Über das Kriminalgenre

Wenn wir versuchen, die verschiedenen Genres des Meta-Genres Kriminalfilm zu bestimmen, werden wir uns wohl darauf einlassen müssen, in Widersprüchen und Paradoxien zu denken. Denn obwohl zumindest einige der Kriminalgenres, wie der Polizei- oder der Detektivfilm, auf besondere Weise Handlung immer auch als Konstruktion, als logisches Spiel erkennen lassen, führen sie doch gleichzeitig in ungeahnte moralische und mythologische Tiefen. Das kriminalistische Rätsel eines Whodunit ist in der Bilderwelt des Filmes noch mehr als in der linearen Konstruktion des Kriminalromans mit archaischen und symbiotischen Wahrnehmungen verbunden. Ein Kriminalfilm, gleichgültig welchem Genre er schließlich angehört, ist immer beides zugleich, ein intellektuelles Rätsel, bei dem es auf ein mehr oder weniger faires Spiel zwischen den Autoren und den Konsumenten ankommt, und eine soziale, historische und, in unserem Kulturkreis nicht überraschend christlich bestimmte religiöse Metapher. Wenn man den Western als ein Nationalepos als work in progress bezeichnen kann, so kann man das System der Kriminalgenres gewiss als so etwas wie eine ewig währende Verhandlung der Verhältnisse von Macht und Moral in einer Gesellschaft verstehen. Unser täglicher Krimi bedient nicht nur unsere Sensationsgier, sondern klärt auch ständig aufs neue zwischen Recht und Unrecht, mehr noch, das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen dem Gesunden und dem Kranken, dem Guten und dem Bösen. Und wenn das Melodrama die erste demokratische Kunstform war, so hat gewiss der Krimi in allen seinen Erscheinungsformen seine Nachfolge angetreten. Er ist der Moralkodex einer demokratischen, kapitalistischen, medialisierten Gesellschaft als work in progress.

Beinahe jede Geschichte des Kriminalromans und des Kriminalfilms beginnt hierzulande mit der Geschichte von Kain und Abel. Der eine Sohn der ersten Menschen Adam und Eva ermordete seinen Bruder und wurde daraufhin von Gott mit einem Zeichen, dem Kainsmal, gebannt und dem gewaltsamen Tod anheim gestellt. Diese Geschichte führt uns tatsächlich an einige der Urgründe des kriminalistischen Erzählens überhaupt:

Wir haben zum einen die Konstruktion des Verbrechens: einen Mörder, ein Opfer, ein emotionales und/oder familiäres Band zwischen beiden, und schließlich ein Motiv. Und vielleicht lohnt es sich, dieses Motiv genauer anzusehen. Im biblischen Kontext und so, wie wir es im Religionsunterricht lernen, geht es darum, dass Gott das Rauchopfer des einen der Brüder, nämlich Abel, gnädig annahm, während er das des anderen, nämlich Kain, ablehnte. So wäre das Motiv also eine ins Metaphysische gespiegelte Variante des neben Habgier bedeutendsten Tatmotivs des Krimis, die Eifersucht.  Warum sich aber Gott so – höflich ausgedrückt – undiplomatisch verhalten hat, und diese Eifersucht geradezu provozierte, wird erst deutlich, wenn man die beiden Lebensformen von Kain und Abel genauer betrachtet: der eine nämlich ist sesshafter Bauer, der andere nomadisierender Hirte. Das sind so zusagen die historischen Primärerfahrungen, die, als Widerspruch zwischen der territorial gebundenen und der nomadisierenden Lebensform, unsere gesamte Kulturgeschichte durchziehen. Der Konflikt zwischen dem Sesshaften und dem Nomaden, das gegenseitige Misstrauen und der endliche Sieg des Sesshaften, durchzieht unter vielem anderen auch die Geschichte des Kriminalplots. Die meisten von uns sind aufgewachsen mit kriminalistischen Kinderbüchern, in denen immer wieder clevere Kinderdetektive Landstreicher und Zigeuner als Diebe überführen, und der Nichtsesshafte gerät auch im politisch korrekten deutschen Serienkrimi erst einmal ins Zwielicht, bevor man den wahren Schuldigen, nämlich den sozialen Nomaden, der die Grenzen der Stände, Kulturen und Klassen nicht respektiert, durch den guten Beamten enttarnen lässt.

Hinter dem metaphysischen Motiv von Kains Tat und aller seiner Nachfolger steckt also das emotionale Motiv, hinter dem emotionalen Motiv steckt das historische Motiv, hinter dem historischen Motiv steckt das ökonomische Motiv, hinter dem ökonomischen Motiv steckt das persönliche, das Bruderdrama, und hinter dem persönlichen Motiv steckt wiederum das metaphysische, wenn der Zwist zwischen den Brüdern erzeugende Vater zugleich ein Gott ist.  In der melodramatischen, also gottlosen Konstruktion der Welt tut es dann auch das Schicksal, die Gerechtigkeit oder einfach die Gesellschaft.

Wir können also an die Stelle der klassischen Kausalkette, die der traditionalistische Kriminalroman für sich in Anspruch nimmt, nämlich

Täter    ——      Motiv   —–  Opfer

ein komplexeres und aufregenderes Modell setzen, indem wir an die Stelle eines eindeutigen Motivs einen Motivkreis stellen, den man durch einiges Geschick bei der Konstruktion der Handlung in eine ausgesprochen heftige Bewegung setzen kann. Ein Motiv ist dabei immer im anderen verborgen, eines generiert und verschärft das andere, und diese Verknüpfung der Motive macht die Beziehung zwischen Täter und Opfer reicher, als es allein der Logik zugänglich ist. Nicht erst seit Kommissar Maigret und Patricia Highsmith wissen wir, dass jeder Fall komplexer und reicher ist, als er sich jemals durch rationalistische, kriminalistische und forensische Aufklärung darstellen lässt. Weshalb im übrigen der Krimi, in einen Genre mehr im anderen weniger, zugleich in der geistigen Tradition der Aufklärung steht und sehr melancholisch auf ihre Grenzen reagieren kann.

Wenn wir uns nun den Motivkreis, der zwischen den Personen von Täter und Opfer vermittelt, noch einmal genauer ansehen, erkennen wir darin schon die Anlage zur Aufsplittung der Kriminalstory in verschiedene Genres mit einer jeweils anderen Konstruktion dieser Beziehung, vor allem aber mit einer sehr unterschiedlichen emotionalen Ansprache. Dass sich verschiedene Genres, Subgenres und dann wieder Corssover-Variationen zwischen ihnen herausgebildet haben, liegt offensichtlich schon daran, dass keine noch so komplexe Plot-Konstruktion in der Lage ist, alle verschiedenen Beziehungen der Motivkreise zu behandeln, und es liegt auf der anderen Seite daran, dass wir zur Grundkonstruktion der Täter/Opfer/Aufklärungssituation ganz unterschiedliche mentale und psychologische Bedürfnisse entwickelt haben. Mal möchten wir die alles verstehende, alles regelnde gesellschaftliche Instanz am Werk sehen, das andere mal unsere anarchischen und antizivilisatorischen Impulse bestätigen, ein drittes mal suchen wir Bilder für die unlösbaren Widersprüche der demokratischen, kapitalistischen und medialisierten Gesellschaft; und auf all das haben Krimis eine Antwort, nur eben nicht zur gleichen Zeit. Dirty Harry und Inspektor Derrick sind nicht nur durch einen Ozean voneinander getrennt; sie sind zugleich verwandt und konstruieren gegensätzliche Konzepte von Recht und Gesetz.

