In einem ziemlich langen und manchmal zähen Berufsleben zwischen Bildern, Worten und Bewegungen zwischen den beiden kommt man gelegentlich auf eine Art von Widersprüchen, die einen eher ratlos machen als einen zu beflügeln. Film und Comics, Pornografie und Politik, James Joyce und Marcel Ophüls, da kriegt man leicht etwas hin, was man dann als Diskurs verkaufen kann, Trash Movies und abstrakte Malerei, meinetwegen. Aber Brecht und der Film? Daran sind schon mehr gescheitert, Filmemacher wie Kritiker, Leser wie Zuschauer. Warum denn das?

Die Gemeinheit dieser Entfernung von, sagen wir, zwei Wahrnehmungs- und Denksystemen, ist ihre doppelte Nähe. Zum einen eine Nähe, die in der Biographie der einzelnen liegt. Die Entdeckung von Bert Brecht und die Entdeckung des Kinos kommen zumindest für die Insassen meiner Generation ungefähr zur selben Zeit, und nach meinen Erfahrungen kommt das auch heute noch eher häufig vor. Und zum anderen gibt es ja Brechts theoretische und praktische Versuche mit dem Medium. Und schließlich: Gibt es ein Leben, so zwischen story und history, das man sich geeigneter für ein mehr oder minder reflexives biopic vorstellen kann als das von B.B.? Und ist das Kino nicht, bei all seinem Hang zu Kindischkeit und Korruption, zumindest technisch die Erfüllung so vieler Ansätze, die das Theater bei Brecht zur Selbstüberschreitung vorschlug? Es ist, so hieß es in Brechts Radio-Theorie, technisch kein Problem, die Verhältnisse von Sender und Empfänger zu verändern. Vielleicht würden wir es heute, nach etlichen Erfahrungen und Theorien, etwas anders formulieren: Es ist kein technisches Problem, was uns die audiovisuellen Medien so unaufhaltsam von entfremdeten Medien zu Medien der Entfremdung machte. Sie wollten sich, so geht das los, nicht einmal „aufklären“ lassen.

Brecht denken und Film denken in der Geschichte, das ist wie Trauerarbeit. Etwas will da immer zusammenkommen, und von beiden Seiten aus wird es um so schwieriger, je mehr man sich bemüht. Also wäre, die Schnittpunkte denken einigermaßen unfruchtbar? Nein, notwendige Fleißarbeit, die uns vor Missverständnissen und Mythen bewahren kann.

Bert Brecht ist zum Film nicht wirklich gekommen. Ich meine damit nicht nur KUHLE WAMPE und HANGMAN ALSO DIE und all die Versuche, die man kennt. Ich meine ein System, das sich einem einzelnen verschlossen hat. Als Praxis, aber vielleicht auch in den Bereichen der Theorie.

Es gibt ganz wenige sagen wir: nicht vollständig misslungene Verfilmungen von Brecht-Stoffen, und einige davon, denken wir an Pabst, sind interessant aus Gründen, die wenig mit Brecht zu tun haben. Und wieder andere sind großartig, wie etwa die Arbeit von Straub und Huillet, erfordern aber zu viel ästhetisches Wissen, um außerhalb der cineastischen Zirkel wirksam zu werden. Es ist da eine Art des „transzendentalen Brechtianismus“ entstanden, der, wie Jean Luc Godard sehr präzis bemerkt, in seiner mönchischen Strenge nur zu verstehen ist, wenn man ihn als Geste des Widerstands gegen den Mainstream akzeptiert.

Nehmen wir eher gelungene Beispiele, wie Christa Mühls Novellen-Verfilmung „Tod und Auferstehung des Wilhelm Hausmann“ (1974), in der eine Frau die Rolle ihres verstorbenen Mannes einnimmt, um seinen Arbeitsplatz zu behalten, während eine andere Frau ihre Rolle als Witwe einnimmt. Dann wird uns vielleicht klar, welche Zumutung das Filmische für die Parabel ist: Ohne dass wir den Menschen glauben in diesem Stück, glauben wir auch nicht an seine Ideen. Das Kino, so scheint es, ist sogar für seine Aufklärer und seine „Subversiven“ mehr als ein Medium: eine Erzähl-, sogar eine Lebensweise. Die „cinematografische Illusion“ geht weit über die Institution Kino hinaus; sie ist im Leben fast hartnäckiger als auf der Leinwand – unter anderem deswegen schlug Pier Paolo Pasolini vor, eine Semiotik des Films zu einer „Semiotik der Wirklichkeit“ zu weiten. Das Kino verspricht Wunscherfüllung, Mythisierung, in seiner bürgerlichen Form auch „Bewahrung“, und selbst die Avantgarde kommt über das gelegentliche Durchbrechen der großen Illusion von Repräsentation nicht hinaus.

„Brechts letzter Sommer“, auch nur zum Beispiel, konstruiert jene Intimität, die nur dem Kino gelingen kann, mit einer simplen Prämisse, nämlich der, dass man im Kino, mehr oder weniger kontrolliert, den Unterschied zwischen einem Abbild und einem Sinnbild ganz einfach vergisst.

Sogar die reine technische Dokumentation, die die große Inszenierung eines Brecht-Stückes widergibt – wir erinnern uns an den veritablen Kult-Status, den die Helene Weigel-Apotheose in MUTTER COURAGE in den kleinen Kinos der Universitätsstädte in den sechziger Jahren genoss – bleibt nicht ohne Widersprüche, wird sie doch im Kino statt in den Rang eines Skizzenbuches in den Rang eines Denkmals erhoben wird. Liegt möglicherweise die Schwierigkeit des Films mit Brecht schon in dieser Form des „Aufhebens“?

Eine Voraussetzung für eine „epische“ Darstellung ist es, die Dinge nicht als das Bekannte und Selbstverständliche zu akzeptieren; das Wesen des Kinos, das wir uns immer als Kunst und Ware vorstellen müssen, als ästhetische und politische Geste und als maschinelles und ökonomisches Funktionieren, ist weniger das Zeigen (oder, im viel besseren Fall: das Sehen) als das Glauben; der Bildraum auf der Leinwand soll zum Welt-Raum werden, nicht nur wegen unserer Bequemlichkeit, wegen unseres unbezwingbaren Hangs zum romantischen Glotzen, sondern auch wegen der skandalösen Macht der Aufnahme- und Widergabe-Maschine Kino selber: Weil das Kino so viel könnte, wird es so streng kontrolliert wie kein anderes Medium. Deshalb wird, was das Kino anbelangt, und dann das Fernsehen, eine politische Ökonomie zur „Sprache“.

