Schlachtfeld in Schönschrift

Bertrand Taverniers Film erzählt vom Verschwinden des Krieges aus dem Bewusstsein

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Dies ist ein schöner Film, der davon handelt, dass der Krieg die Liebe aufhalten kann, aber die Liebe nicht den Krieg. Er hätte drei oder vier Geschichten zu erzählen: die Geschichte eines französischen Offiziers, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Vermissten sucht, sie wenigstens kategorisieren, erfassen will, vergeblich und mit wachsender Manie für sonderbare Statistik- und Zahlenkombinationen (jemand will den Schmerz des Krieges wenigstens mathematisch fassen); die Liebesgeschichte zwischen diesem Kommandanten Dellaplane und einer Frau, die Beweise für den Tod ihres Mannes sucht (sie ist die Schwiegertochter einer reichen Familie, die am Krieg nicht verloren hat); die Geschichte dieser schönen Witwe Irene und der jungen Lehrerin (sie hat sich im Krieg befreien müssen und wird nun wieder an ihren Platz geschickt), die beide, ohne es zu wissen, denselben Mann suchen; die Suche nach einer geeigneten Leiche für die Ehrung des »unbekannten Soldaten« (der ein für alle Mal die Toten des Krieges in seinem Mythos aufheben soll).

Keine dieser Geschichten erzählt Taverniers Film; mehr noch: Jedes dieser Rudimente hebt die anderen auf, jeder Beginn einer dieser Erzählungen macht die anderen unerzählbar. So ist dies das Meisterstück eines Filmes, der sich vor unseren Augen auflöst, nichts bleibt als reine Schönheit, reine Verzweiflung, reiner Hohn, dazu: das Leben und nichts anderes. Denn auch wenn man aus seinen Erzählungen hinausgeworfen worden ist, bleibt einem doch immer noch dies: das unverwechselbare, durch und durch konkrete, einmalige und eigene Leben. Philippe Noiret, mit den Orden seines eben gestorbenen Vaters auf dem Set, macht es uns vor. So hätte der Film bereits im Titel alles über sich gesagt, was es zu sagen gibt, und ironischerweise auch noch das genaue Gegenteil, denn vor allem handelt dieser Film ja vom Tod und davon, dass Menschen, die ständig nach den Spuren der Toten suchen, eben nicht gleichzeitig auch noch leben können; die Liebe hält den Krieg nicht auf, aber der Krieg die Liebe, wie gesagt, auch noch zwei Jahre nach seinem Ende. Am Schluss schreibt Dellaplane, der seinen Abschied von der Armee genommen hat, der fernen Frau einen Liebesbrief: Mit dem Abschied vom Tod kann man zur Liebe gelangen. Das ist zugleich banal und ungeheuerlich. Und es kommt uns im Augenblick gerade recht. Lassen wir die Geschichte ruhen, die nichts ist als ein Reich der Toten und der zerbombten Ideen, und wenden wir uns, in all seiner Sonderbarkeit, dem Leben zu. Punkt? Nein, Doppelpunkt: Wir fangen noch einmal von vorne an.

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DIE PERSONEN UND IHRE DARSTELLER: Kommandant Dellaplane, der Leiter des Büros zur Suche und Identifikation von gefallenen und vermissten Soldaten fotografiert Männer, die nicht wissen, wer sie sind, katalogisiert Daten und Zahlen, gräbt sich in einem in den Trümmern improvisierten Büro durch Akten. »Ein Vermisster kann ein Toter sein, ein Lebender, ein Verrückter oder ein Deserteur«, meint er einmal und umreißt damit seine eigentliche Aufgabe: Es ist das Definieren der Verschwundenen: Die Toten sollen tot sein und die Lebenden wieder an ihre sozialen Plätze zurückkehren. Denn der »Vermisste«, das ist nichts anderes als das auseinandergefallene bürgerliche Individuum: Ein Körper ohne Kopf, ein Name ohne Mensch, ein Mensch ohne Namen, ein Zeichen ohne etwas Bezeichnetes und ein Bezeichnetes ohne Zeichen. Seine Rebellion, wenn man diese sonderbare Mischung aus Akkuratesse, Zynismus, Moral und Mathematik so nennen möchte, besteht darin, daß er diese Aufgabe als echte Suche missversteht. Dellaplane ist leicht verzweifelt über seine Vorgesetzten, die die Zahlen manipulieren, die Opfer vergessen wollen und auch aus den Trümmern schon wieder die alte Ordnung errichten, aber gewiß leidet er auch unter den Angehörigen der Vermißten, die von ihm »Klarheit« haben wollen. Er versucht, Identitäten zu schaffen, Menschen, die im Krieg Verstand und Sprache verloren haben, einen Namen zuzuordnen. Den Befehl, den geeigneten Soldaten-Leichnam für den »unbekannten Soldaten« zu finden, »einen Franzosen, aber keinen Neger«, gibt er an einen Untergebenen weiter, um an seinen Rekonstruktionen von Menschenleben weiterzuarbeiten. Dieser unbekannte Soldat, der in einer grotesken Zeremonie am Ende unter ein paar eingesargten Leichen ausgewählt wird, soll die 350.000 noch vermissten Soldaten ersetzen. Mit dem Grabmal für den unbekannten Soldaten wird jeder Krieg beendet. Es wird nicht mehr gegraben, es wird wieder gebaut.