Je nachdem, welche der im Motivkreis vorhandenen Impulse ich betone, ohne dass ich deswegen die anderen restlos ausblenden muss, definiere ich die Beziehung zwischen Täter und Opfer auf einer Skala zwischen Rationalität und Emotionalität, wobei sich die Kunst des Drehbuches etwa darin zeigen mag, den einen Aspekt als Subtext in den anderen zu schachteln und dabei die Wahrnehmung des Zuschauers so zu lenken, dass er sich nicht als hinters Licht geführt empfindet, wenn er sich also, in einem klassischen Whodunit , sozusagen virtuell an einer Jagd nach dem Täter befindet, so werden ihn abwechselnd vielleicht emotionale und ökonomische Hinweise auf dessen Spur – oder aber auch auf falsche Spuren – führen.

Jedes Genre des Kriminalfilms lässt sich also einmal ganz grob schon über bestimmte Verbindungen auf dem Motivkreis definieren:

– Gangsterfilme definieren die Beziehung zwischen Täter und Opfer am ehesten historisch und ökonomisch; sie konstruieren und dekonstruieren einen Mythos der sozialen Dissidenz

– Thriller zeigen eine metaphysisch -emotionale Beziehung; sie konstruieren und dekonstruieren einen Mythos der persönlichen Dissidenz

– Detektivfilme bilden in der Regel eine Beziehung zwischen ökonomischen und persönlichen Impulsen; sie konstruieren und dekonstruieren einen Mythos der Rationalität

– Polizeifilme können, wo sie nicht dem Muster des Detektivfilms folgen, das Historische mit dem Emotionalen Verbinden, sie konstruieren und dekonstruieren einen Mythos der sozialen Sicherheit, usf.

Hier wird freilich schon deutlich, dass die Trennung zwischen den Genres nur in einigen besonderen Fällen als scharfe Grenzziehung vorgenommen werden kann, in der Regel aber nur durch die Konvention bestimmt ist, die immer wieder Crossover-Aspekte zulässt. Ikonographisch, mythologisch und narrativ werden Genres umso stabiler, je mehr sie sich der Vergangenheit und der Zukunft zuwenden, und umso dynamischer, je mehr sie sich als gegenwärtig verstehen. Während etwa der Western eine so langsame wie dann freilich radikale Überprüfung des Gründungsmythos entwickelt hat, reagieren die Genres des Kriminalfilms seismographisch auf Veränderungen der gesellschaftlichen Praxis. Und dabei sind durchaus gegenseitige Beeinflussungen von Fiktion und Wirklichkeit zu beobachten, die über die mythisierende Abbildung hinausgeht; es gibt Untersuchungen darüber, wie sehr sich etwa das Selbstverständnis von Mafia-Gangstern im Kino gebildet hat, und man muss nicht erst in die USA gehen, um zu erkennen, wie viel Kino-Dramaturgie ein Justizprozess enthalten kann; wenn etwa ein deutscher Tourist in die Vereinigten Staaten kommt, weiß er, dass ihm am meisten Gefahr von einem jungen, schwarzen Unterschicht-Mann droht, und am wenigsten von einem weißen, älteren Oberschichtler, und er weiß das, weil er eine ausreichende Anzahl von amerikanischen Fernsehkrimis gesehen hat, in denen nämlich der schwarze Ghettobewohner innocent bystanders, der weiße Geschäftsmann aber immer nur ökonomische Konkurrenten und Familienmitglieder bedroht. Ein italienischer Tourist, der Deutschland vor allem durch seine Version von „Ispettore Derrick“ kennt, muss ein furchtbares Grauen vor Vorstadtvillen, Nadelstreifenanzügen und leicht überschminkten Frauen im kleinen Schwarzen überkommen. Ein Film wie Katheryn Bigelows „Blue Steel“ etwa revoltiert nicht nur gegen solche Phantasien einer sozialen Prädestination von Tätern und Opfern, sondern es gelingt ihm auch, diese Phantasien zugleich zu untersuchen und sie zum Teil eines neuen kriminalistischen Plots zu machen.

Versuchen wir nun das Basis-Modell für die Konstruktion einer Kriminalhandlung zu erweitern, indem wir neben Täter, Motiv und Opfer die beiden anderen wichtigen Figuren einführen, eine scheinbar sehr einfache, und eine scheinbar sehr komplizierte.

Die scheinbar einfache Figur ist die des Verfolgers, Aufklärers, Richters oder Rächers. Ihre Aufgabe ist es, allgemein gesprochen, die Tat zu rekonstruieren, die Rollen von Täter und Opfer aufzudecken und ihre Beziehung zu klären, sowie am Ende das durch die Tat gestörte System der Gerechtigkeit wiederherzustellen, entweder, wie der gute Polizist, im offenen, oder, wie etwa der Gangster mit der Moral eines Volkshelden, aber auch der schäbige Detektiv a la Humphrey Bogart, im verborgenen Konsens der Gesellschaft.

Wir können diese Figur sehr unterschiedlich definieren:

1. als Detektiv, also als ein Mensch, der sich berufsmäßig und in der Regel im Auftrag eines anderen, der aus dem Umkreis des Opfers stammt oder sich selbst als Opfer sieht, diese Beziehungen klärt, in die er im allgemeinen darüber hinaus nicht persönlich, ökonomisch oder emotional involviert ist. Aber ganz kann er sich dieser Involvierung nur selten entziehen, so hat der Detektiv einen Hang dazu, sich in seine Klientin zu verlieben, oder bei seiner so rational begonnenen Recherche zunehmend auf  Elemente zu stoßen, die sein eigenes Leben, seine Vergangenheit, seine familiären oder freundschaftlichen Beziehungen betreffen.

2. als Polizist, der die Beziehungen zwischen Täter und Opfer im Dienste der Gesellschaft zu klären hat und dabei, wie der Detektiv, neben dem Fall auch seinen eigenen Status zum Problem hat. Während der Detektiv im Verlaufe einer Recherche an seiner eigenen Objektivität zu zweifeln hat, zweifelt der Polizist nicht selten im Verlauf einer Recherche an seiner eigenen Institution, die Korruption kann in die eigenen Reihen reichen, der Polizist kann seine soziale Absurdität empfinden, nämlich einen Reichtum zu schützen, von dem er selber ausgeschlossen ist, oder er kann seine eigene Arbeit von einer spitzfindig und unmoralisch agierenden Justiz oder von einer unverständigen Öffentlichkeit, der Presse allzumal, in Frage gestellt sehen. Noch mehr als der Detektiv tendiert also der Polizist dazu, eine im Grunde tragische Figur zu sein, die auf besonders heftige Weise einen Kurzschluss zwischen dem historischen Auftrag und der emotionalen Verstrickung erlebt. Sein Hass auf die Täter ist daher nicht selten dadurch definiert, dass Freunde oder Familienmitglieder Opfer geworden sind. Genauer als jeder andere kann der Polizist erkennen, wie sehr der Besitzer der Bank der Meta-Täter zu dem ist, der die Bank überfällt, und brutaler stellt sich für ihn die Frage, ob er sich in dieser Situation zu einem Rechten oder zu einem Linken, zu einem Zyniker oder zu einem Heiligen entwickeln soll.