Statt mit der Erkenntnis sind wir im Kino mit der Verbesserung der Welt beschäftigt.

Wir können also, wenn wir zu einem eher utopischen Aspekt unseres Diskurses gelangen wollen, nicht von den „Schnittpunkten“ ausgehen. Unsere Chance ist etwas anderes, nämlich gemeinsame Felder zu eröffnen von Brecht denken und Film denken. Aber bis wir so weit gelangen, kommen wir nicht um die Bearbeitung der misslungen Beziehungen herum.

Vergessen wir schnell, möglichst schnell, alle jene Versuche, ausgerechnet Bert Brecht im Film mit den Mitteln des psychologischen Realismus und der einfühlenden Schauspielerei zu bewältigen. Skepsis auch gegenüber dem, was die Regisseurin Jutta Brückner ein „Dokumentarfilmgedicht“ nennt und was in Wahrheit ein Dokument der versuchten Eingemeindung ist. Dass sich der Schauspieler Peter Buchholz in BERTOLT BRECHT – LIEBE, REVOLUTION UND ANDERE GEFÄHRLICHE SACHEN aus dem Jahr 1998 ins Drehbuch schreiben lassen musste, er schlüpfe „in Brechts Haut, nämlich seinen Ledermantel“ beweist nur einmal mehr, dass filmische und brechtianische Repräsentation in einem Widerspruch zueinander stehen. Zur Haut nämlich wird ein Ledermantel in einem Hollywood-Film; in einem brechtianischen Film würde uns Geschichte und Erwerb eines Ledermantels und sein sozialer Gebrauch interessieren.

I. Die Widersprüche

1. Widerspruch: Das Melodramatische

Einer der berühmteren Film-Sätze: „Das Kino ist und bleibt nun einmal der Bastard des Melodrama“. Das ist schon eine technische Angelegenheit, die äußere Trennung von Pantomime, Text und Musik und ihre anschließende Vereinigung auf das einzige Ziel hin, an die Stelle der Götter für die Erziehung das Schicksal zu setzen (um auf diese Weise die Geschichte aus der Moral zu verbannen), das musste auch dem Kino dienen, zumal der „Fortschritt“ in diesem Medium bis heute nicht viel anderes bedeutet als ein Bürgerlich-Werden. Der Verbindung von Tugend und Terror auf der einen Seite, von Sentenz, Emotion und Musik zu einer vollständigen „moralischen“ Durchdringung der Menschenwelt auf der andern steht über der Arbeit der ersten Künstler des neuen Mediums. (Und paradoxerweise: Es ist das Melodram als „Genre“, was sich, zwischen Douglas Sirk und Rainer Werner Fassbinder als erstes aus dieser Beschränkung löst.) Es ist die Mitte der bürgerlichen Wahrnehmung der Welt und zugleich sein schärfstes ideologisches Geschütz. Auf dem Theater genügt wenig, um das Melodrama zu dekonstruieren – die Grenze dabei ist die Bereitschaft des Publikums und das Bewusstsein der Beteiligten. Im Kino muss das Melodramatische dagegen wie eine semantische Maschine überlistet werden, von der man nie so recht weiß, ob man sie „erobern“, „umbauen“ oder zerstören sollte. (Und ist nicht das „linke Melodrama“ für eine Zeit zu einem fast schon in sich stabilen Genre geworden?)

Die Kamera indes konstruiert ein cineastisches Subjekt, was nicht so ohne weiteres zu cracken ist. Wenn ein Schauspieler „aus der Rolle fällt“, und er tut dies etwa zur Kamera hin, dann wird er eher zu einem konspirativen „Du“, eine andere (melodramatische) Intimität erzeugt sich: da der Bildraum des Kinos im off eine imaginäre Weiterung aufweist und da wir als Zuschauer eher „im Film“ als „vor dem Film“ sind, bedeutet es etwas anderes, den Bühnenraum zu überschreiten als es bedeutet, den Bildraum der Kamera zu überschreiten. Hinter jedem oberflächlichen Effekt der Verfremdung, Distanzierung oder Historisierung erobert sich im Kino das Melodramatische allzu leicht zurück, weil der Raum und die „Sprache“ so flexibel sind und zu mindestens gleichen Teilen von den Absichten der Autoren wie von den Wünschen des Publikums geprägt sind. Das Aus-der-Rolle-Fallen widerspricht, wie auch andere Techniken der Verfremdung, im Filmischen nicht von selbst der melodramatischen Konstruktion der repräsentierten Welt, es muss erst selbst ins Filmische hinein gedacht werden, und das bedeutete nicht weniger als einen „heiligen Pakt“ der Konsumtion zu durchbrechen, in dem für die Übertragung zwischen der Leinwand und dem Zuschauerraum ein emotionales (und ideologisches) Geben und Nehmen geregelt ist.

2. Widerspruch: Das Historische und die Historizität

Zu Bert Brechts großen Ideen gehört das Werk, das in doppelter Weise in der Geschichte steht. Es ist der Mensch, der in der Geschichte steht, der von ihr geprägt ist, und der sie verändern kann, und es ist das Werk, das in der Geschichte steht: Die historische Veränderung ist Wesen und Absicht dieses Werkes – im kritischen Abstand kann man beinahe von so etwas wie einem „Glauben an die Geschichte“ sprechen.

„Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt werden“ (Über experimentelles Theater). So wie das „Epische“ im Kino genau das Gegenteil von dem bedeutet, was es bei Brecht zu sagen hat, so ist auch das Historisieren im Kino die exakte Umkehrung der Verfremdung. Weil das Historische so gegenwärtig erscheint, mag das Gegenwärtige so ewig sein: So konstruiert sich, im Genre und im biopic, Geschichte als Mythos, und das keineswegs nur in den dezidiert „propagandistisch“ darauf angelegten Segmenten der Filmproduktion.

