Die Geschichte des Kinos wimmelt von animalischen Fantasien. Was fasziniert die Menschen an Lassie, Fury oder King Kong bis heute?

Warum eigentlich sind Tierfilme so populär? Warum sind über die Jahrzehnte derart viele Regisseure auf den Hund, auf Affen, Pferde, Delfine oder Vögel gekommen, dass jetzt in Wien selbst eine große Retrospektive nur einen Bruchteil dieser Erzählungen zeigen kann? Die Frage ist schon deshalb interessant, weil fast alle Tieraufnahmen etwas Unheimliches an sich haben. Meist erscheinen die Tierbilder als gestohlen, erbeutet, gewaltsam, vor allem dann, wenn sie eine „Freundschaft“ zum Menschen inszenieren, wo es doch nur um Unterwerfung oder Korruption geht. Daher sind Filme, die einen Krieg zwischen Menschen und Tieren beschreiben, immer die ehrlicheren. Der ehrlichste Tierfilm wäre jener, bei dem das Tier den Kameramann frisst.

Einst gehörte die Welt den Tieren, und zwar sehr großen Tieren. Und eines Tages, so viel scheint festzustehen, wird sie auch wieder den Tieren gehören, und zwar ziemlich kleinen, den Insekten, den Spinnen, Kakerlaken und Ameisen, deren neue Regentschaft sich in Filmen wie Phase IV abzeichnet. Dazwischen liegt eine lange Geschichte von Jagd, Kampf und Unterwerfung. Wirklich friedlich, das heißt ohne Qualen, Ausbeutung und Entfremdung, war das Zusammenleben zwischen Menschen und Tieren eher selten. Religion, Mythos, Märchen und dann eben der Film mussten es richten. Filme, die von der Sehnsucht nach dem Tier als Freund und Beschützer handeln, von Lassie, Fury und Flipper, Filme, die vom schlechten Gewissen der Menschen gegenüber dem Tier handeln, das er ausbeutet, misshandelt, ausrottet wie der wahnsinnige Büffeljäger in Richard Brooks’ The Last Hunt, Filme, die von einer späten, erwachsenen Versöhnung träumen, für die es, zum Beispiel, einen Pferdeflüsterer braucht, Filme, die vom Scheitern dieser Versöhnung handeln, wie Werner Herzogs Grizzly Man.

Skandalös genug, aber aus den Urgründen des Mythos nicht wegzudenken: Die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Tier ist immer auch eine sexuelle. Natürlich nicht immer in solch direkter Art wie in Equus, Sidney Lumets Verfilmung des Theaterstücks von Peter Schaffer, wo sich das enttäuschte Begehren in symbolischer Gewalt gegen das Tier entlädt. Und nicht immer in solchen Märchentiefen wie in Jean Cocteaus 1946 gedrehtem Film La Belle et la Bête, wo die Tierverwandlungen Strafe und Ausweg zugleich sind, für ein unmögliches Verlangen. Und gewiss nicht immer so, nun ja, unschuldig wie auf dem ewigen Ponyhof unserer populären Kultur.

Das Tier als Bild für die „Anima“ des Menschen

Natürlich ist gerade wegen solcher prekärer semantischer und mythischer Verhältnisse die Beziehung von Tier und Film außerordentlich spannend. Jede Tieraufnahme enthält eine Naturphilosophie, eine Kulturtheorie und eine Kolonialgeschichte. Deswegen, unter anderem, konnte ein Tierfilm – Serengeti darf nicht sterben – von Vater und Sohn Grzimek zu einem Schlüsselerlebnis für die postfaschistische bundesdeutsche Familie werden, gefolgt von der Disney-Produktion, die hierzulande unter dem Titel Die Wüste lebt herauskam. So nun eben sah zivilisierte Unterwerfung aus. Die Geschichte von Tier und Film ließe sich schreiben als Abfolge von Versuchen, die heillose Entfremdung wenn nicht zu überwinden, so wenigstens zu fassen.

Für viele Kinder beginnt die Traum- und Filmsozialisation mit zwei Arten von Tieren: den Fabel-Tieren in Animationsfilmen, reich an Metaphern und Identitäten und von Dumbo über König der Löwen bis zu Ice Age voll von Lebensmodellen und Sozialstrategien. Und dann mit den besten Freunden in einer Welt, die so langsam ihre Tücken zeigt, in Pferde- und Hundegeschichten zwischen Lassie und der Familie namens Beethoven. Schon immer war es eine sanfte Hoffnung, dass ein Tier die Lücke füllen könnte, die abwesende Menschen hinterlassen haben. Sie sind Trauerhilfen, und nicht für fehlende Menschen allein, sondern gar für fehlende Menschlichkeit. Für geraubte Seelen.

Interessanter als die Frage, ob Tiere eine Seele „haben“, ist dabei, ob sie eine Seele „sind“. So, wie der Beagle in Vittorio De Sicas Film Umberto D. von 1952 vielleicht der „beste Freund“ des Helden, der ihn vor dem Tod rettet oder am Ende mit ihm sterben wird, oder doch seine „Anima“ ist. Was man im Übrigen auch von einem anderen berühmten Beagle, von Snoopy sagen kann, weniger tragisch natürlich: Sehr wahrscheinlich ist Snoopy die wilde Seele der Peanuts, die allesamt zu einem neurotischen, traumlosen Mittelstandsleben verdammt sind, jedenfalls wenn sie ihre Seele verlieren. Und sehr wahrscheinlich war auch in John Camerons 1969 gedrehtem Film Kes für den 14-jährigen einsamen und aufsässigen Billy der Falke, den er fand und aufzog, eine Seele. Auch sie muss sterben, damit einer wie Billy so wird wie seine Umwelt. Seelenlos.