So verwandt sich Detektive und Polizisten also auch sein mögen, so große Unterschiede gibt es auch. Die Aufgabe des Detektivs ist eine subjektive und temporäre, die des Polizisten eine soziale und institutionelle. Selbst wenn es beide mit den gleichen Arten von Verbrechen zu tun haben, als Gegensatzpaar wohl

der psychopathische Einzeltäter   —-  das organisierte Verbrechen,

so handeln sie doch kontrovers zueinander. Der Detektiv nämlich bekämpft das Verbrechen nur insoweit es die Interessen seiner Mandanten betrifft, für das System ist er nicht verantwortlich; der Polizist dagegen bekämpft es als gesellschaftliches Phänomen und tendiert dabei beinahe konsequenterweise zu einer Mentalität der Säuberung. Polizist und Detektiv bilden daher im allgemeinen ein Gegensatzpaar; in einem Detektivfilm ist der Polizist in der Regel ein stümperhafter Wichtigtuer, der im entscheidenden Moment durch falsche Schlussfolgerungen alles vermasselt, im Polizeifilm ist der Detektiv umgekehrt ein korrupter Miesling, der Beweismittel fälscht oder Indizien unterschlägt.

3. Kann der Aufklärer und Rächer auch, statt von außen zu kommen, durch den Motivkreis zwischen Täter und Opfer sozusagen selbst erzeugt worden sein, etwa als ein Mensch, der unschuldig unter Verdacht geriet und nun, um sich selbst zu retten, den wirklichen Täter überführen muss, als Beschützer oder Familienangehöriger eines präsumptiven Opfers, als Kraft einer dunklen Vergangenheit usw. Natürlich ist unter solchen Umständen die emotionale Beteiligung des Helden wie bei uns Zuschauern erheblich gesteigert; Züge des Aufklärers sind vermischt mit solchen sowohl des Opfers als auch des Täters. Der Kreis der Motive ist noch heftiger in Bewegung geraten.

4. Die vierte Perspektive, die schon ein wenig aus dem moralischen Basis-Modell der Kriminalplots hinausfällt, ist die des Täters oder der Täter. Das beginnt mit der Konstruktion des Gangsters als tragischer Volksheld in den amerikanischen Gangsterfilmen der dreißiger Jahren oder den films noir der französischen Cinematografie der siebziger, die zwar allesamt scheitern müssen, denn einen so eklatanten Verstoß gegen den Konsens des Crime Does Not Pay lassen wir uns erst seit den achtziger Jahren im Kino gefallen, aber gerade in ihrem Scheitern ihre spezifische Würde erhalten. Eine andere Perspektive ist die des Täters, der zur Tat gezwungen ist, etwa ein Einbrecher, der nach dem großen Coup von seinen Mittätern verraten wurde. Und schließlich haben wir in neueren Filmen wie „Henry – Portrait of a Serial Killer“ als Wahrnehmungsangebot nichts anderes als die wenn auch schmerzhaft trostlose Perspektive des soziopathischen Killers selbst.

Der Detektiv, der Polizist, der Rächer in eigener Sache, ja selbst noch der Täter in seinem mehr oder minder tragischen Scheitern haben jeweils drei miteinander verwobene Funktionen:

– sie sind die dramaturgische Instanz der Klärung der Täter-Opfer-Beziehung

– sie werden in dieser Funktion und über sie hinaus als eigenständige Personen interessant; jeder Polizist hat sein mehr oder weniger kaputtes Privatleben, jeder Detektiv eine mehr oder weniger interessante Vorgeschichte. Orson Welles hat in „Touch of Evil“ das wohl faszinierendste Portrait eines zum Täter gewordenen Aufklärers geliefert, ein Film, der sehr genaue Gesellschaftskritik mit einer Näherung an den Grundmythos des Genres verbindet,

– und schließlich haben sie eine metaphysische-emotionale Funktion, die über das Schaffen von Gerechtigkeit und die Auszeichnung des Täters mit dem Kainsmal von öffentlicher Überführung und Verhaftung hinausgeht: sie sind auf mehreren Beziehungen mit dem Opfer verbunden, durch das Mitleid, durch die moralische Identifikation, durch das revivre ihrer Situation.

Scheinbar komplizierter ist dagegen die Funktion einer anderen Figur, die wir in Anlehnung daran den Meta-Täter nennen können, nämlich eine Person, eine Institution, vielleicht sogar ein Stoff oder ein Objekt, das die eigentliche Schuld trägt, während der Täter nur ausführendes Organ ist. Der eigentliche Schuldige, das ist nicht immer so einfach wie bei „Derrick“, wo die eigentlichen Schuldigen immer die Mütter in ihren Grünwalder Villen sind, deren Söhne irgendwie durchdrehen müssen, nicht immer so einfach wie im Gangsterfilm, wo die Härte des Ghettolebens an der kriminellen Karriere schuld ist, nicht so einfach wie im klassischen Erbschafts-Mörderspiel, wo neben den Mördern auch der schreckliche Erblasser Schuld am brutalen Treiben der Erben ist, die er nicht selten, wie in den deutschen Wallace-Filmen mit boshafter Absicht in ihre blutigen Intrigen gehetzt hat. In den Bereich des Meta-Schuldigen kann das Rauschgift gehören, oder, wie in Fritz Langs „M“ sogar das verführerische Blinken von Stahl in der Auslage eines Messer-Geschäftes. Und als letzte Konsequenz kann sogar das Opfer zumindest partiell in den Bereich der Meta-Schuldigen gehören, an dessen vollständige Unschuld wir sowieso nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen glauben. Ermordet werden in deutschen Fernsehkrimis vorzugsweise Menschen, von denen wir annehmen müssen, dass sie es durch ihren unmoralischen Lebenswandel oder durch ihren sozialen Status „irgendwie“ doch verdient haben. Natürlich lässt Derrick so was trotzdem nicht durchgehen.

Unser Basis-Modell für einen Kriminalplot sieht nun also schon etwas komplizierter aus.

Es verdankt sich dabei wohl nicht nur der dramaturgischen Fülle, sondern unserer Wahrnehmung von Schuld und Sühne, dass in kaum einem Kriminalplot der Täter ohne Meta-Täter, das Opfer ohne Meta-Opfer auftaucht, und wenn es doch geschieht, so tendieren wir dazu, uns die fehlenden Instanzen einfach hinzuzudenken.

Das tückische der kriminalistischen Urerzählung, der Geschichte von Kain und Abel eben, ist es, dass beide Instanzen, der Meta-Täter und das Meta-Opfer, der eigentliche Anstifter des Verbrechens und die nach der Tat Gerechtigkeit schaffende Kraft, denselben Namen haben, nämlich Gott. Als Meta-Täter hat er die Nomaden von den Sesshaften getrennt und von ihnen im Opfer eine Konkurrenz verlangt, die zwangsläufig zur Gewalt führen musste; als Meta-Opfer hat er durch das Kainsmal und durch die Vertreibung das Prinzip der Schuld und das der Sühne in die Welt gebracht.  So kann man für ihn als Meta-Täter auch Geschichte sagen, und als Meta-Opfer auch Recht. Mit anderen Worten: jeder Kriminalplot handelt auch von einer historischen Situation der Entzweiung, auf die mit einer Anwendung oder Modifikation oder Schaffung von Recht geantwortet wird, und wenn das geschriebene Recht nicht ausreicht, was es eher selten tut, dann nimmt der Detektiv oder Polizist die Gerechtigkeit in die eigenen Hände oder lässt sich zumindest von einem aufrichtigen Schicksal dabei helfen.

