„Ein System tut, was es tut“, schreibt Niklas Luhmann. Der Satz könnte auch die Filme von Quentin Tarantino beschreiben. In der Fortsetzung seines im letzten Jahr begonnenen Pop-Epos sorgt der Regisseur für Überraschungen – ohne das „System Tarantino“ zu verlassen.

Es gibt, was Sequels anbetrifft, kaum etwas Enttäuschenderes als „more of the same“, und vollends verstimmt es, jemandem wie den Wachowski-Brüdern in ihren Matrix-Sequels dabei zuzusehen, wie kraftmeierisch sie die Bälle auffangen müssen, die am Beginn so elegant in die Luft geworfen wurden. Quentin Tarantino, der film buff, weiß natürlich um die Gefahren, die sich aus der Erwartung des Publikums ergeben. Er versucht nicht, uns dabei auszutricksen, im Gegenteil, er treibt von der ersten – schwarzweißen – Einstellung von Kill Bill – Volume 2 an ein offenes Spiel damit. Der Tonwechsel gegenüber dem Ende des ersten Teils könnte kaum radikaler sein; man ist zwar sofort im „Tarantinoverse“, im Tarantino-Universum, aber doch zugleich in einem ganz neuen Film.

Nun ist Kill Bill – Volume 2 allerdings gar kein richtiges Sequel, sondern der zweite Teil einer am Stück produzierten Geschichte. Und eines darf man wohl, ohne irgendwie die Spannung zu nehmen, erklären: Die Geschichte wird wirklich zu Ende erzählt. „Kill Bill – Vol. 3″ wäre nur als schlechter cineastischer Witz denkbar. Aber es ist auch nicht einfach der zweite Teil eines geschlossenen Werkes, so wie man bei Ben Hur einst seine Schokoriegel-Kaufpause hatte. Zwischen Volume 1 und Volume 2 gibt es einen Schritt hinter den Spiegel; nicht nur, dass der erste Teil, wie Quentin Tarantino sagte, ein Eastern und der zweite Teil ein Western ist; der Weg einer Empfindung (nennen wir sie „verletzte Mütterlichkeit“) und der Weg eines Gründungsmythos (nennen wir ihn den von den liebenden Mördern, die ewige Wiederkehr jener Geister, die nicht wissen, ob sie den Tod oder das Leben bringen) kehren sich auf der Reise durch die Erzählungen und Bilder in ihrer Richtung um. Hinein in die Spiegelwelt ging es im ersten Teil, aus ihr heraus will Alice mit dem Schwert in Teil 2.

Wir erinnern uns: Bei den Hochzeitsvorbereitungen der Braut veranstalteten Bill und seine Leute von der Viper-Killerorganisation ein schreckliches Massaker. Bill selbst, der Chef der Organisation und frühere Geliebte der Braut, schoss ihr in den Kopf. Die Braut fiel ins Koma, erwachte Jahre später, musste feststellen, dass sie ihr Kind verloren hatte und im Krankenhaus während ihrer mentalen Abwesenheit missbraucht worden war. Nun begann ein langer Rachefeldzug gegen die Mitglieder ihrer Organisation und Mörder ihrer Familie. Im ersten Kapitel des neuen Films, der eine wundervolle John-Ford-Sergio-Leone-Hommage aufweist, kommt Bill als ungebetener Gast zur Hochzeitsprobe. Sie stellt ihn ihrem Bräutigam, einem freundlichen Verkäufer von gebrauchten Schallplatten, als ihren Vater vor. Die Geschichte beginnt damit, dass wir Bill nicht mehr als den fernen, sadistischen Bösewicht ansehen, sondern als einen gefährlichen Kerl mit Gefühlen. Die nächsten Kapitel behandeln die Fortsetzung des Rachefeldzuges. Zuerst muss die Braut mit Bills Bruder Budd fertig werden, der sie lebendig begraben hat; dann muss sie Elle Driver besiegen, die Böseste unter den Killern. Zu einer großen Überraschung wird der finale Besuch bei Bill. Dort begegnet die Heldin ihrer Tochter, die lange schon sehnlich auf ihre wieder erwachte Mutter wartet, und Bill zeigt sich als fürsorglicher Daddy. Aber diese Wendung ist noch lange kein Happy End.

Es ist dennoch eine glückliche Rückkehr ins Tarantinoverse. Denn der Autor und Regisseur versteht es, uns mit genau den Tricks, die wir von ihm kennen, wieder zu verblüffen, aber aus immer neuen Kombinationen auch eine neue Qualität zu gewinnen. Es gibt das Spiel mit den Zitaten, die schräge, einander überlappende Kapiteleinteilung, die harten Schnitte zwischen dem Absurden und dem Anrührenden, die offene Verfremdung der filmischen Mittel, die Reibung zwischen Erzählfluss und einzelner Einstellung, die Comic-Strip-Beziehungen und das Einweben der Pop-Songs in Handlung und Charakterisierung, die Verknüpfung beinahe jeder Szene mit anderen Szenen im Tarantinoverse (etwa Samuel L. Jacksons kurzer Auftritt in der Kirche) und nicht zuletzt das untrügliche Gespür für die kosmische Komik, die im Zusammentreffen des Banalen und des Erhabenen entsteht. Nur so ein Beispiel: Der furiose Endkampf zwischen der Braut und Elle Driver, der vor mythologischen Konnotationen nur so strotzt, findet in einem Wohnwagen in der Wüste statt. Die beiden bedienen sich dazu der besten japanischen Schwerter, die je hergestellt wurden. Aber weil es in diesem schmuddeligen Wohnwagen des bekennenden Cowboys Budd, der obendrein noch tot am Boden herumliegt, einigermaßen eng ist, haben die beiden Kämpferinnen immer wieder Schwierigkeiten, ihre Schwerter aus der Scheide zu ziehen, oder sie bleiben im eleganten Schwung des blitzenden Stahls an Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs hängen. Wohlgemerkt: So etwas inszeniert Tarantino nicht als running gag im Vordergrund, sondern in schöner Beiläufigkeit in einem kinetischen Geschehen am Rand der Übersichtlichkeit.

In Kill Bill muss uns Tarantino nicht mehr beweisen, dass es keinen Widerspruch zwischen Trash und Kunst gibt. Er bewegt sich schon mit der neugierigen Gelassenheit eines Meisters in seinem eigenen Universum, wie Fellini, wie Ford, und er kann in dieser Meisterschaft ein paar Fragen stellen, das Leben und die Fiktionen betreffend, die schmerzender sein können, als es bei all dem kinetisch verschärften Zeichenspaß zunächst scheinen mag. Wie zu Hause sind wir denn noch in unseren Bildern?

Man muss dazu Godard und Superman-Comics gleichzeitig denken. Tarantino benutzt ja nicht nur die endlos zerfallende populäre Mythologie, unsere zweite Wirklichkeit, unsere Metaphysik, um aus ihren Trümmern sein eigenes Ding zu basteln. Er hat eine gemeine Technik, mehrere Punkte im gleichen Augenblick so heftig zu berühren, dass etwas inwendig zerplatzt. Diese Technik beherrscht übrigens auch die Braut.

Kill Bill – Volume 2 vollendet das große Epos von Liebe und Rache, Traum und Meta-Traum im Film-Universum des Quentin Tarantino: der kunstvollste Trash und die trashhaltigste Kunst im Kino des 21. Jahrhunderts, bisher.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in  epd film