Das Leben festhalten | 

Eine Dokumentarfilm-Auswahl der BERLINALE 2022 | 

 

Ich wollte einfach singen – und das ging ja nicht.“

So lautet einer der vielen prägnanten Sätze Bettina Wegners, deren Lied „Sind so kleine Hände“ jede(r) kennt, nicht zuletzt weil es auch von Joan Baez gesungen wurde. Der Film von Lutz Pehnert ist ein Portrait der Künstlerin. Archivmaterial und Auftrittsmitschnitte aus beiden Deutschlands, sowie längere Interviews geben intime Einblicke in diese Ost-West Biografie, die reich an Lebens- und Liebeskämpfen ist. Originale Audio-Mittschnitte aus einem Verhör während ihres Prozesses wegen staatsfeindlicher Hetze gegen die DDR dokumentieren genauso Bettina Wegners Mut und Widerständigkeit wie ihre Liedtexte. Manchmal mogelt der Regisseur sich jedoch an politisch heiklen Stellen vorbei. Auch findet er keine schönen Bilder für die aktuelleren Live-Auftritte. Visuell regelrecht ärgerlich ist auch das Ende.

Abgesehen davon ist der Film jedoch eine anschauliche Geschichtsstunde zur deutsch- deutschen Vergangenheit. Und er bietet die Möglichkeit die Sängerin mit der unverwechselbaren Stimme (wieder) zu entdecken.

BETTINA (Regie: Lutz Pehnert) 

ab 19.5. 2022 in den Kinos

 

 

Let it rip“,

so einer der Tanzlehrer zu einer Schülerin in ALLONS ENFANTS. Jugendliche aus den Pariser Banlieues haben in der Tanzakademie „Turgot“ die Möglichkeit Schule und Tanz, in dem Fall Hip-Hop und das Lernen fürs Abitur, zu verbinden. Die Kamera begleitet SchülerInnen beim Training, bei Proben und Aufführungen, aber auch im tendenziell sie langweilenden Schulunterricht. Ihre schwierigen Herkünfte, ihre Erinnerungen, Ängste und Träume stehen ihnen zuweilen im Weg, sind aber andererseits auch Motor ihrer Lust sich in Bewegung auszudrücken. Unterbrochen werden die klassisch gedrehten dokumentarischen Szenen durch schnell geschnittene Sequenzen ihrer teilweise unglaublich akrobatischen Tänze.

Allons Kinder (Regie: Thierry Demaizière, Alban Teurlai) | FRA 2022 | Generation 2022 | © Alban Teurlai

Leider erfährt man nichts über irgendwelche Hintergründe, zum Beispiel was das genau für eine Schule ist oder nach welchen Kriterien sie ihre Schüler aussucht. Auch nichts darüber, wie die sicherlich zahlreichen Konflikte sowohl unter den Jugendlichen, als auch zwischen ihnen und den Lehrenden ausgetragen werden. So wirkt der leider auch viel zu lange und chaotisch montierte Film eher wie ein Werbeclip für die Schule „Turgot“.

ALLONS ENFANTS (Regie: Thierry Demaizière, Alban Teurlai) 

 

 

Wütend sein ändert nichts.“

Ein vielseitiger Blick auf die Lebenswirklichkeit von Frauen in Indien und über das gefahrlose Zusammenleben in einem geschützten Raum, in dem Fall in einem Frauen vorbehaltenen Zugabteil von und nach Mumbai. Die junge Regisseurin Rabana Liz John liefert mit ihrer Abschlussarbeit von der Kunst- und Medienhochschule Köln eine gekonnt umgesetzte soziologische Beobachtung darüber, welche Vorstellungen von Freiheit, von beruflicher und familiärer Zukunft indische Frauen angesichts einer komplexer und sich rasch verändernden Welt haben.