Das freilich gilt auch für die ästhetische Arbeit selber: Brechts Arbeit verändert sich nicht nur, weil es der Autor beständig verändert, sondern weil es bereits als Weg der Selbstveränderung angelegt ist. Das klassische Kino dagegen ist eines der geschlossenen Systeme, es versucht beständig seine eigene Geschichte zu vernichten (übrigens oft ganz buchstäblich, etwa wenn bei der Produktion eines Remakes das Original mit allen Mitteln vom Markt genommen wird), und selbst in unserem, dem Stadium der beliebigen Vermischung und Bearbeitung, ist die audiovisuelle Ware nicht bereit, ihre eigene Historizität preiszugeben (um den Preis einer höchsten Verfalls- und Recyclingquote: Entwertung und Wiederholung erweisen sich als Gefahren, gerade weil das Bild keine Geschichte hat).

3. Widerspruch: Das Mythische

Das Kino, selbst in seinen modernen und seinen aufklärerischen Seitenlinien, steht in den Traditionen des Melodramas, und es steht noch mehr in den noch längeren Schatten des Mythos. Jedes Genre ist um eine bestimmte Mythologie zentriert, die am Ende (auch zum Entzücken der Cineasten) ihre historische Ableitung so weit vergessen hat, dass sie zu einer abstrakten metaphorischen Erzählweise gelangt: Der Western als abstrakter Erzählraum, in dem man Aussagen über alles mögliche treffen kann, das Wesen der menschlichen Natur oder die moralische Verwerflichkeit des Vietnamkrieges betreffend. Das Genre als Maskerade gewinnt möglicherweise subversive Kraft. Allerdings um den Preis der eigenen Historizität. Übrigens hat Friedrich Nietzsche genau so „Wahrheit“ zu seiner Zeit charakterisiert: „Was ist also Wahrheit?“, fragt er, und antwortet einigermaßen scharfsinnig und nihilistisch: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt werden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die ihr Bild verloren haben“. Man könnte auch „Kino“ dazu sagen.

Die mythische Erzählweise des Kinos ist nicht per Dekret und nicht durch seine Technologie allein entstanden. Sie entspricht dem, woraus „historisch“, das Kino geworden ist, nämlich einem zugleich sakralen und höllischen Raum, den man nicht zuletzt aus therapeutischen Gründen betritt. Während ein episches Stück das Problem, mit dem ich ins Kino gegangen bin, zum Experiment verschärft, hebt der audio-visuelle Mythos dieses Problem nicht nur auf, sondern es verbindet mich in seiner Aufhebung mit den anderen Menschen, die auf ähnliche Weise, und mit einer ähnlichen Absicht (halb im total Privaten verborgen, halb in der wärmenden Öffentlichkeit geborgen). Das Kino geht nicht nur (technisch) über das Theater hinaus, es geht ästhetisch auch weit hinter es zurück, zur Höhle (nicht nur der des Sokrates, sondern auch der des Bärenjägers), zum Tempel (für vage und ambivalente Götter) und schließlich zum Museum (in dem das ästhetische Wissen als bürgerlicher Besitz geordnet ist); in den Anfängen des Kinos in den USA wurden in den Einwanderer-Ghettos beständig Räume, zumeist an den Kreuzungen der großen Straßen, umgewidmet (manchmal durch Beschlüsse der lokalen Macht, manchmal durch Druck der moralischen Selbsterlösung – Melodramatik des Alltagslebens – und manchmal durch die Macht der Wünsche): Aus der Schnaps-Destille wurde das Kino, aus dem Kino wurde die Kirche, aus der Kirche die Schnaps-Destille und so weiter. Und jedes lebte dialektisch im anderen weiter, in der sozialen Praxis wie in der Zeichenwelt. Die Filmgeschichte ist nur ein Teil der Kinogeschichte, und die Mythische Erzählweise als Leitlinie der Entwicklung ist nur zum Teil durch die Geschichte der Filme bestimmt (und zu erklären).

Der Mythos als Erzählweise (das entzeitlichte Erzählen, das enträumlichte Bild) wurde indes nie allein durch die politische Ökonomie und durch die Triebstruktur des Publikums bestimmt; sie wurde immer auch geschätzt als zwar limitierte aber doch „offene“ Erzählung. Die Geschichte des Filmischen wird paradoxerweise durch die Entgeschichtlichung seiner Erzählweisen motorisiert. Und so gibt es gegen die Aufklärung und Selbstaufklärung des Mediums nicht nur eine rechte Opposition (Kritik entweder als Zerstörung der erhabenen Schönheit, oder Kritik als Auflösung der ästhetisch-moralischen Hierarchie: Bildung wie Trash, und Trash wie Bildung zu behandeln, das ist eines der ersten Handwerkszeuge der Anti-Konsens-Kritik), es gibt durchaus auch eine linke Opposition (einmal will man das Kino, so wie es ist, zu linken Zielen umfunktionieren, und dabei ist es besser, nicht allzu tief in die Maschinerie seines Funktionierens zu sehen, und zum anderen will man dem Kino nicht seine Kraft zu einer „Subversion“ rauben, die nur funktionieren kann, wenn es sowohl im Bildraum als auch im Zuschauerraum Platz für Schmuggelware gibt: Und wird nicht immer das Licht der Aufklärung von den Agenten der Macht benutzt?).

Wir sehen also: Es sind sehr denkwürdige Allianzen, die der Aufklärung des Kinos und der Geste zur Realität (nicht sprechen wir von: Abbildung, Darstellung, Einfühlung) widersprechen.

4. Widerspruch: Das Genre

Das Kino entwickelte sich seit seiner Konsolidierung in der Zeit des amerikanischen Oligopols und der Konzentration in Europa (die faschistische Massenproduktion in Deutschland tat zur Kanonisierung von Formen und Stoffen weiß der Kuckuck das ihre) in „Genres“. Film-Genres unterscheiden sich von den Gattungen; es sind keine normativen Vorgaben, sondern Erwartungen zwischen Produktion und Publikum, die erfüllt werden wollen, auf einem Markt, der alles Mögliche, aber gewiss nicht „frei“ war (und ist).