Mit dem Modell haben wir so etwas wie eine innere Topographie, mit der wir im Grunde alle Figuren und Beziehungen in einem Kriminalplot konstruieren oder analysieren können. Auf welche Art wir die Beziehungen verfolgen, das wiederum wird uns vorgeben, welches Genre, welche Helden, welche emotionale Grundstimmung gewählt sind. Um diese innere Topographie, die ja so ähnlich in jeder Erzählung funktioniert, in der es um Verbrechen geht, also auch in einem Western oder in einem Melodram, freilich in einen Kriminalplot zu verwandeln, müssen noch einige Elemente zusätzlich definiert werden. Dazu gehört zum einen die Bewegung der Erzählung. So wie sie in der Bibel erzählt wird, ist die Geschichte von Kain und Abel noch keine Kriminalhandlung, denn diese setzt als zweite Grundausstattung neben der inneren Topographie signifikante Verschiebungen von Informationen beim Text wie beim Bild voraus. In der biblischen Erzählung erfahren wir eben genau das, was geschieht, wir haben die selben Informationen, die der Text liefert, die seine Protagonisten erhalten und die in den Bildern stecken, die der Text in uns evoziert. Im Kino können wir diese Erzählweise als „episch“ bezeichnen, und am verbreitetsten ist sie im Western (was nicht heißen soll, dieses Genre müsste auf die Konstruktion von Kriminalplots ganz verzichten).

Man könnte die Geschichte aber auch auf eine ganz andere Weise erzählen, etwa in einer Umkehrung der Informationen. Die Leiche von Kain wird gefunden. War es ein Unglücksfall oder ein Verbrechen? Wer kann ihn erschlagen haben? Und warum hat er das getan? So werden die Spuren gesichert, die Beteiligten werden Verhören unterzogen, Kombinationen aus beidem werden unternommen. Aber um diese Geschichte auf diese Weise erzählen zu können, müssen eine Reihe von zivilisatorischen oder auch weniger zivilisatorischen Schritte unternommen werden. Jemand muss auf die Idee gekommen sein, und zwar innerhalb wie außerhalb des Textes, als sein Protagonist wie als sein Autor, dass es etwas anderes als eine allgemeingültige objektive Wahrnehmung gibt, dass das, was ich sehe, nicht unbedingt die Wahrheit sein muss, dass ich erzählend nicht nur offenbaren sondern auch verbergen kann. Und zum anderen muss es eine Instanz geben, die wiederum ein Interesse daran hat, das Verborgene zu offenbaren, und auch diese Instanz muss es sowohl innerhalb als auch außerhalb des Textes, als Protagonisten wie als Leser geben. Es stimmt daher also wohl beides: der Kriminalplot ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Und: der Kriminalplot ist erst in der bürgerlichen Gesellschaft möglich.

Mit der Konstruktion der Kain und Abel-Geschichte vom Fund der Leiche her habe ich also das Modell des klassischen Whodunit , als jener Kriminalerzählung, deren roter Faden durch die Frage nach der Identität des Mörders gebildet wird. Vielleicht aber kennen wir den Mörder auch schon, um die Wahrheit zu sagen, waren zur Zeit unseres Beispiels ganz einfach nur drei Menschen als Täter zu verdächtigen, nämlich die beiden ersten Menschen, Adam und Eva, und ihr überlebender Sohn, Kain.  Dann aber ginge es, wie zu unserer Zeit in einem „Columbo“-Krimi darum, ihm die Tat nachzuweisen, indem man sie in eine lückenlose Kette innerer und äußerer Ursachen und Wirken stellt, also in der Offenlegung der Motive und in der Rekonstruktion des Tathergangs. In beiden Fällen ist die Behandlung der Tat eine Form der nachträglichen Rationalisierung. Was den Kriminalplot anbelangt, könnte man sagen: auf das furchtbare, chaotisierende, schockierende Bild einer menschlichen Leiche folgt ein eher gemächlicher, ordnender, beruhigender Vorgang der Racionation. Anders gesagt: auf das heftige Bild, dem Eindruck auf der Ebene des visuellen Codes, folgt der logische Text, das Reglementieren auf der Ebene des linearen Codes. Im Grunde ist also der traditionelle Kriminalplot nichts anderes als eine in kleine, Spannung und Entspannung dosierende Portionen zerlegte Version der Zivilisationsmetapher vom Sieg der Sprache über das Bild, des Logos über die Vision.

Der traditionelle angelsächsische Kriminalroman hat sich stets seine Verwandtschaft mit dem intellektuellen Denkaufgabe zugute gehalten; er wird daher auch gern als Problemroman bezeichnet, weil ein Problem, in der Regel ein unaufgeklärter Mord, von einem emotional unbeteiligten Detektiv allein aufgrund seiner logischen Schlussfolgerungen gelöst wird. Der prototypische Held dieses Problemromans ist der Armchair Detective, also jener Detektiv, der zur Lösung seines Falles eher selten seinen bequemen Sessel am Kaminfeuer verlässt. Und dieser Detektiv befindet sich in gewisser Weise in einem sportlichen Wettkampf mit dem Leser, denn alle Hinweise auf die Lösung des Falles, die dem Detektiv zur Überführung des Täters dienen, sind, wenn auch hier und dort verborgen, irgendwo im Text vorhanden. Diese Konstruktion des Plots ist, in der es ganz buchstäblich um den Sieg des Textes über die Aktion, um einen Vorgang lust- und ein wenig auch angstbesetzter Abstraktion geht, ist, wenn man so will, nicht nur eher un-filmisch, sie ist vielmehr anti-filmisch. Detektivfilme haben also seit ihrer Entstehung gegen die Regeln dieser Gattung verstoßen, ja verstoßen müssen, indem sie immer wieder dem visuellen Code zu ihrem Recht verhalfen und sozusagen heimlich Denkvorgänge wieder in Aktionen übersetzt haben. Liebhaber des klassischen Detektivromans mögen im allgemeinen Film-Versionen ihrer Lektüre nicht, sie stehen dem Visuellen, wen wundert es, überhaupt skeptisch gegenüber.

Um den Detektiv überhaupt in eine filmische Konzeption zu bringen, griff das Genre des Detektivfilms, das in den frühen dreißiger Jahren mit dem Beginn des Tonfilms seine erste Blüte erlebte, zu einer Reihe von Tricks:

– die Figur des Detektivs, die im klassischen Kriminalroman nur als eine mit ein paar Schrullen besetzte Chiffre für die kriminalistische Logik selber diente, wurde interessanter gemacht, erhielt Star-Appeal oder eine interessantere innere Biografie

– die Film-Detektive traten vor allem in Serien auf, für die die Wiederkehr immer gleicher Standard-Situationen bezeichnend ist

– mangelnde Aktionen durch die Hauptfiguren selber werden durch Sidekicks, komische oder sportliche Nebenfiguren ausgeglichen, die sich an der Stelle der Protagonisten auch in filmübliche Auseinandersetzungen wie dramatische Verfolgungen, Schießereien, Verstecken herumtreiben

– der ganz in der Manier eines Closed Room Mysteries überführte Täter unternimmt im Augenblick seiner Enttarnung stets noch einen dramatischen Fluchtversuch, wobei er vor Geiselnahme nicht zurückschreckt. In der Regel kostet ihn das das Leben.

– das schlimmste Sakrileg gegenüber der Literatur-Vorlage schließlich unternimmt der Detektivfilm, wenn er Elemente des Humors, gar der Selbstironie mit einbezieht, und die Regeln, die aus der Literatur stammen und die der Film gar nicht erfüllen kann, ausgerechnet in die Ideologie der Bösewichte spiegelt

– die notwendige visuelle und mythische Faszination, die der Protagonist des Detektivplots nicht haben kann, wird den Schurken und Nebenschurken übertragen, mit dem gelegentlichen unerwünschten Nebeneffekt, dass sie klammheimlich zu den wahren Helden des Geschehens werden

– der Schauplatz, der im literarischen Whodunit  nur funktionalen Charakter hat, wird im filmischen Pendant zur eigenen Attraktion ausgebaut; in den hercule Poirot-Filmen mit Peter Ustinov etwa spielt, neben dem Großaufgebot der Stars und der Nostalgie der Ausstattung, der exotische Schauplatz schon eine Hauptrolle, während der Fall selber im Wesentlichen schon peripher ist.