Unter den Suchenden sind zwei Frauen, die immer wieder an seinen Wirkungsstätten auftauchen: Irene, die Frau aus der Geldadelsfamilie, welche den offiziellen Heldentod ihres Mannes benötigt, um ihre Geschäfte weiterzuführen, und Alice, eine Dorflehrerin, die gerade ihre Stelle verloren hat, weil der Lehrer aus dem Krieg zurückgekommen ist, der vorher ihren Posten hatte. Sie beide suchen den vermissten Mann zugleich »wie besessen« und ein wenig fahrig; die Suche ist zugleich eine Flucht, und was gesucht wird, ist nicht ein Mensch, sondern ein Ort, nein, ein Zustand, nein, eine Illusion: Identität.

Noiret zeigt ein Gesicht, wie man es nur nach einem Krieg haben kann, Reste von Haltung, Heldentum und Entschlossenheit, Rudimente von Zweifel, Kritik und endlosem Fragen. Er beweist seine Kunst einmal mehr, indem er der Versuchung widersteht, der Jean Gabin unsrer Tage zu sein; das Alter bringt weder die patriarchalische, noch die melodramatische noch die Erlösung der schwachsinnigen Heiterkeit.

Irene ist ganz und gar Schönheit, aber auch ganz und gar Kostüm; sie ist Eigentum ihrer Klasse (sie strandet übrigens in der Welt des konservierten, des unaufgeräumten Schlachtfelds, von der der Film berichtet, weil ihr Schwiegervater das Auto samt Chauffeur für sich beansprucht), aber die Sturheit ihrer Suche macht sie Schritt für Schritt unabhängiger. Irene entschleiert sich, erlebt, selbst in ihrer Kleidung, eine Renaissance.

Sabine Azéma drückt, sozusagen von oben nach unten, das Dilemma ihrer Figur aus: Augen, die von Sehnsucht sprechen, und ein Mund, der zur Verachtung erzogen worden ist. Da ist sie ein Gegenbild zu Noiret, dessen Augen ratlos das Nahe suchen, weil dies schon fern genug ist, dessen Mund aber nach Genüssen schnappt. An die Augen ihres Mannes kann sich Irene nicht mehr recht erinnern; ausgerechnet diese Augen sollten ein Paar anderer Augen vergessen haben, liebend womöglich? Oder hat das etwas damit zu tun, dass Dellaplanes Schablonen, Bezeichnungen und Modelle nicht das geeignete Mittel zur Identifizierung von Menschen sind?

Als er sie zum Essen ausführt (das Essen ist in diesem Film die immer wieder versuchte Rückkehr zu etwas, das noch älter ist als die untergegangene Kultur, nach der die Menschen graben), fordert sie ihn auf, zu den Klängen einer amerikanischen Jazzband (zu der ein einäugiger Musiker gehört; jeder scheint in diesem Krieg die Hälfte des für ihn Wichtigsten am eigenen Körper verloren zu haben) mit ihr zu tanzen. Das kann er nicht so recht. Dann ist er, als die französische Soubrette singt, schon fast wieder verloren: ah, das alte Frankreich. Irene flieht in die Nacht hinaus, er holt sie ein. Im Auto bittet sie ihn um die Liebe, um drei Worte, die er sagen soll. Das kann er auch nicht. So erst begreift sie, was sie allein tun muss, und wenn wir ihr wieder begegnen, im fernen Amerika, beim Studium des Briefes von Dellaplane, ist sie eine ganze andere geworden.