Das Genre ist nicht nur eine formale und mythische, sondern auch eine moralische Textur, auf der Verantwortung ebenso wie Au­torenschaft von der Produktion auf den Konsum verlagert wird (und dies nicht obwohl, sondern weil die Produktion von Genrefilmen in besonderer Weise maschinell, das heißt auch ohne Bewusstsein ge­schieht: der Markt kann hier und dort durchaus ein wenig manipuliert wer­den. Anders gesagt: Das Genre entspricht zwar dem Bedürfnis des Publikums, aber der Markt wird bei seiner Entstehung und Konsolidierung von der Anbieterseite dominiert. Er kann monopolistisch beherrscht sein, seine ökonomische und politische Struktur mag die Produktion ganzer Bildwelten behindern oder un­möglich machen oder umgekehrt be­stimmte Bilder nur in be­stimmtem Kontext, gleichsam zusammen mit einer Deutung, zulassen, er mag andere Bilder und Töne zwanghaft wiederholen, damit die Maschinerie ausgelastet ist, aber niemals ist er vollständig zu be­rechnen. Wenn das Genre also eine Versicherung und Vergewisserung auf Gegenseitigkeit ist (man weiß, was man bekommt, wenn man einen Western, eine Komödie, ein Melodram oder einen Gangsterfilm wählt), so ist es doch auch das Gegenteil eines Dialogs. Im Genre also sind Wünsche und Bannungen, Moral und Furcht, Bildersucht und Bilderflucht in einer kollektiven gesellschaftlichen Form aufgehoben, die den Institutionen der „bürgerlichen“ Kultur stets ein wenig suspekt bleiben müssen (warum der „Autor“ auch mehr zu gelten, kulturell wertvoller zu sein hat als das Genre). Darin verborgen ist eine Möglichkeit zur politischen und sexuellen Subversion, ja zur Anarchie, denn was im Genrekino geschieht, ist nie vollständig mit den Mitteln dieser Kultur zu beschreiben; die Mythenwelten dieses Kinos gehört zu den Segmenten der Kultur, die zurück in die „Barbarei“ reichen, in eine Welt der Gefühle, der Wünsche und Leidenschaften, der Un-Vernunft auch, in ein Ausdrucksweise, die nicht danach drängt, Sprache und Schrift zu werden, sondern immer mehr Bild (sprechendes Bild des Mythos, meinethalben).

Das Genre-Kino ist also so etwas wie eine kontrollierte Entrationalisierung; es produziert statt einer bürgerlichen aber auch statt einer aufklärerischen Erzählweise jene mythische Erzählweise, wie diese, umgekehrt, das Genre für seine populäre Realisierung benötigt. Diese ist durchaus ambivalent, denn das Genre dient durchaus in beiden Richtungen als „Maske“, und in Genre-Filmen steckt ein enormes Potential an „Schmuggelware“ oder an ästhetischem Experiment. Träger des Schmuggelgutes freilich können nur drei Elemente sein
1. Die Mythologie des Genres selber, gebildet aus einem Kanon der Erzählungen und der Ikonographie, Gründungslegende und Verhaltensmodell, das stets über das Historische hinaus (oder darunter) greift,

2. Die Vorherrschaft des Gefühls (einen Film versteht man weniger als das man ihn „glaubt“, und im Genre ist, im Gegensatz zu den Ansätzen von Eisenstein oder Vertov, der Schnitt, die Kamerabewegung, die Beziehung zwischen text und Bild, Bildraum und off am Leitfaden der Empfindung organisiert

3. Der Star. Er ist weder der Schauspieler-Genius des bürgerlichen Theaters noch der Techniker der Distanzierung, wie bei Brecht. Er ist ein filmisches Subjekt, durch dessen Augen und für dessen Begierde wir nicht nur das Geschehen auf der Leinwand, sondern unser ganzes Leben sehen. Die Assoziation zum himmlischen und religiösen ist dabei durchaus keine Übertreibung. Der Star wie die Diva transponiert die Wünsche in einen transzendentalen Raum (ein Kino hinter dem Kino).

So steht das Genre, obschon es nicht per se „propagandistisch“ ist, eher in einem allgemeinen Sinn der Erhaltung des Status quo dienen mag, gegen Brechts einfache Forderungen von 1930: „Im Zuschauer soll nicht an das Gefühl appelliert werden, das ihm erlauben würde, sich ästhetisch abzureagieren, sondern an seine Ratio. Die Schauspieler müssen dem Zuschauer Figuren und Vorgänge entfremden, so dass sie ihm auffallen. Der Zuschauer muss Partei ergreifen statt sich zu identifizieren.“ Für das Genre-Kino aber ist es geradezu Voraussetzung, sich zu identifizieren, um Partei zu ergreifen. Man muss sich bedroht fühlen, um sich zur Gegenwehr zu entscheiden, man muss Verwirrung empfinden, um Rationalisierung als Lösung zu erhoffen etc.

Das Genre ist eine Strategie zur Erzeugung einer geschlossenen Simulationswelt; einige wenige Voraussetzungen (ein Cowboy kann mit seinem Colt, entgegen jedem historischen und technologischen Wissen, den Zügel seines berittenen Gegenübers aus zehn Metern Entfernung durchschießen) genügen, um alle Elemente und Momente in diesem System auf ein gemeinsames Erzählziel auszurichten; und gewisse Schlüsselbilder des Genres machen gleichsam automatisch aus den Bilder, die zu den Schlüsselbildern führen (Bildern der Erhabenheit, Bildern der Wunscherfüllung: das weite Meer und das weiße windgeblähte Segel im Piratenfilm) Bildern des Selbstverständlichen und Vertrauten. Die Sensation des Genres setzt sich aus Vertrautem zusammen, und es produziert Vertrautes als willkommenen Nebeneffekt des dramaturgischen Genusses.

