, er zeigt auf den ungarische Schaffner und es scheint, als soll ich auch für ihn fragen.

Wir stehen im Gang, der Österreicher, die schweizer Damen, trinken Kaffee und unterhalten uns. Der Bullige sagt etwas und zeigt auf die Abteile, wohl, dass man während der Fahrt nicht stehen soll, obwohl der Zug kaum Geschwindigkeit aufgenommen hat.

Autoritärer Typ, der verwirrt ist, dass die Westler sich nichts von ihm sagen lassen, der ein wenig mit den Zähnen knirscht, seine Augen funkeln, ein Gedanke blitzt auf, für den Bruchteil einer Sekunde. Vielleicht war er mal bei irgendeiner Polizei oder Miliz. Wir aber sind Europa, wie eine unsichtbare Hülle umgibt und schützt uns dies, man kann es spüren.

Durch die Walachei, das Blanitai Feld, eine flache, weite Düne nördlich der Donau, der höchste Punkt erreicht hier nur 130 Meter. Der Zug hält mehr Schritt als dass er fährt. Ein weiterer Halt, neue Wagons, dass wir wieder ein richtiger Zug sind, eine neue Lok. Der Österreicher fotografiert. Und dann, Pampa Pusta Walachei, die Brücke. Erst 500 Kilometer weiter verbindet eine andere Brücke Rumänien und Bulgarien. 300 Millionen Euro, kurz nach der Eröffnung von Korrosion und Korruption angefressen, einsturzgefährdet, repariert. Aber bessser als durch Serbien, dachte sich Europa.

Der Österreicher meint, den Zug gebe es überhaupt nur, damit jemand über die Brücke fährt. Es sitzen keine Bulgaren darin. Wozu auch, es dauert 22 Stunden von Budapest nach Sofia.

Auch LKWs fahren hier nicht, es gibt keine Anbindung an irgendeine Autobahn.

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Dann über die Donau, in die Nieder-Donau-Ebene, Donau-Tiefebene, Nordbulgarische Platte. Die Steppe wieder: nichts, gar nichts, Gras.

Hier wird mir viel klarer, dass die Steppe das Normale ist, das Herauskommenwollen aus der Ödnis als Beschleuniger der Menschheitsgeschichte.

Patrick muss hier irgendwo abgebogen sein, in den Schoss einer rumänischen Prinzessin, wo er blieb.

Ich gehe mir noch einen Kaffee holen beim ungarischen Schaffner, doch der macht nicht auf. Die schweizer Damen sagen, sie hätten es auch versucht, er schläft wohl. Der Österreicher liegt auf seiner Liege, sehe ich beim Zurückgehen in mein Abteil. Das Brot etwas trocken, Sonne ohne Wolken, Himmel, Butter ranzig.

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In der Ferne erneut Berge. Vorbalkan. Dahinter das Balkangebirge mit dem Iskarpass, ein wilder Fluss, der sich zur Donau hinunter einen Weg durch den Stein gebrochen hat. Dort müssen wir hinauf.

 

Panik in Sofia (Horror im Orient)

Ich bin am Donnerstag dem zweiten April in Deutschland losgefahren. Ein paar Tage vor der Abfahrt hatte ich die Uhr eine Stunde zurück gestellt. In Rumänien wieder eine Stunde vor, oder waren es eigentlich zwei Stunden, Zeitverschiebung gegen Zeitumstellung? Der Reiseplan der Deutschen Bahn bot auch keine Orientierung, irgendwo fehlten immer ein, zwei Stunden. In Bulgarien gilt auch irgendeine osteuropäische Zeit. Der Freitag, der zweite Tag der Reise, war auch in Budapest, Karfreitag. Am Sonntag darauf, dem Sonntag vor Ostermontag kam ich in Sofia an. In Sofia war aber Palmsonntag, der Sonntag vor der Osterwoche. Und da es in Sofia keine Palmen gibt, trugen die Menschen Zweige von Trauerweiden zur Kirche. Ostern würde hier erste eine Woche später sein. Das orthodoxe Osterfest. Byzanz. Konstantinopel. Osten. Orient.

Die Menschen standen in einer Schlange vor dem Portal der Hagia Sophia in Sofia. Justinian hatte sie zur gleichen Zeit bauen lassen, wie die Sophienkirche in Konstantinopel, aber noch als Basilika.

Sie wirkte fast wie ein Rohbau, nur Ziegelsteine, kein Putz, keine Fresken, ihre Konstruktion, ihre Bauweise sichtbar. Aber immer noch erhaben und anmutig seit 1400 Jahren.

Ich habe seinen Namen vergessen, aber er wundert sich, dass ich den Namen seiner Stadt kenne: Idlib. Er ist den ganzen Weg von dort durch die Türkei bis nach Istanbul gelaufen, zu Fuss. Dann über eine Schmugglerroute nach Bulgarien. Er ist 27 Jahre alt und Journalist.

Patrick, hast Du gehört? Dein drachengrünes Byzanz.

Das Hostel ist ein altes griechisches Gästehaus, ein langgezogenes, zweigeschossiges Gebäude mit Aussentreppen und Veranden aus Holz, idyllisch, für Händler und Reisende auf dem Weg nach Konstantinopel. Auch eine Insel.

Er ist in einem Asylbewerberheim untergebracht, will gerne weiter nach Deutschland. Ein Kanadier, der eine kleine Hilfsorganisation leitet, hilft ihm dabei die Papiere dafür zu bekommen. Er sitzt seit Monaten hier fest. Nachts dürfen sie das Lager nicht verlassen. Der Kanadier ist für ein paar Tage hergeflogen. Tagsüber ist er oft im Hostel, manchmal bleibt er über Nacht, der Kanadier bezahlt dann für ihn.

