Obwohl Rumänien seit 2007 Mitglied der EU ist, ist die politische Kultur der Moderne noch nicht wirklich im Karpatenland angekommen. Weitum herrschen Fatalismus und Korruption. Die Verhältnisse werden sich nicht ändern, solange fast jeder darauf aus ist, seinen – sei es auch noch so bescheidenen – Vorteil zu sichern.

Die Rumänen sollten sich in Zukunft nicht mehr an die Volksweisheit: „Das ist das Leben“ halten, sondern an den Slogan: „Yes, we can“, meinte kürzlich Amerikas Botschafter in Bukarest, Mark Gitenstein. Angesichts der Krise, in dem sich das Karpatenland befindet, ein durchaus gut gemeinter Rat. Doch mag die Bevölkerung auch noch so sehr über den Zustand ihrer Heimat jammern – in Wahrheit können sich die meisten keine anderen Verhältnisse vorstellen und sind auch nicht willens, die bestehenden zu verändern.

Das gilt natürlich in erster Linie für die politische Klasse. Kurz vor Gitensteins rührendem Appell hatte das Verfassungsgericht die auf Druck der EU geschaffene Integritätsbehörde ANI für verfassungswidrig erklärt, nicht zuletzt deshalb, weil einige der Richter selbst in ihr Fadenkreuz geraten waren. Das wiederum nahmen die Abgeordneten zum Anlaß, ein neues Gesetz zu verabschieden, das die Antikorruptionsbehörde endgültig entmachtete. Kaum jemand nahm daran Anstoß – die Kanäle der auf dubiosem Wege zu Geld, Macht und Einfluß gekommenen Fernsehmogule am allerwenigsten –, obwohl in eben diesen Tagen die Regierung aufgrund der desaströsen Haushaltslage drastische Sparmaßnahmen beschlossen hatte. Wenn aber die Kassen des Staates leer sind, ist das nicht nur die Folge unsoliden Wirtschaftens, sondern vor allem Konsequenz der weit verbreiteten Korruption.

Die Liste der Sünden ist lang: Dazu zählen Privatisierungen, für den Staatshaushalt äußerst verlustreich, für die regierenden Politiker umso rentabler; öffentliche Aufträge, die an Firmen gehen, deren Besitzer wiederum Politiker oder ihre Verwandte und Freunde sind; ein Klientelwesen, das den Staatsapparat aufgebläht hat, um Parteigängern und anderen Günstlingen zu einem guten Auskommen zu verhelfen. Kompetenz spielt dabei keine Rolle – umso ineffizienter arbeitet die Verwaltung. Steuerhinterzieher mit guten Beziehungen bleiben selbstredend von den Behörden verschont, falls sie nicht sogar heiße Tipps vom Finanzamt erhalten.

_________________________________________________________________

Der Rumäne rettet sich als Individuum, oder er geht zugrunde

_________________________________________________________________

Doch bleibt die Korruption nicht auf die Oligarchie beschränkt. Ärzte und Krankenhauspersonal kassieren für beinahe jede Verrichtung Bakschisch von ihren Patienten. Schüler schmieren ihre Lehrer mit Geld, um das Abitur zu bestehen. Villenbesitzer beziehen Sozialhilfe und angeblich Blinde Behindertengeld – bis man sie zufällig am Lenkrad erwischt. Ein großer Teil der Gesellschaft übt sich fantasierreich darin, den Staat zu betrügen und lebt frech nach dem Motto: „Yes, we can!“

Ursache des extremen Individualismus, dem das Schicksal des Anderen oder gar der Gemeinschaft völlig kalt läßt, ja, der die Übervorteilung des Nachbarn und die Übertretung von Gesetzen geradezu als simulierenden Sport betreibt, ist gerade jener alte Fatalismus eines Volkes, das gegen die herrschende Klasse keinerlei Rechte besaß – und das nicht erst im Kommunismus. Der Rumäne rettet sich als Individuum, oder er geht zugrunde – und wer sich im eigenen Land nicht durchmogeln kann, der weicht in die Fremde aus.

Eine große Rückständigkeit kommt hinzu. Wenn 42% der Bewohner des Karpatenlands glauben, die Sonne drehe sich um die Erde, und 30%, die frühen Menschen seien Zeitgenossen der Dinosaurier gewesen, ist leicht zu verstehen, warum es das Projekt einer modernen, transparenten Gesellschaft so schwer hat. Umso weniger wiederum verwundert, daß 41% der Befragten angeben, sie würden Ceauscescu zum Präsidenten wählen, wenn er sich denn noch zur Wahl stellen könnte.

Was der Anarchie der Einzelinteressen Vorschub leistet, ist das Versagen der Rechtsprechung. Ein Prozess kann bisweilen zehn Jahre dauern, und wenn es, selten genug, zu Verfahren gegen korrupte Politiker kommt, enden sie in der Regel mit Freispruch. Als jedoch die Sparbeschlüsse der Regierung vor dem Verfassungsgericht angefochten wurden, kippten die obersten Richter das Gesetz zur Beschneidung von Luxusrenten – aber nur in einem Fall: Wenn es Richter sind, die sie beziehen. Die Entscheidung ist umso dreister, als zahlreiche in Rumänien gesprochene Urteile vor dem Europäischen Gerichtshof als unzulässig verworfen wurden, was den rumänischen Staat bereits Hunderte Millionen Euro an Entschädigungsleistungen kostete. Mit einer Justiz aber, die selbst im Sumpf von Vorteilsnahme und Korruption versinkt, läßt sich der Sumpf der Korruption schwerlich austrocknen – es sei denn, man glaubt an Münchhausensche Flunkermärchen.

In Brüssel scheint man das zu tun. Alle paar Monate legt man dort seine Justizberichte zu Rumänien vor, um väterliche Ermahnungen auszusprechen.

Voraussetzung für eine Veränderung der Verhältnisse wäre eine lebendige Zivilgesellschaft, die nicht auf kleine Hauptstadtzirkel beschränkt bleibt, Voraussetzung dafür wären vor allem die Herausbildung von Gemeinsinn und Solidarität. Aber wenn selbst zu den Demonstrationen der Gewerkschaften gegen das Sparprogramm der Regierung nur wenige Hundert Menschen kamen, die für ihr Erscheinen offenbar noch bezahlt werden mußten, läßt sich leicht einsehen, wie sehr es an beidem mangelt.

Eine andere Voraussetzung wäre massiver Druck durch Brüssel. Dort sollte man sich endgültig von dem Gedanken verabschieden, die politische Klasse Rumäniens hätte etwas anderes im Sinn als den eigenen Vorteil. Ob rechts, ob links, das spielt keine Rolle. Sollte, durch die Krise begünstigt, die exkommunistische und liberale Opposition an die Macht kommen, würde es wohl erst recht so weitergehen, wie bisher, frei nach den beiden, sich nicht widersprechenden, Wahlsprüchen: „So ist das Leben – yes, we can.“ Aber das von den Regierungschefs der EU zur Schwäche verurteilte Brüssel wird wohl auch in Zukunft mehr oder weniger untätig zuschauen. Denn Brüssel kann nicht.

Text: Jan Koneffke

Text erschienen in: Neue Züricher Zeitung

Bild: © www.digiwis.com