Ein Gegenwartskino in der Zeit des audiovisuellen Oligolopols oder der Versuch, die „Berliner Schule“ zu verstehen

Christian Petzolds „Yella“ ist ziemlich sicher etwas, das man altmodisch ein Meisterwerk nennen darf. (Ganz genau weiß es ja wieder mal erst die „Nachwelt“). Näher an das Gegenwärtige, daran, wie man lebt, derzeit, kann man mit den Mitteln des Kinos kaum kommen, auch nicht weiter darüber hinaus, und schon gar nicht tiefer ins Zwischendrin. Den audiovisuellen Markt ärgert so etwas eher, nichts kränkt die Zeitgenossen mehr als ein Meisterwerk. Da es aber auch in gewisser Weise unantastbar ist, organisiert sich die Abwehr breiter. Die dritte seltsame Debatte unserer audiovisuellen Kultur, nach der bizarren Kritikerschelte von Herrn Rohrbach, nach Volker Schlöndorffs schüchternem Versuch, das Kino gegen das Fernsehen zu retten und seiner anschließenden öffentlichen Abstrafung, läuft jetzt auf ein Pro und Contra-Spiel zur „Berliner Schule“ hinaus, die man im Ausland spätestens seit 2005 so gern lobt, und im eigenen Land höchstens widerwillig schätzt. Wie eigensinnig, sperrig und anstrengend dürfen die noch sein? Und hey, wisst Ihr was? Diese drei „Debatten“ haben etwas miteinander zu tun.

Zur Berliner Schule stößt man wohl weniger, als dass man „zu ihr gezählt“ wird. Die Regisseure Christian Petzold, Angela Schanelec, Thomas Arslan, Christoph Hochhäusler, Henner Winckler, Jan Krüger, Benjamin Heisenberg, Ulrich Köhler, Valeska Grisebach, Maren Ade, Sylke Enders und Maria Speth sind weder durch ein Manifest noch gar durch ein „Dogma“ verbunden als vielmehr durch die Wahrnehmung ihrer Filme in der Öffentlichkeit und in der Kritik. Man kann daraus auf die Verwandtschaft ihrer Filme schließen, wie aus der biografischen Verbindung, den gemeinsamen Produktionsbedingungen (und gar den gemeinsamen Produzenten), dem Schnittpunkt Berlin, der Vorliebe für bestimmte Klassiker, Bresson, Ford, Godard, Cassavetes meinethalben, auch eine „Haltung“ beim Filmemachen ist da, und diese Elemente kann man mehr oder minder treffend und sympathisierend beschreiben. Zweifellos ist das „ein anderer Blick“, ein „anderes Erzählen“, andrer Raum und andre Zeit als im Gewohnten. Zweifellos geht es um das wirkliche, einzigartige und kontaminierte Leben in der kapitalistischen Gegenwart. Zweifellos hegt man eine Aversion gegen bestimmte Techniken der kinematografischen Erzeugung von emotionalem Einverständnis, Identifikation und Gefühl. Und ebenso zweifellos lässt das alles genügend Spielraum, um sehr unterschiedliche Temperamente und Methoden zur Entfaltung zu bringen. „Berliner Schule“, das ist nicht nur eine Gruppe von Filmemachern, die sich gegenseitig unterstützen statt sich gegenseitig zu bekämpfen, die Lust haben, wieder über Filme statt über Geld zu reden, und die die Beziehung zwischen einer Kamera-Einstellung und der Einstellung der Ideen sehr genau kennen. Die „Berliner Schule“ ist ein Vorschlag, nicht nur andere Filme, sondern auch anders Filme zu machen.

Man kann aber auch genau umgekehrt vorgehen und von dieser Wahrnehmung her die merkwürdige Geschlossenheit, die Gleichförmigkeit nicht der Berliner Schule, sondern vielmehr dessen, wovon sie sich kehren muss, beschreiben. Denn die audiovisuelle Kultur in Deutschland befindet sich unter der Kontrolle von wenigen mächtigen Erzähl- und Bildermaschinen, und deren Macht hat sich in den letzten Jahren offensichtlich hysterisiert im Kampf noch um die letzten Ressourcen, um die obersten Ränge und um die Definition. Was durch die Eichinger- oder Degeto-Maschinen getrieben wurde, sieht als Fertigprodukt, und fast schon unabhängig davon, was an Talent, Fleiß und Ideen als Rohstoffe hinein gegeben wurde, immer gleich aus, gleichgültig ob es sich um große Literatur, historische Katastrophen oder Liebesbilder handelt. Wäre unsere Filmkultur wenigstens so ehrlich materiell wie die in Hollywood, so wäre uns klar, dass das, was wir sehen und was wir nicht sehen und wie wir sehen und vor allem wie wir nicht sehen von nicht mehr als einem Dutzend Menschen bestimmt wird. Mögen die bei Zeiten toleranter und experimentierfreudiger sein als in anderen, die Bildermaschinen zwischen Fernsehen, Kino und Politik verklumpen ihre Ware in zunehmendem Maße zu einem mächtigen Brei. Als „guter Film“ mag in dieser Situation bereits eine Arbeit gelten, die zugleich perfekt in der Bildermaschine funktioniert, aber doch genügend ästhetischen Eigensinn als branding bewahrt, um festivaltauglich zu sein. Und als „Kunst“ mag da schon gelten, was den Bildermaschinisten Zugeständnisse abringt und was sich das gerade richtige Maß querzulegen traut.