LADIES ONLY (Regie: Rebana Liz John) | DEU, IND 2021 | Sektion: Perspektive Deutsches Kino 2022 

 

 

Wir sind dagegen.“ –

Gegen Militarismus, Krieg und Grenzen, und wir sind dagegen uns unsere Liebe verbieten zu lassen – „nur“ weil es einen Eisernen Vorhang gibt. Die Regisseurin Vera Brückner erzählt in ihrem Film SORRY GENOSSE eine Geschichte, die man kaum glauben kann.

Ihre Protagonisten Hedi (Ost) und Karl (West) lernen sich 1969 in Thüringen bei einer Familienfeier im zarten Alter von 16 Jahren kennen. Jahrelang gibt es im Folgenden für die beiden nur Briefe mit Treueschwüren und einige wenige Treffen im Osten, bei denen Karl u.a. von der Stasi angeworben wird. Er ist es auch, der in seiner Verzweiflung den „bombensicheren“ Plan für Hedis Flucht nach Westdeutschland ausheckt. Bei dieser nicht ungefährlichen Aktion geht dann so ziemlich alles schief.

Sorry Genosse ( Regie: Vera Brückner) | DEU 2022 | Fotobeschreibung: Karl Heinz, Hedi | Sektion: Perspektive Deutsches Kino 2022 | © Felix Pflieger / Nordpolaris

Vera Brückner kombiniert stilistische Elemente, z.B. wechselnde Bildformate oder theaterhaft inszenierte Szenen, die die zahlreichen Details und Missgeschicke spannend nachstellen. Darüber hinaus dokumentieren Archivmaterialien und persönliche Fotos diese Liebes- und Fluchtgeschichte, Bilder eines getrennten Landes, jenseits bestehender Klischees. Eine verrückte deutsch-deutsche Geschichte ist das – soweit weg bereits, vor allem für jüngere Zuschauer. Sehenswert.

SORRY GENOSSE ( Regie: Vera Brückner)

 

 

Du bist ein Monster – wir erkennen dich nicht mehr“

Kalle, der eigentlich Pascal heisst, ist ein netter Junge mit Sommersprossen und offenem Gesicht in Berlin Hellersdorf. Da ist er 10 Jahre alt, völlig auf sich selbst gestellt und äußerst selbstbewußt: „Ich will kein Ghettokind sein“. Doch es kommen Langeweile, falsche Freunde, Alkohol, Drogen und Kriminalität. Mit 16 wird Kalle straffällig und landet wegen schwerer Körperverletzung für 2 ½ Jahre im Jugendknast. Danach ist er nicht mehr der Alte.

Kalle Kosmonaut ( Regie: Tine Kugler, Günther Kurth) | DEU 2022 | Sektion: Generation 2022 | © Günther Kurth

Die Regisseure Günther Kurth und Tine Kugler begleiten in ihrem Film KALLE KOSMONAUT über 10 Jahre hinweg den jungen Mann auf der Suche nach einem Platz im Leben. Sie halten einzelne prägnante Ereignisse fest. Die erste Liebe, Jugendweihe, Rap und Drogen, oder die Verurteilung. Und der Künstler Alireza Daroish hat für die Gedanken und Gefühle Kalles in und nach der Knastzeit dunkle, atmosphärisch dichte Animationssequenzen geschaffen. Denn Kalle verfolgen Alpträume und schwere Ängste.

Stellenweise gerät der Film arg stereotyp, vor allem in der Schilderung des Milieus rund um die „Allee der Kosmonauten“. Starke Momente gibt es vor allem dann, wenn Kalle anfängt seine selbstkomponierten Rap-Songs zu performen oder selbst zu Wort kommt: „Ihr müßt mich nicht erkennen, ihr müßt versuchen mich zu verstehen“, sagt er an einer Stelle. Ja, das hätten die Filme-Macher wirklich versuchen sollen …

KALLE KOSMONAUT ( Regie: Tine Kugler, Günther Kurth) 

 

Daniela Kloock

 

Bild ganz oben: Bettina (Regie: Lutz Pehnert) | DEU 2022 | Fotobeschreibung: Bettina Wegner | Section: Panorama 2022 | © Thomas Otto