Im Grunde funktionieren die meisten Kriminalserien des Fernsehen nach wie vor aus solchen mehr oder weniger geglückten Versuchen, die literarische Konstruktion des Whodunit mit filmischen Mitteln attraktiver zu machen.

Der Kriminalplot von Literatur und Film kam zur Kongruenz eigentlich erst in den hard boiled Romanen der amerikanischen Handlungsliteratur und ihren filmischen Varianten. Hier war nicht nur der Armchair detective durch einen Mann der Tat ersetzt, die Schlussfolgerung durch ein manchmal ausgesprochen brutales Spiel von Trial and Error, Verkleidungen und Intrigen, sondern auch das Sichtbare wieder ins Recht gerückt. Die Beantwortung der Whodunit -Frage war dabei nicht mehr das Ende des Plots, sondern trieb ihn in der Regel nur um eine Umdrehung weiter; zwischen dem Täter und dem Meta-Täter traten nun eine Reihe von Zwischeninstanzen, die Spur des individuellen Eifersuchtsmörders führte ins organisierte Verbrechen, und von dort in die Politik und in die Strukturen der ökonomischen Herrschaft. Und der Detektiv hat nicht mehr die geringste Chance, seinen distanzierten Beobachterblick zu bewahren, er ist Jäger und Gejagter zugleich, und in dieser Funktion ist er immer wieder auch Täter und Opfer.

Entscheidend ist dabei unter anderem, dass der Schauplatz von der exotischen Bühne zu einer inneren Landschaft der Befindlichkeit wurde; von der ebenso bedrohlichen wie synthetischen Stadt in den films noir führte der Weg zu Filmen, die neben ihrem kriminalistischen Plot verstanden, Portraits von Städten zu liefern. Der kriminalistische Plot muss nun nicht einmal mehr der eigentliche Inhalt, das Ziel der Erzählung sein, sondern eher durch eine soziale Architektur, durch eine moralischen Abgrund, sogar in die Seelen von Detektiven, von Tätern und von Opfern zu führen imstande sein. Das heißt, die Frage des Whodunit  wird in der Entwicklung des Genres immer mehr vom linearen auf den visuellen Code verlagert.

Die Geschichte von Kain und Abel könnte ich aber nicht nur auf die erwähnte Form der Rationalisierung erzählen, also beginnend mit dem Fund der Leiche und endend mit der Überführung des Täters, zu der ich mir nun allerlei visuelle Schnickschnacks ausdenken kann, sondern auch in der genauen Umkehrung des Informationsdefizits beim Whodunit . Wie wäre es, wenn ich nicht mit einem Mangel an Information, sondern an einem zuviel an Information die Story begänne. Ich sehe den armen Abel, wie er nichtsahnend an seinem Opferfeuerchen sitzt, und ich sehe wie sich Kain ihm nähert. Während Abel sich noch über den Besuch des Bruders freut, ihm womöglich arglos einen Platz am Feuer anbietet, sehen wir, was dieser ruchlos vor ihm verbirgt, nämlich die Keule, mit der er seinem Bruder gleich darauf den Schädel einschlagen wird. Und schlimmer kommt es noch, wenn sich der schurkische Täter zur Flucht wendet, denn indem wir ihn flüchten sehen, können wir gar nicht umhin, uns zu einem Teil mit ihm zu identifizieren, und wir haben Gottes Stimme vernommen, er aber nicht, die sein Schicksal besiegelt, sein Verfolgtsein auf der ganzen Welt. Ganz offensichtlich würde mit dieser Konstruktion der Story etwas erzeugt, was wir als Thrill oder als Suspense bezeichnen können. Hitchcock hat ja als Modell für die Suspense die Szene definiert, in der ein Mensch zu sehen ist, der auf einem Kanapee sitzt, unter dem eine Bombe tickt. Eine simple Action-Szene, wenn der Betreffende von dieser Bombe weiß, purer Suspense, wenn er es nicht weiß, aber wir genau darüber informiert sind, dass sie in drei Minuten losgehen wird.

Im Fall der Ratiocination also eilen wir der Information des Protagonisten sozusagen hinterher, im Fall des Suspense können wir umgekehrt nur inständig hoffen, den Protagonist möge unsere Information erreichen. Und wenn der Suspense im Genre des Thriller zum eigentlichen Inhalt, zum Erzählziel wird, dann heißt dies, der Sieg des Textes über das Bild im klassischen Kriminalplot wird umgekehrt, das Bild setzt den Text außer Kraft.

Im Kriminalplot konstruiert der Held die Ordnung der inneren Topgraphie, wie wir sie am Anfang kennen gelernt haben, im Thriller-Plot dagegen wird er in sie hineingezogen. Zum einen geht es ganz einfach darum, dass jemand, dem wir Sympathie und Identifikation nicht ganz verweigern möchten, in eine tödliche, für ihn selbst nicht vollkommen durchschaubare Gefahr gerät. Da haben wir eine sehr deutliche Unterscheidung zum Western wie zum Gangsterfilm: in diesen Genres geht es um die Auseinandersetzung zwischen Menschen, die einander sehr genau kennen, und die diese Auseinandersetzung nach einem verbindlichen Kodex regeln. Das heißt nicht, dass es im Western und im Gangsterfilm keine Thrill-Elemente gäbe, schließlich gibt es ja immer Leute, die sich nicht an die Regeln halten, aber sie erhalten keine zentrale Bedeutung, schon weil dadurch sowohl der Erzählrhythmus als auch die Mythologie des Genres gefährdet wäre.

Damit wir die Gefahr überhaupt empfinden, in der sich der Held oder die Heldin eines Thrillers befinden, müssen wir mehr wissen als diese selbst. Aber unser Informationsvorsprung darf auch nicht so groß sein, wie, sagen wir, in einem Columbo-Krimi, wo uns nicht die Suche nach dem Täter sondern die Technik seiner Entlarvung interessiert. Diese Differenz der Information unterscheidet sich in mehrerer Hinsicht von Informationsdifferenzen etwa im Whodunit . Der klassische Film-Detektiv, den es vor und nach den schäbigen Private Eyes in der schwarzen Serie gibt, weiß immer ein bisschen mehr als der Zuschauer. Was in den Detektivromanen im Text versteckt ist, nämlich eindeutige und rationale Hinweise auf Täter und Motiv, das ist im Detektivfilm im Bild zugleich vorhanden und versteckt. Selbst die Besetzung einer Rolle mit diesem oder jenem Schauspieler, denken wir an das Typen-Reservoir der deutschen Wallace-Filme, ist ein Spiel mit der Enträtselung. Thrill dagegen bedeutet mehr zu wissen als der Protagonist; so ist es durchaus möglich, aus beidem auch Ideologie zu gewinnen: der männliche Held in einem Wallace-Film ist der, der mehr weiß als der Zuschauer, die Frau, die er zu beschützen und früher oder später zu heiraten hat, weiß dagegen immer weniger als der Zuschauer. Anders gesagt: der männliche Protagonist verhält sich wie in einem Detektivfilm, der weibliche dagegen wie in einem Thriller. Und noch einmal anders gesagt: der Wallace-Film bekämpft das chaotisierte Bild der Weiblichkeit mit dem männlichen Text.