Es geht also, pathetisch ausgedrückt, um nichts anderes, als darum, ob und wieweit man den Film noch oder wieder in die Hände der Filmemacher legen kann, oder ob die Bild- und Erzählmaschinen das Feld endgültig besetzen. Deren Macht stammt im übrigen nicht nur von den Gesetzen des Marktes auch mit der Ware des „rève exterieur“, der allgemeinen Träume und Vorstellungen, der Taktik der Maschinisten, politisch-ökonomischen Interessen oder der „Trägheit des Publikums“, sondern in nicht unbeträchtlichem Maße auch von unserer, der Kritiker, Feigheit, Trägheit und Korruption.

Zunächst einmal geht es gar nicht um die Langsamkeit einer Erzählung, nicht um statische oder „kunstlose“ Kameraführung, es geht nicht um den Verzicht auf „große dramatische Behauptungen“ (Thomas Arslan), „den Respekt vor der Figur“ (Christian Petzold),nicht darum, dass in den Filmen „eigentlich nichts passiert“ (Oskar Roehler), nicht um eine Ästhetik des Sperrigen, Anstrengenden, Strengen, „Neo-Kontemplativen“ (Süddeutsche Zeitung), Nicht-Primetime-Kompatiblen, nicht um Minimalismus, „Realitätshunger“. Es geht primär um die Frage: Ist der Film ein Mittel des Ausdrucks und der Recherche oder ist das Kino eine Maschine, die Talente aufsaugt, um ihnen einen Platz in der Konsensfabrikation zuzuordnen? Im nächsten Schritt kann man überlegen, wie die ästhetischen und die politischen Entscheidungen zusammen treffen. Und im dritten Schritt ist es möglich, zu überlegen, in welche Richtung man von hier aus weiter gehen kann.

Missverständlich, gewiss, auch das Schlagwort vom „Realismus“, denn es hat so viele Formen von Realismus gegeben, seit es das Kino gibt, wie es Formen der Propaganda gegeben hat. Andrerseits geht eine Methodenfrage über den Diskurs der als solche beschriebenen Mitglieder oder Sympathisanten der „Berliner Schule“ hinaus, wie sich bei den Dokumentar- und Spielfilmen etwa des Österreichers Ulrich Seidl erkennen lässt: Dass man eine menschliche Weise finden muss, das Trostlose zu zeigen.

Die Abwehr der „Berliner Schule“ – die man eine Zeit lang vielleicht noch als querköpfige Gruppe von sympathischen Verweigern abtun konnte, die man mittlerweile jedoch als nachhaltigen Teil unserer Filmkultur akzeptieren muss -, trifft, um einem Missverständnis vorzubeugen, keineswegs Filme, die auf dem Markt erfolglos wären und nur der Kritiker- und Festivalerfolge wegen alimentiert würden. Macht man die Rechnung von Produktionskosten und Zuschauerzahlen auf, sind die Filme der Berliner Schule ökonomisch erfolgreicher als manche Mainstreamproduktion. Selbst, wenn man sie im Fernsehen ins Mitternachtsprogramm verbannt und bei der Kino-Auswertung auf große Werbemittel verzichten muss. Es ist eben so, dass man die Filme der Berliner Schule sehen wollen muss, um sie zu sehen. Und das ist auch gut so. Damit sind sie sehr ursprüngliches Kino. Mein Weg zu diesen Bildern ist Teil der Erzählung.

Die Frage von Traumfabrik und Autorenfilm stellt sich heute, da sie nach dem Konsens „erledigt“ sein soll, in neuer, viel schärferer Form als je. Denn sie betrifft nicht mehr allein die Funktion des Filmemachers, sondern fragt generell, wem die Bilder gehören. Und ob es Bilder der Gegenwart geben kann. Beides, Bilderfabrik und Kinokunst, kann in einer Filmkultur ohne weiteres nebeneinander existieren, wenn es einen Grundkonsens gibt, nach dem es verschiedene Konzepte des Filmischen nebeneinander geben kann. Verschiedene Formen der Finanzierung zum Beispiel – von den Extremen eines Kinos, das sich auf dem Unterhaltungsmarkt selbst finanziert bis hin zum anderen Extrem eines Films, den sich nicht der Markt, sondern die Gesellschaft leisten muss, wie es sich andere Künste auch leistet. Aber wie im wirklichen Kapitalismus, haben wir auch in der audiovisuellen Konzernalisierung den Kampf der Reichen und Mächtigen gegen die Kleinen vor uns.