Alice ist nicht schön, sondern hübsch; ganz deutlich ist sie nicht geschaffen, sondern geworden. Wenn sie gemeinsam im Bild sind, wird dieser Unterschied besonders deutlich, das ist nicht nur ein Gegensatz von Klassen, sondern auch einer der Wahrnehmung. Der Mann, den sie sucht, war gewiss so etwas wie eine Hoffnung, aus dem Lebenskampf zu entkommen, der harte Arbeit und beleidigende Blicke umfasste. Jede der beiden Frauen ist der Traum der anderen, und gemeinsam sind sie der Traum eines gestorbenen Mannes, der sich die Unentschiedenheit leisten konnte. Am Ende schenkt Irene Alice die Kette mit jenem Medaillon ihres Mannes, aufgrund dessen Dellaplane ihn so weit rekonstruiert hat, dass er weiß, dass beide Frauen denselben Mann »vermissen«. Ganz beiläufig nur nimmt sie dann noch schnell das Bild heraus. »Das Leben und nichts anderes«, das ist auch die ständige listige Verhinderung des Melodrams, jener bürgerlichen Welterklärung, die eben das als identisch erklärt, was in Taverniers Film sich aneinander aufreibt, die Heimeligkeit des Normalen und das Schicksal der Sehnsüchte. Alice, so scheint es, ist der Picaro dieses Abenteuers; ihre nicht allzu erfolgversprechende Liebesgeschichte mit dem neuen Assistenten des Bildhauers zeigt, wohin ihre Abenteuer führen werden: in die Ausbeutung der Restauration.

DIE ORTE DER HANDLUNG. Die Menschen in diesem Film umkreisen einander, umkreisen aber auch Orte, zu denen die Suche nach den Vermissten nur führen kann. Wie ein magischer Mittelpunkt aller dieser Bewegungen ist ein verminter Tunnel, in dem noch einmal die Grauen des Krieges zusammengefasst sind; ein Zug steckt hier drin, der Verwundete, Zivilisten, Militär und Munition gleichermaßen befördert hat. Dieser Tunnel, aus dem Dellaplane Vermisste bergen lässt, verlangt immer noch Opfer; er ist der Krieg, der im Frieden weitergeschieht. Man geht hinein, wird verschlungen und vielleicht wiedergeboren aus diesem Geschlecht einer geschändeten Natur. (Unnütz zu sagen, dass Tavernier auch diese Allegorie zugleich mit sarkastischem Ernst und blutiger Ironie behandelt.) Auf dem Gelände um den Tunnel werden die Fundsachen ausgestellt, in denen die Angehörigen der Vermißten nach Identitätsbeweisen suchen. Hier wird auch gegessen und getrunken; der Bildhauer, der hier arbeitet, macht obszöne Andeutungen, intoniert ein Trinklied: Die Kunst ist der doppelte Betrug, das Pathos für die Toten, der rülpsende Vitalismus für die Lebenden.

Dieser Ort ist grauenvoll, und zugleich ist er für die, die dort suchen, schon wieder vertraut geworden, eine Heimat, wenn man so will, und so sind dies Merkmale aller Orte des Filmes: Heimeligkeit, gesellschaftliche Organisation, »Menschlichkeit« an den Monumenten des Grauens. In der Fabrik mit ihren gewaltigen Rädern (die Deutschen haben, erfahren wir, diese Fabrik aufgrund einer Verabredung verschont; die Front ist eine, die Zusammenarbeit der Klasse eine andere Sache) ist ein Hotel errichtet worden, und Bretterverschläge, in die wir ab und an hineinsehen wie in Bienenwaben, bilden auch die Büros von Dellaplanes Behörde. Ein Bauer pflügt sein Feld, stößt zuerst auf einen Helm, dann auf eine Bombe, während Irene auf ihrer Suche mit ihrem Chauffeur vorbeifährt und Dellaplane in einem improvisierten Restaurant speist, wo moslemische Kolonialsoldaten darum kämpfen, daß man ihnen kein Schweinefleisch vorsetzt (und einer, der sich hat taufen lassen, mit triumphalem Grinsen Wein verlangt). Das wahre Grauen ist der Sog der Normalität, dem sich Dellaplane, Alice und Irene zu widersetzen versuchen (weshalb der Liebesbrief, den Irene am Ende in Amerika erhält, weniger ein optimistischer Notausgang für die nicht erzählten Geschichten ist, als vielmehr der letzte groteske Sieg dieser Normalität).

Daß Dellaplanes Büro sich in einem Theater befindet, erzählt in diesem Film nicht noch einmal die sattsam bekannte Geschichte von der Kultur, die vom Krieg zerstört wird, lässt aber auch nichts von heimlicher Mitschuld ahnen. Tavernier scheint damit auf dezente Art zu unterstreichen, dass wir es bloß mit Kulissen zu tun haben. Während allerdings das Theater gebaut wurde, damit alle Zuschauer möglichst viel sehen können, sind die Bretterkulissen des Films errichtet, um eben dies zu verhindern. Nur Bruno de Keyzers Kamera setzt sich, im Wortsinne, darüber hinweg und zeigt immer wieder, daß die scheinbare Macht des einzelnen nur eine Bewegung in einem Gewimmel ist, und daß die notwendige Sucht danach, uneinsehbare Räume zu schaffen, das Labyrinth meint: Ordnung ist der Versuch, die Menschen dem Chaos gegenüber blind zu machen.