Wir können daraus ein kleines Modell der Erzählhaltungen entwickeln:

– das Epische: ich weiß genau so viel wie der Protagonist auf der Leinwand

– die Ratiocination: ich weiß weniger als der Protagonist, hätte aber, wenn der Film fair mit mir umgeht und ich aufmerksam bin, genau so viel wissen können

– der Horror: ich weiß genau so wenig wie der Protagonist und werde vom Einbruch des Phantastischen genauso überrascht wie er

– und schließlich der Thrill: Ich weiß mehr als der Protagonist, aber zu wenig, um seine Situation zu rationalisieren. Das klassische von Hitchcock referierte Beispiel für das, was er Suspense nennt, ist mein Wissen um die Bombe im Zimmer des Helden, von der er nichts weiß. Thrill entsteht aber nicht nur durch meinen Vorsprung von Wissen im Augenblick der Gefahr für den Helden oder die Heldin, sondern auch durch meinen Mangel an Wissen, nämlich dann, wenn ich meine Sympathie und meine Identifikation bereits vergeben habe, und schließlich in Zweifel über die Integrität meines Helden geführt werde. In „Im Schatten des Zweifels“ weiß ich vor Teresa Wright und ihrer Familie, dass Joseph Cotton ein Mörder ist, und Teresa Wright ahnt und weiß es dann, bevor es die anderen wissen. In „Notorious“ weiß ich, dass Ingrid Bergman in Gefahr ist und außerdem moralisch ok, aber ich sehe, wie Cary Grant das nicht weiß, und dass es gar den Anschein hat, dass er es nicht wissen will. So entsteht so zusagen auch Thrill zweiten Grades, eine Wissensdifferenz zwischen mir und der Leinwand über eine Wissensdifferenz auf dieser Leinwand selber. In „Suspicion“ weiß ich, dass Joan Fontaine ihren Mann Cary Grant für einen Mörder hält und sehe, wie die Indizien für diese Annahme sprechen, ich habe aber weder filmische Evidenz für die eine noch für die andere Möglichkeit – weshalb es im Übrigen ziemlich gleichgültig für meine emotionale Beteiligung ist, welche Lösung der Film am Ende anbietet. Denn im Thriller ist eben nicht die Frage „War er’s oder war er’s nicht?“ von Bedeutung, sondern die Reibung von Identifikation und Wissen.

Man könnte also sagen, dass im Horrorfilm das Empfinden über das Wissen siegt (das Dämonische ist deswegen auf seine filmische Art „wahr“, weil es so eindeutig den Ängsten der Protagonisten entspricht), und im Detektivfilm das Wissen über das Empfinden (am Ende ist alles auf Intrige, Inszenierung und Interesse reduziert), im Thriller aber Empfinden und Wissen ein unentschiedenes Rennen gegeneinander ausführen. Da wir im traditionellen Gangsterfilm das Wissen mit dem Helden teilen, ist er in der Regel einem Western verwandter als einem Kriminalplot, während umgekehrt der Polizist in seinem Genre in der Regel schon von Anfang an im Kampf um ein Wissen und meistens damit verbunden seiner Rehabilitierung,  gezeigt wird, das ihm von seiner Referenzgröße, seinem Apparat, aber auch der Politik, die ihrerseits wiederum Meta-Täter und Meta-Opfer zugleich ist, spürbar vorenthalten wird. Der Gangster zettelt eine Intrige an, deren Opfer er früher oder später selber werden muss; der Polizist revoltiert in einer Intrige, von der er früher oder später erkennen muss, dass sie eine Nummer zu groß für ihn ist, weil die Intrige die ganze Gesellschaft erfasst hat. Bemerkenswerterweise also haben Polizist und Gangster die selben Meta-Täter, nämlich die bürgerliche Gesellschaft, und nicht nur deshalb sind sie einander innerlich verwandter als etwa der Polizist und der Detektiv, die sich freilich wiederum in der Methodik annähern mögen.

Schließlich könnte man sagen, dass etwa der Western, aber auch der Gangsterfilm einen Gründungsmythos beschreibt, der Detektivfilm einen konservativen Impuls, der Thriller aber eine Krise. Was zur Disposition steht ist in der Regel das, was man die bürgerliche Identität nennt, also etwas, das die Westerner und Gangster noch gar nicht errungen haben, und etwas, über das sich die Abenteurer und Weltraumfahrer schon hinweg gehoben haben. Ein Thriller beschreibt sozusagen in einem Impuls von Lust und Angst zugleich die Auflösung einer bürgerlichen Biographie. Dazu ein paar Beispiele:

– als Verdoppelung: ein Mensch hat einen Zwilling, einen brüderlichen oder schwesterlichen Schatten, einen Menschen, der seine Form annimmt, der ihm einen Teil seiner Biographie raubt, ihn unter falschen Verdacht geraten lässt und ihm doch – anders als im Zwillingsmotiv des Horrorgenres – innerlich fremd bleibt

– als Verlust der Vergangenheit: ein Mensch wacht aus irgendeinem tiefen Schlaf auf und weiß nicht mehr, wer er ist, andere Menschen bieten ihm eine Legende an, die er als seine Biographie annimmt, bis sich die Hinweise mehren, dass sie gefälscht ist

– als Verlust des sozialen Ortes: ein Mensch wird von seiner Familie, von seinem Arbeitsplatz, aus seinem Land und aus seiner Kultur vertrieben und ist auf einer beständigen Flucht, zugleich auf der Suche nach Beweisen für seine verloren Integrität

– als Anklage: ein Mensch gerät unter falschen Verdacht, sieht aber vor seinen Augen alle Beweise für seine Unschuld verschwinden

– als Beziehungsfalle, nicht zuletzt im Subgenre des Romantic Thriller: ein Mensch heiratet einen anderen, und muss feststellen, dass er ganz und gar nicht der ist, für den er sich ausgegeben hat.

Auch die topographische Konstruktion des Helden unterscheidet sich in den einzelnen Genres. Ein Held oder eine Heldin ist in der Regel jemand, der in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Strecke zurücklegen oder ein bestimmtes Territorium verteidigen muss, dabei eine bestimmte Anzahl von Prüfungen überstehen und eine bestimmte Anzahl von Feinden bezwingen muss. Thrill entsteht unter anderem dann, wenn die einzelnen Elemente der heroischen Topographie sozusagen im Reinzustand hervortreten. Wenn ich einen Film „Zwölf Uhr mittags“ nenne, dann weiß ich, dass die Handlung auf einen Punkt zulaufen muss, erst langsam, dann immer schneller; eine Lösung, so oder so ist aber vorgegeben. Wenn ich einen Film „Nur 48 Stunden“ nenne, dann weiß ich, dass ich die Helden von Anfang an unter Druck setze und die Möglichkeit der Lösung bis zuletzt offen bleibt.

Thrill, das bedeutet, dass sich Zeit und Raum verdichten. Während der epische Held einen langen Weg zurücklegen muss, sieht sich der Protagonist des Thriller stets in immer engeren Räumen eingesperrt. Je enger der Raum, desto größer der Thrill, weshalb ein Aufzug oder ein Eisenbahn-Gepäckabteil ideale Thriller-Räume sind. Umgekehrt aber kann auch die Weite zu einer phobischen Situation der Ausweglosigkeit führen; „The Lady Vanishes“ zum Beispiel wirkt so heftig, weil beides etwa gleich schrecklich ist, die Enge der Eisenbahn, in der sich alles Verschwörerische zusammenzieht, und die Weite draußen, in der man nur verschwinden kann. Und noch allgemeiner befindet sich der Held eines Thrillers stets ungefähr so sehr zur falschen Zeit am falschen Ort wie sich der Held des Western stets zur rechten Zeit am rechten Ort befindet. Dieses „am-falschen-Ort-sein“ ruft nicht nur in ihm und in uns einen heftigen Adrenalinschub hervor, sondern setzt auch seine und die Phantasie des Filmes in Bewegung. Auch auf diese Weise wird schließlich Angst in Lust verwandelt, so wie im Detektivfilm Chaos in Ordnung verwandelt wird.