Der Reiz der biologischen Frechheit

Wenn das Tier aus dem Kinderkontext in die Welt der Erwachsenen wandert, handelt es sich entweder um bewusste, leicht tranige Regression, wie in der deutschen TV-Serie Kommissar Rex – oder aber ein heillos komisches, deutlich interessanteres Symbolspiel kann beginnen.

Der intelligenteste, komischste und tiefsinnigste aller Tierfilme ist Bringing Up Baby (1938) von Howard Hawks, dessen extrem vielsagender Titel im Deutschen dem eher oberflächlichen Leoparden küsst man nicht weichen musste. Drei oder doch eigentlich vier Formen nimmt das Tier in diesem Film an: das in mehrfacher Hinsicht tote Tier, der Brontosaurier, dessen Rekonstruktion sich der Mann (Cary Grant) mit blinder Hingabe widmet; der kleine Hund, der sich wie ein unverschämtes kindliches Begehren äußert; der Leopard „Baby“, den Susan (Katharine Hepburn) bei sich aufnimmt; und das harmlose wilde Tier, das unglücklicherweise dann auch noch mit einem richtig wilden Tier verwechselt wird. Dauernd bringen diese Tiere alles durcheinander, scheinen das Paar zu entzweien, aber in Wahrheit können nur sie es zusammenführen. Auch die Funktion der Tiere bei der Produktion des Paares im Film ergibt schon wieder ein eigenes Genre. Als wüssten Tiere „natürlich“, wer zu wem gehört.

Mit Steven Spielbergs Der weiße Hai begann 1975 nicht nur die Ära der Blockbuster, sondern auch ein offenbar unverzichtbares Genre um mörderische Tiere, Bären, Hunde, Fledermäuse, Ratten, Schlangen, Orcas, Piranhas, eben alles, was auch in der Wirklichkeit dem Menschen nicht ganz ungefährlich ist. Mittlerweile sind die „Creature Features“ zwar eher im Status populärer Trashmovies mit fliegenden Haien, Sandwürmern oder Zombibern angelangt. Doch ist es wohl gerade diese biologische Frechheit, die den Reiz des Genres ausmacht: Es gibt keine Ordnung in der Natur, nicht einmal eine Ordnung der Arten.

Durch die besten Creature Features aber weht ein Hauch des Wahns von Moby Dick, Melvilles Monsterroman, der, Filmtechnik hin oder her, nie wieder so gut verfilmt wurde wie von John Huston. Dieser Film stellt die Frage nach dem „bösen Tier“ und nach der Menschenseele, die es gebiert, so genau, dass alle Tierhorrorfilme, auch wenn sie so gelungen sind wie Joe Dantes Piranhas, im Vergleich dazu nur noch Fußnoten sind.

Wofür starb King Kong?

Es sei denn, sie meinen etwas ganz anderes. Vielleicht auch etwas ganz Unbestimmtes: Ist Merian C. Coopers King Kong wirklich ein Schreckbild des afroamerikanischen Aufstands und des Griffs nach der weißen Frau, wie es tiefenpsychologische Popmythenforscher wollen? Oder, wie es eine marxistische Lesart vorgibt, die gefesselte und verhöhnte Arbeiterklasse, die sich befreien will und von der Staatsmacht, Militär und Polizei, getötet wird? Steht Gojira, Ishiro Hondas schöne, brüllende, 1954 zum Film gewordene Riesenechse, wirklich für die böse (und später gezähmte) Atomkraft? Oder ist sie wild gewordene Mütterlichkeit, shintoistischer Protest gegen die Entseelung der Natur?

Wahrscheinlich ist das Tier als Metapher offener und widersprüchlicher, es sieht immer so zurück, wie es angesehen wird, nur etwas wilder, etwas unvernünftiger. Zugleich einfach deutbar und doch darin höchst widerspenstig wie in Alfred Hitchcocks Die Vögel. Sind sie wirklich die furchtbaren Wiedergänger der „Love Birds“ vom Beginn der Handlung? Ein Zurückschlagen der Natur?

Später werden all diese Funktionen, die das Tier in der Sozialisation der Kinder, in der Heldenreise und in der Seelenarchitektur des Menschen, in seinen Ängsten und Sehnsüchten spielte, von Maschinen übernommen. Lange bevor sie menschenähnlich werden, werden die Roboter tierähnlich, haustierähnlich oder raubtierähnlich. Der ewige Kampf des Menschen mit dem Tier setzt sich im Kampf der Maschinen mit den Menschen fort. Jetzt könnte man das Tier verstehen. Aber jetzt ist es zu spät.

Georg Seeßlen

Bild oben: Tippi Hedren drehte 1963 Alfred Hitchcocks „Die Vögel“. © Viennale

zuerst erschienen in DIE ZEIT Nr. 38/2015, 17. September 2015