Nicht viel anders verhält es sich mit dem Gebot der Historisierung. Wenn Brecht fordert, das historische Geschehen aus dem Wissen der darauf folgenden Epoche zu kritisieren, so verhält sich die mythische Erzählung des Genre-Kinos gerade umgekehrt: Sie erklärt unser Wissen aus dem Gründer-Geschehen der Vergangenheit. Deshalb ist der Kapitalismus, zum Beispiel, „verständlich“ (und mehr oder weniger unkritisierbar) aus dem Pioniergeschehen zwischen Natur und Technologie, Ökonomie und Metaphysik, wie wir sie aus einem Western kennen.

5. Widerspruch: Der psychologische Realismus

Was neben dem Genre-Kino und seinen Metamorphosen bis zum Blockbuster der Gegenwart existiert ist der psychologische Realismus der Leinwand. Er will offensichtlich in seinen Grenzen das Leben wiedergeben wie es ist. Er besagt zunächst nicht viel mehr als dass sich eine Person auf der Leinwand so verhält wie sich unseren Erfahrungen nach eine Person auch im wirklichen Leben verhalten würde. Ein plot auf der Leinwand ist demnach ein Ausschnitt aus einer vollständigen Biographie (und Schauspieler, die nach der method sich in eine Figur versenken, eignen sich in der Regel auch jene Aspekte dieser imaginären Vita an, von denen nachher gar nichts auf der Leinwand zu sehen ist), und der plot ist zugleich eine Abbildung der Geschichte. So haben wir nicht den Menschen, der in die Geschichte eingreift, sondern einen Menschen, der in die Privatsphäre und das historische Gleichnis zerfällt.

Mit anderen Worten: Der psychologische Realismus und die mythische „Historizität“ (das Prinzip der Wiederkehr der gleichen Konflikte in unendlich vielen Masken) ergeben im Mainstream der Kino-Erzählung eine duale (keine dialektische) Einheit. Unser Held im Kino ist dreierlei: Die stete Wiederkehr des „Helden mit den tausend Gesichtern“, die Erfüllung unserer Vorstellung vom „richtigen“ Menschen, der auf bestimmte Situationen mit Akten von Kommunikation und Handlung reagiert, wie wir es auch gerne täten, und schließlich das Geschehen in einem Subjekt, das die historische Begründung der Gegenwart in die Metaphysik ewiger Richtigkeit erhebt. (Wenn wir dieses Modell einer Kino-Figur für einigermaßen töricht empfinden, dann müssen wir nur für den Augenblick darüber nachdenken, wann wir zum letzten mal einer Filmfigur begegneten, die anders funktionierte und dabei zu erinnern, wie schwer das auszuhalten war.) Anders gesagt: dem technisch reproduzierten, „vollständigen“ Bild der Welt auf der Leinwand begegnen wir, indem wir eine Einheit des Realen, des Symbolischen und des Fiktionalen annehmen. Was dagegen verstößt ist entweder „Fehler“ oder „Avantgarde“.

An solcher Semiologie scheitern immer auch Regisseure, die sich ganz bewusst auf Brecht beziehen, Dieterle oder Mankiewicz, um zwei sehr unterschiedliche anzuführen. Nennen wir einige Merkmale dafür:

Der Bildraum wird durch eine Aufnahme-Maschine bestimmt (die sich im Verlauf der Kino-Geschichte vervielfältigen wird), die zwischen einer Darstellung und einer Erkenntnis eine höchst ambivalente Stellung einnimmt. Wenn man so will ist eine Kamera ein technischer V-Effekt, der als höchstes Ziel das eigene Verschwinden hat. Tatsächlich erscheint – und gewiss nicht zu unrecht tut sie dies – diese Maschine zwischen mir und der Welt der Bilder, als so faszinierend wie furchteinflößend. Die Kinofabrik arbeitet mit dieser Gleichzeitigkeit von Angst und Lust; diese Kamera freilich produziert gleich weitere Instanzen, die, das sie in der Regel unsichtbar sind,

Das Kinobild ist im Fluss. Es springt uns an und entzieht sich zugleich. Deswegen ist es wesentlich geeigneter, Furcht, Mitleid und Begehren zu erzeugen als, wie es in Brechts Forderungen heißt „Wissbegierde“ und „Hilfsbereitschaft“: So „real“ und „vollständig“ eine Kino-Figur ist, so wenig kann man etwas von ihr wissen, was sie nicht zeigt, und so wenig ist ihr zu helfen. Es ist die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz, aus der unsere Haltung zu einer Figur konstruiert wird: Die Einstellung (der Kamera) ist die Einstellung (des Films, des Zuschauers); dieser Prozess ist so leicht nicht zu durchbrechen.

Der Mensch auf der Leinwand ist nur zu verstehen, weil er sich als perfekte Imitation einer „psychologischen Einheit“ bewegt. Nein, er ist stets wirklicher als die Wirklichkeit: Bei ihm ist das System von Handeln und von Kommunikation so identisch wie das System von Bewusstsein und Sprache.

So scheint es gleichsam ein eingebautes Tabu des Kinos, die Macht der Kamera als Ausdruck eines weiten Systems von Macht zu erkennen. Das hergestellte Bild als möglichst perfekte Simulation der Wirklichkeit will den Prozess seiner Herstellung nicht nur deswegen verleugnen, um die Illusion nicht zu zerstören, sondern auch, um unsere Angst nicht zu evozieren. (Müsste uns im modernen Blockbuster-Kino nicht einfach schon das eingesetzte Kapital verängstigen, das uns so offensichtlich zu einem teil des Kreislaufes macht? Das Publikum muss „mitspielen“, das heißt erst einmal, es muss eine imaginäre Rolle – als Begleiter des Helden oder als mehr oder weniger wollüstiger Zeuge – einnehmen, und das heißt zum zweiten, es muss seine Rolle im Verwertungskreislauf mitspielen und zum dritten bedeutet „Mitspielen“ in diesem Zusammenhang „ohne Bewusstsein“ teilzunehmen (zu „verschmelzen“). Die Metapher der Verwertung spielt eine umso größere Rolle in unserem „Genuss“ des Films, als der ökonomische und technologische Aufwand ins Absurde steigt. So sind wir nicht nur Teil der Illusion, sondern beinahe mehr noch auch Teil der Illusionsmaschine. (Die Maschine Kino bearbeitet uns nicht nur, sie überträgt uns auch das Gefühl, sie zu besitzen.) Und in diesem Augenblick begreifen wir, was eine Störung dieser Inszenierung des Publikums zur Folge haben könnte.