Darum wird der Diskurs um die Berliner Schule mit einem denkbar falschen Ton geführt, ganz so, als handele es sich um eine Alternative – als wollten uns die bösen Realisten und Asketen den Kinospaß zwischen James Bond und Florian von Donnersmarck wegnehmen oder das emotionale Selbstmanagement in unserem allwöchentlichen Feelgood-Movie im Arthouse Kino vermiesen. Als ginge von diesen Filmen eine moralische Kränkung des Mainstreams aus.

Die Bilder- und Erzählmaschinen im Zustand der hysterischen Oligopol-Bildung reagieren empfindlich, und in ihrem Machthunger scheuen sie auch nicht mehr davor zurück, ihr Innerstes wie im Fall Schlöndorff, nach außen zu kehren. Wer nicht ganz und gar mitspielt, der fliegt raus. Auch die Filmkritik scheint da im Visier: Wir sollen Oscars erschreiben, gute Laune verbreiten, den Betrieb nicht stören. Wer aber ein wenig genauer über die Filme der Berliner Schule schreibt, bekommt schnell seinen Streit mit der Mitte. Spätestens im Feuilleton soll der Aufbruch gebremst werden.

Vielleicht müssen wir ein wenig „sperrig“ werden in der Zeit der audiovisuellen Oligopole. Um nicht Teil der Kinomaschine zu werden, muss man zunächst skeptisch gegenüber dem maschinellen Anteil seines Erzählens, der Konsumverabredung sein, die auch eine politische Verabredung ist.

Das ist auch eine Frage der Würde im Verhältnis zwischen den Bildern und Blicken: Man muss sich nicht gegenseitig „füttern“, nicht schmeicheln und nicht lenken, wenn man sich etwas zu sagen hat. Die Liebe, die man der Maschine verweigert, gibt man den Menschen.

Die große Angst vor den Filmen der „Berliner Schule“ ist die Angst, mit ihren Bildern allein gelassen zu sein. Ihr „genauer Blick“ – um eine Floskel zu gebrauchen, die in der Auseinandersetzung häufig verwendet wird -, wird ja nicht nur „vorgenommen“, sondern er wird auch verlangt. Zuschauen ist bei diesen Filmen ein wenig anstrengender als gewöhnt. Die Distanz nimmt einem die Illusion, man könne gleichsam die Figuren in den Arm nehmen, ihnen helfen oder wenigstens mit ihnen heulen. Auch das Kathartische ist nicht nach den alten Formeln zu haben, und selbst noch die Gnade, die es in den Filmen des „transzendentalen Stils“ gibt, fehlt hier. Hatte nicht Bertolt Brecht vor dem Mitleidig-Sein gewarnt und statt dessen vom Theater oder eben dem Film verlangt, zu „tätiger Hilfe“ zu drängen? „Politisch“ ist dieses Kino, obwohl es keine Parolen hat, keine Propaganda erzeugt, keine „Meinungen“ verbreitet, weil es Fragen nicht beantwortet, sondern schärft. Allzu lange haben wir uns daran gewöhnt, in den Erzählmaschinen getröstet zu werden: Immer das richtige Opfer zur richtigen Zeit, immer die Rettung für die richtigen Leute. Die Verhältnisse sind unerträglich, aber die Sympathieverteilung und die Gleichungen zwischen Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte gehen auf. Das tun sie nicht! Und es gibt keine Kunstform, die das so genau zeigen kann, wie das Kino. Wenn man sich traut.

Ich riskiere ein großes Wort: Die Filme der „Berliner Schule“ versuchen, den Kapitalismus darzustellen. Als Lebensraum und als Lebenszeit von Menschen, die nicht in ihm aufgehen und ihn nicht erfüllen. Und als Raum und Zeit von Gespenstern. Den unerledigten Aufgaben, der ungelösten Schuld. Den Kapitalismus darstellen, obwohl das in unseren Erzählmaschinen eigentlich verboten ist – oder in gewisser Weise unmöglich – ist nicht leicht. Und es geht nicht ohne eine sehr eigene Art von Transzendenz: Was zu den Filmen der „Berliner Schule“ gehört, das ist, dass sie auf eine Weise auch sehr, sehr schön sind.

Autor: Georg Seeßlen