Thrill kann man also auf zwei sehr unterschiedliche Arten, nämlich eine innere und eine äußere konstruieren. Der Thrill der von außen kommt, ist allgemein gesprochen eine Verknappung der Zeit, auf die die Protagonisten mit Beschleunigung reagieren müssen – und in einer Variante wie „Speed“, sozusagen dem Prototyp des neuen äußeren Thrillers, verdichtet sich nicht nur die Zeit, sondern der Spielraum für Geschwindigkeit selbst. Ein innerer Thrill entsteht indes aus Missverhältnissen von Wahrnehmung und Information. So ist zum Beispiel ein immer wieder aufgegriffenes Thriller-Thema die Bedrohung eines blinden Menschen; aber natürlich können solche Wahrnehmungsdefizite auch künstlich erzeugt werden, durch Desinformation etwa. Schließlich ist das Gefühl selbst die Wahrnehmungsfalle; der Protagonist kann blind vor Liebe, genauso gut aber auch blind vor Misstrauen sein, denn anders als im Detektivfilm geht es im Thriller darum, dass zu wenig Skepsis ebenso gefährlich ist wie ein Übermaß an Misstrauen. Und die letzte Konsequenz im Genre schließlich ist, dass das Wahrnehmungsdefizit nicht bloß die Außenwelt betrifft, sondern die eigene Person. Der Protagonist weiß nicht mehr, wer er ist, er verliert seine Person. Solche Thrill-Elemente können als Spurenelemente auch in anderen Genres eingesetzt werden. In dem Polizeifilm „Tight Rope“ etwa ist Clint Eastwood ein Cop auf der Spur eines Mörders, aber dieser Mörder weiß offensichtlich so viel von ihm, ist ihm so ähnlich, dass der Held selber für einige Augenblicke nicht mehr ausschließt, mit dem Mörder auf irgend eine Art identisch zu sein.

Thrill bedeutet also:

a) die Veränderung der Parameter der Außenwelt bis an den Rand der Wahrnehmungsparameter des Protagonisten, oder

b) die Veränderung der Wahrnehmungsparameter der Innenwelt bis an den Rand der Wahrnehmbarkeit der Außenwelt.

Dabei steckt die Perspektive des Zuschauers immer sozusagen dazwischen

– er weiß mehr als der Protagonist, kennt aber nicht die ganze Wahrheit

– er weiß, was er über einen der Protagonisten weiß, nur aus der Perspektive des anderen Protagonisten

– er weiß nicht mehr als der Protagonist, wohl aber weiß er, dass der Protagonist Fehlinformationen oder Wahrnehmungstäuschungen unterliegt

– der Zuschauer weiß nicht, was der Protagonist weiß, ja im Extremfall müsste er gar die Gegenwart des Zuschauers ahnen; der Protagonist kann seine Bewegungen auch so anlegen, dass er bewusst den Zuschauer täuscht. Das heißt auch, dass ein Thriller den Zuschauer und die Zuschauerin mehr einbezieht als ein episches Filmgenre.

In einem Western sind alle Objekte Ausweis einer bestimmten Station des mythischen Zivilisationsprozesses. An der Form eines Hutes kann ich den Grad von Freiheit oder Verbürgerlichung einer Figur ebenso absehen, wie ich den Gebrauch der Waffe als Metapher der Kapitalisierung verstehen kann. Das Repetiergewehr, das den Indianern auf keinen Fall in die Hände fallen darf, ist Symbol der eigenen technologisch-ökonomischen Zukunft, in der die horizontale Codierung des Konfliktes aufgehoben ist. Im Detektivfilm ist das Objekt ein Hinweis; mein Scharfsinn soll die bedeutenden von den konventionellen Objekten unterscheiden. Der Ring an der Hand der Toten, auf dem die Kamera für eine Sekunde länger verweilt als beiläufig zu erwarten wäre. Das Melodram kennt das Objekt nur als Spiegelung der inneren Zustände, alles wird unter seinem Blick zum Symbol von Liebe oder Hass, der Ring steht für das Bild einer Liebesgeschichte. Im Thriller dagegen geht die wahre Gefahr vom Objekt aus. Sie sind das Normale, das aus den Fugen gerät, ein Messer ist ebenso bedrohlich wie ein Glas Milch, ja eigentlich verwandelt sich im Thrill alles in eine Bedrohung, eine Abwandlung jener Bombe, von der Hitchcock spricht, und jeder Schauplatz erweist sich gerade da als bedrohlich, wo er seinem eigenen Klischee entspricht.  Im Horrorfilm werden die Helden wie manisch von den Orten der Gefahr angezogen, sie hören einfach nicht auf, die Friedhöfe zu durchqueren, in die verwunschenen Häuser zu dringen, die verbotenen Türen zu öffnen. Im Thriller dagegen erscheint die Gefahr gerade dort, wo man sie am wenigsten erwartet, sie steigt aus den Bildern der Konvention, des Gewöhnlichen. In der Schweiz gibt es Schokolade, Berge und Uhren, und genau das wird dem Helden eines Thrillers, der in der Schweiz spielt, beinahe zum Verhängnis. Das eigene Heim des guten Bürgers wird im Thriller zur tödlichsten aller Fallen. Ein guter Thriller unternimmt alles andere als Klischees zu vermeiden; er sprengt Klischees in die Luft oder vergiftet sie.

Was den Thriller zu einem so bemerkenswerten Genre macht, ist der Umstand, dass sein Gegenstand die Dekonstruktion dessen ist, was die bürgerliche Literatur und der Film als Sprache neben der Mythologie der jeweiligen Genres zum Ziel hat, den psychologischen Realismus, in dem sich die bürgerliche Person sozusagen erst versteht. Der Thriller beschreibt einen Zustand, in dem sich diese Person in der einen oder anderen Weise aufzulösen droht; das ist nur zum einen der Horror der bürgerlichen Gesellschaft schlechthin, zum anderen aber ist dieser Vorgang durchaus auch mit Lust besetzt, denn es steckt darin auch die Chance, das Gefängnis der Identität von innerer Biographie und äußerem Status zu verlassen. Das Erotische an Alfred Hitchcocks englischen Filmen ereignet sich, wenn ein Mann und eine Frau durch äußere Umstände gezwungen sind, ihre bürgerliche Existenz aufzugeben und auf der Flucht unterschiedliche Rollen zu spielen. Als in den achtziger Jahren der Yuppie zugleich Ideal und Schreckbild wurde, entstanden eine ganze Reihe von Thrillern, die den Yuppie aus seiner Designer-Wohnung und seinem Großraumbüro auf die Straße, in die Ghettos oder ins Hillbilly-Land jagten, wo er seine so erfolgreich wie mühsam erworbene Identität gründlich verlieren durfte.

Was in Frage gestellt ist, das ist auch eine Einheit von Erzählung, Protagonist und Adressat. In einem Thriller kann die Perspektive der Erzählung eine andere sein als die des Helden oder der Heldin und die wiederum eine andere, als die, welche der Zuschauer oder die Zuschauerin einnimmt. Einladungen zur Identifikation können sich als Fallen erweisen. Einen ganzen Film lang habe ich mich mit einem Menschen identifiziert, der sich schließlich als kranker Mörder erweist. Oder noch schlimmer: die Grundkonstellation des Thrillers: ein Mensch in Gefahr, die er nicht vollständig definieren kann, zwingt mich zumindest zu einer partiellen Identifikation mit einer Figur, die moralisch ganz und gar nicht akzeptabel ist. Fritz Langs „M“ ist dafür ein grandioses Beispiel, vor allem auch, weil er eine Gegen-Identifikation mit den Instanzen der Verfolgung verweigert.