Sowohl das Genre als Mythologie als auch der psychologische Realismus als Lebensmodell sind geschlossene Systeme. Man empfindet sich als Zuschauer nicht als ein Gegenüber in einem Kommunikationsprozess, sondern als Teil dieses Systems. Man wird ein Bewohner eines Bildraumes, und die Semiotik der Kamera ist nichts anderes als ein Vorgang, uns in „verwandtschaftliche“ Beziehung zu den Leinwandmenschen zu setzen. Anders als bei einem Theaterstück, das einem zwar fremd bleiben mag, aber als Provokation durchaus gegenwärtig, besagt ein Empfinden wie „ich bin in den Film nicht hineingekommen“ das Todesurteil der cineastischen Kommunikation.

Nun wäre es eine kühne Behauptung es einfach als gegeben hinzunehmen: Das Publikum im Kino sucht die Illusion und nicht das Bild. Auch wenn dies zunächst der alltäglichen Erfahrung so sehr zu entsprechen vermag wie der Kulturgeschichte des Kinos. Das Illusionskino als Leitbild der Film-Entwicklung, immerhin, können wir aus seiner Geschichte, seiner Sprache, seiner Funktion und nicht zuletzt aus seinem Genuss erklären, und aus alledem, umgekehrt, etwas von der Hysterie, mit der Alternativen zu diesem Konzept bedacht werden. Noch entscheidender allerdings dürfte die Fähigkeit dieses geschlossenen/offenen Systems sein, Vorschläge von „außen“ zu integrieren.

Für die Verfremdungseffekte sind im Kino in der Regel (und wieder nur als Beispiel gedacht) die Komiker zuständig. Das macht sie einerseits zu den Rebellen des Kinos. Aber andererseits verbannt und bewertet es auch eine Reihe von jenen Techniken der Illusionszerstörung, die das Kino gegen seine eigenen Techniken und Sprechweisen bereit hat. Nur wenigen Regisseuren gelingt es, V-Effekte zu benutzen, ohne in die Falle einer wiederum genrehaften Parodie zu gehen. Selbst wenn etwa Mrinal Sen in seinen Filmen über den britischen Kolonialismus in Indien so dezidiert V-Effekte einsetzt, die direkt vom epischen Theater herzustammen scheinen, reagiert das europäische Bildungspublikum darauf wie auf die tägliche Karikatur in seiner Lieblingszeitung.

Das bürgerliche Publikum, und was den Mainstream anbelangt handelt es sich im Kino um ein bürgerliches Publikum, verlangt geradezu vom Kino die Überzeitlichkeit und die ewige Wiederkehr des Gleichen. Es ist ein Stabilitätsfaktor im Alltag, das im Fernsehkonsum schließlich den Rest des Festlichen und Außergewöhnlichen verliert. Das Genre, die Serie, Sequel und Remake sind die Stützen der Produktion, die sich in der Regel oligopolistisch entwickelt. Auch Kino als Kunst bezieht sich auf dieses Publikum.

II. Schein-Verwandtschaften

Brecht war, nach einem zu Tode zitierten Spruch, „nicht pingelig in Fragen des geistigen Eigentums“. Das ist bei ihm vor allem eine Sache der Geschichte; er greift ein in den Fluss der Aussagen, um ihn zu verändern. Auch im Kino ist niemand pingelig in Fragen des geistigen Eigentums. Im Paradigmatischen (wie in der Musik oder in der Set Decoration) ist da hemmungslose – vornehm gesagt: – Zitieren stets state of the art. Im Genre-Kino ist es allerdings wiederum vor allem ein un-historisches Vorgehen: Ein Western, zum Beispiel, wird in seinen Elementen vor allem deswegen verständlich, weil sie bereits in anderen Western vorhanden sind. Das Zitieren wird im ironisch, bei Godard vielleicht auch im kritischen Sinne ein Eingreifen in den Fluss der Zeichen, wenn es als solches bewusst wird. „Decodieren“ also wird zum bedeutenden Teil des Spiels „Kino“; doch ist Decodieren noch kein Keim für Bewusstsein, im Gegenteil, es definiert vielmehr cineastische Parallelwelten (wie STAR WARS, THE MATRIX oder „Fellini“), in denen Zitat und Selbstzitat vielmehr gerade wieder „Einfühlung“, nämlich in Form der Zugehörigkeit erzeugen. Das Eingreifen in den Fluss der Bilder erzeugt statt der kreativen Störung den nominalen Kult, der Subtext einer Filmwelt daher nichts anderes als der Mehrwert eines Rätselspiels, komplett mit Erfolgserlebnis und Gemeinschaftsgefühl. Ich weiß im Kino; aber es kommt darauf an, was wir wissen. (Weshalb man manchmal, aber das nur nebenbei, nicht der Vernebelung, sondern der Präzision willen bei der Beschreibung audiovisueller Vorgänge ins – zugegeben imaginäre – „Wir“ wechseln mag.)

Brecht war ein Team-Arbeiter, in seinen Arbeiten stecken immer mehr Autoren als einer. Auch das ist eine dem Film, im Gegensatz zu den traditionellen bürgerlichen Künsten eingeschriebenes Produktionsprinzip. Film ist eine zusammengesetzte und eine kollektiv erzeugte Form des Ausdrucks. Das hat zunächst mit der Geschichte des Mediums zu tun. Es steht aber auch im Zeichen einer besonderen Semiotik. Das „historisierte“ Kunstwerk ist zusammengesetzt in der Zeit, das industrielle Produkt Film ist im Raum zusammengesetzt.

Paradoxerweise scheint sich das Kino – und mehr noch die anderen audiovisuellen Medien – um so mehr von Brechts Programm der ästhetischen Aufklärung zu entfernen, je mehr sie seine Methoden akzeptieren.