Der es Zor, Al Rakka, Konzentrationslager ohne Zäune, dorthin hatte man die Armenier gebracht, in die Mesopotamische Wüste. Man hat sie so lange hin und her getrieben, bis sie verdurstet und verhungert tot umfielen. Eine der Gedenkstätten haben die Islamisten gesprengt. Viel mehr weiß man nicht.

HORROR.

Your circuit’s dead, there’s something wrong.

Can you hear me, Major Tom?

Er ist völlig überrascht, als ich erzähle, dass ich ohne Pass reise, das ein deutscher Personalausweis reicht, selbst in der Türkei. Für ihn völlig unvorstellbar.

Oben in Sofia ist es kalt, Nachts fällt noch Schnee.

Vom Flughafen am anderen Ende der Stadt steigen Flugzeuge auf, ziehen hoch, ein paar 100 Meter, und wo sie sonst eine Schleife fliegen würden, ziehen sie weiter hoch, damit sie nicht in die Berge knallen.

Wir stehen draussen beim Rauchen. Er ist jetzt der ganze Orient. Ende April ist der 100. Jahrestag des Genozids, wie nah.

 

Frühling

Chloris war ich,
eine Nymphe des
glücklichen Landes,
wo nach der
Sage, die du gehört,
stand der seligen Stadt

Wir gehen in eine Art Bar, eine Altbauwohnung wie bei einer Privatparty, charmant eingerichtet, mit Sitzecken und gedämpftem Licht.

Wir werden von einem Jüngling, man muss es so sagen, und was ist eigentlich die weibliche Entsprechung? Wir werden von einem Jüngling an einen Tisch geleitet, von dem aus man in die Küche sehen kann. Dort gibt es, arrangiert wie in einem Schaufenster selbstgemachtes Essen und Getränke. Ich nehme Quiche und selbstgemachten süßen Himbeerwein.

Die Mädchen tragen Blumenkränze im Haar, die ersten Frühlingsbotinnen, Floren, Primavera, wünderschön, zart, fast scheu, ich schwanke ein wenig leichtfüßig auf der egal gewordenen Zeit, sie hebt sich auf, alles gleich, bedeutungslos, die Bewegung, das vorbei ziehende Draussen sinnstiftend, man selbst wiegt nur hin, wird bewegt, nimmt Bewegung auf, schwappt her, wird weich, träge, träumerisch, ist eigentlich nirgends. Beim Fliegen ist es die Zeitumstellung, Jet Lag, beim Bahnfahren erst das Schweben, dieses leichte Abheben, dann die Stunden um wieder fest zu stehen.

Eine Droge, die erleichtert, belustigt, glücklich macht, jenseits von sich selbst. Euphorisierende Landschaften, einschläfernde Leichtigkeit im Wechsel. Die Zeit, auf die ich früher immer gewartet habe, die ist jetzt.

 

Anmerkung

Patrick Leigh Fermor * wanderte 1933 als 19-Jähriger zu Fuss von Hoek van Holland über Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien nach Konstantinopel. Er sagte nie Istanbul. Und kam nie an. Er traf eine rumänische Prinzessin und blieb bei ihr irgendwo in einem verfallenen Schloss an der Donaumündung bis der Krieg ausbrach.

Er ging nach Kreta als britischer Geheimdienstoffizier und entführte den höchsten deutschen General. * „Herr General, wie geht es Ihnen? Ich grüße Sie!“, sagte er auf deutsch in einer griechischen Fernsehshow, wo sie in den 60er Jahren wieder aufeinander trafen. Sie hatten auf einem kretischen Berg gestanden und einander Ovid vorgetragen.

50 Jahre später schrieb er drei Bücher über seine Reise. Ich brauchte tatsächlich solange, bis ich merkte, dass auch er nie in Konstantinopel war.

Text und Bilder Danny Wagner

danny-wagner.com

danny-wagner.blogspot.de

___________________

* MEHR INFORMATIONEN über Patrick Leigh Fermor:

 

* Ill Met By Moonlight (Night Ambush; GB 1957; R: Michael Powell, Emeric Pressburger)

– mit Dirk Bogarde, Marius Goring, David Oxley, Cyril Cusack     Musik: Mikis Thedorakis

 

 

Oliver Lehmann im Universum Magazin, Dezember 2011

Der Anachronist

Patrick Leigh Fermor hat sich wandernd ein Europa erschlossen, das heute völlig verschwunden ist. Seine Bücher aber eröffnen die Möglichkeit, diesen Kontinent wieder zu entdecken – und dabei die Wanderung in Geist und Geographie als allerersten Bildungsweg zu erfassen.

 Der Text als PDF

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siehe auch die Oliver Lehmann website

www.oliverlehmann.at

sowie

http://patrickleighfermor.org

 

 

 

 

 

LESETIPPs

Peter Münder über Sir Patrick Leigh Fermor

Er war Spion, Reiseschriftsteller und Kulturträger beim British Council – vor allem aber war er ein kultivierter Abenteurer:

culturmag.de

 

Die Zeit der Gaben – Zu Fuß nach Konstantinopel: Von Hoek van Holland an die Donau.

Der Reise erster Teil. Deutsch von Manfred Allié,

Dörlemann Verlag, Zürich 2011

 

Zwischen Wäldern und Wasser – Zu Fuß nach Konstantinopel: Von der mittleren Donau zum Eisernen Tor.

Der Reise zweiter Teil. Deutsch von Manfred und Gabriele Allié.

Dörlemann Verlag, Zürich 2006

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