Das heißt also, um ein Kriminalgenre zu definieren, kann nun ein ganzer Katalog an Parametern zusammen gestellt werden, der für die Konstruktion des Drehbuches ebenso wie für die Analyse herangezogen werden kann:

1. die Blick- und Bewegungsrichtung innerhalb der inneren Topographie der mythischen Darstellung von Verbrechen: Perspektive des Opfers (Thriller), Perspektive des Täters (Gangsterfilm), Perspektive des Meta-Opfer (der Polizist als tragischer Held), Perspektive des Meta-Täters (melodramatischer Mafia-Film); die Bewegung von innen nach außen, von der Entwicklung des Motivs bis zur Tat (wie etwa im Psycho-Krimi) oder von außen nach innen, von der Entdeckung der Tat bis zur Entlarvung des Täters (Whodunit -Krimi); die Bewegung des Verlustes von Identität, moralischer Gewissheit und Wahrnehmung (der subversive Kriminalplot) und die Bewegung des Gewinns von Identität, moralischer Gewissheit und Wahrnehmung (der konservative Kriminalplot).

2. Die Definition von Helden und Schurken, wie zum Beispiel

– der unbeteiligte Rationalisierer und Profi (der sich freilich, schon einmal, wie Inspektor Derrick, einen Stoßseufzer über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen entringt)

– der ambivalente Held zwischen Opfern und Tätern

– der zum Opfer oder zum Täter gemachte Held

– die thrill seeking personality (der geborene Hero), oder

– die thrill fearing personality (der Held wider Willen)

– das Konzept des Hero with Problems (der Held, dem immer wieder Widersprüche in seinem Privatleben in seine Fälle spuken)

– das Konzept des Hero with a Handicap (der Held im Rollstuhl, der blinde Held)

– das Konzept des Hero with Sidekicks (der Held hat Helfer und Mitarbeiter, die ihm einerseits ergänzend zur Seite stehen, seine Schwächen ausgleichen, ihn andererseits aber immer auch wieder behindern oder in Nebenprobleme verwickeln oder gar seine Position in der inneren Topographie des Verbrechens in Frage stellen, etwa wenn sie selbst in Verbrechen oder Korruption verwickelt sind) und nicht zuletzt

– der brave Bürger, der aus erlittener Unbill zur Waffe greift und selbst den Bösewicht (statt einer machtlosen Polizei) stellt und umso gründlicher das Geschäft des Aufräumens besorgt.

Schurken sind schließlich

– materielle Rationalisten, die teuflische Intrigen spinnen und Morde begehen, ausschließlich zum Zweck von Bereicherung oder Machtgewinn

– Bewohner einer in sich strukturierten Unterwelt wie der Gangster, der Berufskiller etc., die sich in einem Loyalitätsverhältnis zu ihrer Organisation befinden,

– Opfer eines psychotischen Familien- und Erziehungsromans, die nicht anders als Mörder gegen ihre Unterdrückung rebellieren können,

– seelisch leere Serienmörder, deren absolut böses Verhalten sie an den Rand der Metaphysik bringen, als Vetreter des absolut Bösen,

– Menschen, die durch eine Beziehungsfalle auf die Seite des Bösen gezogen werden, Opfer von anderen Menschen zwischen ihnen und den Meta-Tätern,

– politische Verbrecher wie die Agenten, die Mitglieder von Verschwörungs- und Terroristen-Gruppen, aber, zum Beispiel auch kryptofaschistische Todesschwadronen in der Polizei selber, Ku Klux Klan-Gruppen,

– gewöhnliche Straßenkriminelle, Junkies und Obdachlose, Zuhälter und Dealer, die durch einen Zufall in die Situation des Täters geraten,

– als genaues Gegenteil der kalt ästhetische Superverbrecher, der im Bösen weniger das Ziel und weniger die Befriedigung etwa sadistischer oder soziopathischer Impulse verwirklicht, als sich vielmehr am Ausmaß seiner Intrige und in der ästhetischen Form seiner Verbrechen selbst zu berauschen.

Die Wirkung der nun recht zahlreichen Möglichkeiten der Gegenüberstellung lässt sich etwa steigern, wenn es eine innere Verwandtschaft zwischen Täter und Helden gibt, wie etwa in „No way to Treat a Lady“, wo der unter seiner tyrannischen Mutter leidende Polizist Elliot Gould sich mit dem notorischen Frauenmörder Rod Steiger auseinandersetzen muss, der in ihm vermutlich nicht zufällig einen Geistesverwandten sieht, oder Jamie Lee Curtis als Polizistin in „Blue Steel“, die bei ihrem allerersten Einsatz gleich an das Schreckbild böser Männlichkeit gerät, dem sie in der Uniform zu entkommen suchte, und dem sie anfänglich doch zu verfallen scheint.

Umgekehrt entzünden sich Methoden und Absichten von Helden und Bösewichten in den entsprechenden Kombinationen auch aneinander; dass es der so erfolgreiche wie in seinen Methoden umstrittene Polizist „Dirty Harry“ nicht mit dem organisierten Verbrechen sondern mit einem ebenso genialischen wie semiotisch chaotischen Psychopathen zu tun hat, der ebenso Züge eines durchgeknallten linken Studenten, wie Züge eines wahnsinnig gewordenen Vietnam-Heimkehrers trägt, bestätigt seine weder rechtsstaatlichen noch rationalistischen Methoden. Ganz offensichtlich also ist die Balance zwischen dem Helden und dem Täter nicht nur eine Voraussetzung für das dramaturgische Gelingen eines Kriminalplots, sondern definiert neben Bewegungsform und Bewegungsradius auch die ideologische Grundkonstruktion in der inneren Topographie. Während zum Beispiel die Macht des organisierten Verbrechens beim Polizisten in der Regel zur Resignation führt, löst das Auftreten des soziopathischen Killers einen Amoklauf bei ihm aus, weil er nur hier spürt, einer Aufgabe gegenüberzustehen, die überhaupt zu Ende zu führen ist.

Der Sieg des Textes über das Bild in der Ratiocination des Whodunit  und der Sieg des Bildes über den Text im Suspense des Thrillers bilden schließlich die beiden Extreme der emotionalen Grundstimmung des Kriminalplots, zwischen einer sehr kalten und einer sehr heißen Erzählweise. Das Whodunit tut alles, um die durch das Bild der Gewalt erzeugte Angst abzuwehren und in einen rationalen oder mythischen Sinn (der Gerechtigkeit) zu unterwerfen, der Thriller tut alles, um die durch die Bilder der Gewalt erzeugte Angst in Lust umzuwandeln, in die Lust der Bewegung und in die Lust der Transgression: die Gewalt, die dem Protagonisten des Thrillers als Opfer und als mutmaßlichem, früher oder später irgendwie auch tatsächlichem Täter widerfährt, führt dazu, dass er ein wenig von dem unternimmt, was der Mörder des Whodunit  anstrebt, nämlich seinen sozialen, familiären und ökonomischen Ort zu verlassen, wenngleich freilich zunächst in die umgekehrte Richtung, nämlich nach unten, seine gesellschaftliche, kulturelle, sogar rassische und nicht zuletzt erotische Identität zu verlieren, um an Orte der Freiheit zu gelangen, die er ohne das Einwirken der Gefahr auf seine Biographie nie erreicht hätte.

Georg Seesslen