Die Historisierung scheint zunächst auch eine Voraussetzung für das Funktionieren einer Kino-Fabel. Aber während sie bei Brecht zu einer „Kritik vom Standpunkt der jeweilig darauffolgenden Epoche“ dient, ist sie im traditionellen Filmerzählen wie ein „Verständnis vom Standpunkt der Gegenwart“. In eher schlichten Filmen verhalten sich Kino-Figuren in jeder beliebigen Epoche der Geschichte wie Menschen sich in der Gegenwart des Publikums verhalten (manchmal haben sie sogar die gleichen Frisuren); in den komplexeren Filmen versucht man eine Epoche zu „rekonstruieren“ (bis hin zu Stanley Kubricks Unternehmen, in BARRY LYNDON nur die Lichtquellen zu verwenden, die es im achtzehnten Jahrhundert gab). Aber selbst eine Gegenwartsgeschichte wird in der Regel darauf hin konzipiert, sozusagen aus einer historischen Folge (nach dem happy ending zum Beispiel) verstanden zu werden. Entscheidend aber ist in beiden Fällen eine Art von Illusion des „Dabeiseins“. Noch immer ist „Nähe“ zum Dargestellten und gar „atmosphärische Dichte“ höchstes Kritikerlob, und das bedeutet nichts anderes als die Erzeugung der Illusion einer Unmittelbarkeit, die dem distanzierenden „Erinnern“ entgegen gesetzt ist, und das ein ästhetisches System erzeugt wurde, das alle „Störungen“ und eben „Verfremdungen“ abwehrt. Im schrecklichsten Fall entspricht das Kino einer technisch reproduzierten Variante der bürgerlich-faschistischen Vision vom „Gesamtkunstwerk“.

Ein Kino mag sich also bereits als „brechtianisch“ verstehen, das die Geschlossenheit dieses Systems nicht akzeptiert, und das seine verlorene Historizität einfordert, und schließlich: den paradigmatischen und den syntagmatischen Elementen ihre Selbstverständlichkeit nimmt, sowie anstelle von Angst, Begehren und Mitleid Wissbegier und Hilfsbereitschaft setzt. Beides eben das, was ich, anders als das gewohnte, aus dem Bildraum des Kinos mit in den sozialen Raum nehmen kann, in dem selbst die „kinematographische Illusion“ sich mit der politischen und ökonomischen Herrschaft verbunden hat.

III. Ästhetische Arbeit und Utopie

Das Kino denken/Brecht denken. Das ist zunächst nicht anders als durch ein Projekt der Selbstaufklärung der Bilderfabrik – oder wenigstens in ihr zu haben. Da ist zunächst eine politische Ökonomie, die offensichtlich in unserer Gegenwart einen neuen Zustand der Globalisierung erlangt. Freilich: So wie sich das Kino seinen Mythenraum selbst noch in der Kritik schützt, so schützt es auch seinen Produktionsraum noch in der Kritik. Kann es, nur zum Beispiel, eine politische Ökonomie des deutschen Films geben, ohne dass dieser Produktionsraum sich in Frage gestellt sehen könnte?

Die zweite Voraussetzung ist die Wiedergewinnung der Geschichtlichkeit. Das Kino freilich ist radikaler als alle andere Künste zerfallen in die pure Gegenwärtigkeit und in die Nostalgie. Die Pop-Kultur ist eine kulturelle Sprechweise, die möglicherweise durchaus subversiv, in gewisser Weise gar verschwörerisch sein kann. Doch ihr Produzieren ist in immer neuen Sampling-Verfahren zu einem Enthistorisierungsprozess geworden: Nicht die Nutzanweisung, nicht einmal die „Schmuggelware“, sondern das Model der Simulation wird verbreitet.

„Damit aus etwas Bekanntem etwas Erkanntes werden kann“, schreibt Brecht in der „Neuen Technik der Schauspielkunst“, „muss es aus seiner Unauffälligkeit herauskommen; es muss mit der Gewohnheit gebrochen werden, das betreffende Ding bedürfe keiner Erläuterung“. Ganz entsprechend scheint die Ästhetik des Genrefilms und sein Derivat im aktuellen Blockbuster organisiert: Es geht am wenigsten um das Zeigen und das Sichtbarmachen, vielmehr schwärmte man in Hollywood vom „unsichtbaren Schnitt“ (ein Schnitt also, der so sehr die Wahrnehmung eines Menschen „imitiert“, dass man ihn als solchen nicht wahrnimmt), von der unhörbaren Musik (eine Musik, die so auf das entsprechende Gefühl abgestimmt ist, dass man sie nicht mehr als Kommentar sondern nur als Verstärkung des Empfindens wahrnimmt), und noch heute ist eine nicht vor der Kamera sondern im Computer erzeugte Wirkung nur so kassenträchtig als sie ihre Herkunft vergessen lassen kann.

Eine Aufklärung des Kinos beginnt also damit, die Unauffälligkeit der Zutaten zu durchbrechen, alles sichtbar, hörbar und denkbar zu machen, woraus der Film zusammengesetzt ist (übrigens das Bild für alles „neue“ im Pop). Das geschieht bemerkenswerterweise in zwei scheinbar sehr unterschiedlichen Segmenten des Kinos, im Bereich der C- und Trash-Produktion (aus technologischem Mangel, unter anderem) und im Bereich der Avantgarde.

Erst im postmodernen Film öffnet sich der cineastische Raum, das Selbstverständliche verschwindet. Selbst ein Genre kann sich, in der allgemeinen Vorstellung wird das dann gerne als „manieristisch“ bezeichnet, dazu bekennen, jedes Ding einer Erläuterung zu unterziehen, wie es etwa der Italowestern in seinen besseren Beispielen tat (dessen sich ja durchaus Brechtianer wie Giulio Questi bedienten, so wie sich Joseph L. Mankiewicz in den USA des „Spätwestern“ bediente: Näher als in der Parabel THERE WAS A CROOKED MAN kann man einem Brechtschen Stück kaum kommen

Die Karten freilich werden im Augenblick neu gemischt. Nicht nur ist jede neuerliche Krise des Mediums ein Einfallstor der Kritik, die sich zumindest ohne einen Schlenker zur politischen Ökonomie nicht mehr verständlich machen kann. Vielmehr führt jede dieser Krisen auch zu einer technologischen und semantischen Neuerfindung des Kinos. Längst sind die Vertriebskanäle erheblich aufgesplittert. Spätestens mit der Zweit-Auswertung auf DVD ist der Film nicht mehr auf eine starre Form der Wiedergabe angewiesen, ein Eingreifen des Benutzers in die „Oberfläche“ der Bewegungsbilder ist leicht zu bewerkstelligen, und technisch ist ein „interaktives“ Kino so wenig problematisch wie ein Kino der Optionen, das mit alternativen „Vorschlägen“ zu arbeiten verstünde.

Das Blockbuster-Kino am Beginn des neuen Jahrtausends ist mit dem Simulationskino von einst nur noch sehr bedingt zu vergleichen. Empfindung und Subjekt haben nicht mehr die gleiche Funktion, und schließlich ist auch die Aufnahmemaschine nicht mehr das autonome „magische“ Instanz; die virtual cinematography befreit den Film von einer Semantik, die parallel zur Entwicklung von Technologie, Ökonomie und gewiss auch Ideologie entwickelt wurde und sich

Daher darf getrost der Diskurs noch einmal begonnen werden. Um das Kino zu verändern, das freilich auch in einem Zustand des Zerfalls bestimmt ist. Das Illusionskino selber ist offensichtlich so sehr in einer Krise wie die figurative Malerei im neunzehnten Jahrhundert. Es zerfällt in Formen des Manierismus, der (Effekt-) Verfremdung und der Retheatralisierung. In dieser Richtung reichen die scheinbar so unterschiedlichen Versuche von Lars von Trier, Christoph Schlingensief oder Harald Schmidt, die alle auf die eine oder andere Weise mit Brecht in Verbindung gebracht worden sind; alle diese medialen Weiterungen führen zu einer Reduktion der technischen Mittel, die eine neue Form des medialen Meta-Theaters ermöglichen. Weder ist „Identifizierung“ dabei das angestrebte Ziel noch ist der Bildraum geschlossen: Das Aus-der-Rolle-Fallen ist gleichsam das Inszenierungsprinzip selber geworden. Bei Lars von Trier (in DOGVILLE) verschwinden die konventionalisierenden Objekte, die Imitation der Objektwelt, in der eine Teetasse durch eine Teetasse und ein Mensch durch einen Star dargestellt werden; bei Schlingensief durchdringen Darstellung und Alltag einander, und Harald Schmidt macht, ganz und gar brechtianisch, noch das Selbstverständlichste zum Thema. In allen dreien neuen Dramaturgien wird das Gebot Brechts befolgt, der Schauspieler (den wir nun allerdings mit einem noch nicht gefundenen, allgemeineren Begriff des medialen Präsentanten – statt eines „Repräsentanten“ – belegen müssten) müsse zugleich eine Sache zeigen und sich zeigen. Indem ihnen die Selbstverständlichkeit der Konvention genommen ist, werden die Dinge (die Worte, die Personen, die Masken) oft „erbarmungslos“, wie man so sagt, zum Selbstausdruck gezwungen.

Freilich dreht sich nun auch die Bewegungsrichtung des Prozesses um, und es ist, anders als im Kontext einer marxistisch bestimmten Aufklärung, nicht mehr ausgemacht, dass sie vollständig zu kontrollieren sind. So wie der „Präsentant“, während er spielt, zeigt, dass er spielt, offenbart der Adressat, der selber als Präsentant angesprochen wird, dass er auch spielt, während er sich zeigt.

Damit erst entwickelt sich eine neue Form der Teilhabe, des „Mitspielens“ durch das Publikum, das nicht allein durch seine Triebstruktur und durch den Markt bestimmt ist, sondern durch wenn auch noch so rudimentäre Formen von „Denken“ und „Arbeit“. Alltag und Medien, die an die Stelle der Geschichte getreten scheinen, müssen ihre individuelle und kollektive Historizität wieder gewinnen.

Der Zerfall des Illusionskinos, parallel zur Auflösung des Melodramatischen im Format der Soap Opera, bietet ein Einfallstor, keineswegs eine Garantie für die Chancen eines Neo-Brechtianismus in etwas, das man nun wohl soziale statt ästhetische Inszenierung charakterisieren müsste. Während im Melodrama (der verbürgerlichten und säkularisierten Form der Tragödie) das Schicksal waltet, geht die Soap Opera (die postbürgerliche und erneut säkularisierte Form des Melodrams) vom Prinzip der Belehrung aus. Wir sehen Menschen zu, die unentwegt damit beschäftigt sind, einander zu erziehen, und mehr als ihr Medium ist die Erzählweise der Soap Opera der „Manufaktur des Konsenses“ à la Chomsky verpflichtet. Nicht also vor die Soap Opera zurück zu gelangen, um die alten Maßstäbe für die Abbildung zu rekonstruieren, zur Erhabenheit der Tragödie etwa, kann das Ziel sein, sondern die Prinzipien von Soap Opera (und ihrer Parallelveranstaltung Comedy) auf sich selbst (und gegen sich selbst) anzuwenden. Die Belehrung in der sozialen Installation, die reale, fiktive und symbolische Elemente miteinander verbindet, muss sich, nach den vorherigen Instanzen – dem Göttlichen, dem Schicksalshaft-Moralischen und schließlich dem sozialverträglichen Konsens – noch einmal.

Natürlich könnte man sagen: Mit einer solchen Transformation ist man erst, nein, vielleicht noch nicht einmal wieder da, wo Brechts Theater schon lange vorher war. Aber es ist der soziale Ort, es ist ein widerständiger Ort durchaus im Mainstream, in dem solche Dialektik gelingen kann: von Trier, Schlingensief oder Schmidt, um bei den Beispielen zu bleiben, inszenieren weder Verweigerung noch Kompromiss; dort, wo es ihnen gelingt, nicht als bloße Parodie (als „Ventil“ für den medialen Überdruck) benutzt zu werden, offenbaren sie den Gehalt von Inszenierung und „Maschine“ in dem Medium, das uns als „eigentliche“ Wirklichkeit erscheint.

Wie aber ist von hier aus die Geschichte in der Präsentation (und gegen die Repräsentation) wieder zu gewinnen? Lassen Sie uns daran arbeiten.

Georg Seeßlen