3

NOTIZEN AM RANDE. Übrigens scheint es, als laufe die Zeit rückwärts in diesem Film, nicht wirklich vielleicht, mehr von den Farben und Zeichen her. Am Anfang, in diesem Blau und Grau, ist Winter, und am Ende ist es Herbst geworden, im friedvollsten, melancholischen Braun.

Um zum Ziel zu kommen (genauer gesagt: um es zu verfehlen), muss sich Irene in einen Soldaten verwandeln. Sie greift an, und er zeigt sich geschlagen. Beständig wird in diesem Film gearbeitet, und in dieser Arbeit, in die sich Soldaten, Zivilisten, Männer und Frauen teilen, wird das Kriegerische mehr und mehr verwischt. Taverniers Film handelt vom Verschwinden des Krieges aus dem Bewusstsein. Das aber heißt ihn fortsetzen, in der Liebe und in der Arbeit. Was die Figuren dort tun, in der Erde graben vor allem, um sich blicken, sich irgendwo ein wenig festsetzen, das wiederholt noch einmal die Form dieses Krieges, den man einen Grabenkrieg genannt hat. Die 350.000 vermissten Soldaten waren mehr oder weniger von der Erde verschluckt. Und allen Figuren dieses Filmes droht dasselbe Schicksal. Der einbeinige Soldat am Anfang, der am Strand, von einer Nonne begleitet, wieder zu reiten lernt, fällt in den Sand, alle graben sich in die Landschaft, werden von ihr verschluckt, wie von den Nebeln, den Rauchschwaden der Explosionen, aber auch von den Dünsten des Essens, da und dort von Kälte.

Was in diesem Film scheitert, und zwar am Leben, ist der Versuch einer Archäologie des Krieges. Der unbekannte Held, der vor allem ein Franzose sein muss, was bei dem Durcheinander, den so ein Krieg nun einmal anrichtet, nicht so leicht zu garantieren ist, wird von einem Offizier mit vietnamesischen Soldaten gesucht, die nicht einmal sprachlich in der Lage sind, zu verstehen, warum sie hier sind und was mit ihnen geschieht. Aber sie weigern sich, auch nur das Holz eines Sarges anzufassen, so dass wenigstens hier der Kolonialherr an den Kolonisierten verzweifelt.

Tavernier hat seinen Film in Breitwand gedreht. In diesem Format können nur Dilettanten, Gewalttäter oder Künstler arbeiten. Man kann darin nichts über einen Menschen an sich aussagen. Je kompletter man ihn so sieht, desto kleiner ist er auch schon, und je näher ihn sich das Format holt, desto mehr besteht er nur noch aus Teilen. In diesem Format erzählt man daher vor allem von Beziehungen, und Tavernier lässt uns die bizarre Schönheit eines Schlachtfeldes nach der Schlacht im Panorama erleben, wie auch seine Menschen sich gleichsam panoramatisch zeigen. Gesichter existieren entweder als Landschaften oder als Gegenstände; in diesen Cinemascope-Bildern gibt es das Zentrum allenfalls als flüchtigen Scherz; was geschieht, geschieht an den Rändern. Die manieristische Schönheit eines solchen Filmes zeigt den endlosen Sturz der Peripherie ins Bild, und die Rückeroberung des Bildes durch die Menschen vermittels Wunden und Masken. Tavernier läßt die Kamera suchen, sie kreist um das Geschehen (noch eine Parodie auf das Militärische im Blick des Mediums); gefunden wird freilich nie das, wovon man geglaubt hat, es wäre das Gesuchte. Zum Beispiel sehen wir immer etwas anderes, als die Geschichte erzählt, ja mehr noch: Je mehr sich die Erzählung auf etwas einlässt, desto abwesender, verirrter wird die Kamera.

Es ist keine Frage: Alles, was Tavernier in diesem Film (und seinen anderen) zeigt, ist schön. Das schmerzt, weil Schönheit ein Skandal ist, nicht angesichts der Themen des Regisseurs, sondern überhaupt. Schönheit wird weder dem Markt noch der Moral gerecht. Was sie dagegen bedeutet, ist nicht viel. So hat der Film am Ende nichts zu sagen als lauter Nebensächlichkeiten. Aus denen besteht das Leben, das den Krieg besiegt. Als für Dellaplane dieser Krieg endlich zu Ende ist und er den Brief an Irene schreibt, ist er Gutsbesitzer geworden. Er schreitet bestiefelt über seine Felder, hat jetzt Zeit, er ist gewiss nicht mehr in Gefahr, von der Erde verschlungen zu werden, er kann aus diesen drei Worten, die er nicht sagen konnte, eine ganze Kultur machen. Jetzt ist wieder alles beim alten (vorausgesetzt wir deuten in Irenes Lächeln bei der Lektüre dieses Briefes keinen Sarkasmus); der Krieg ist vorbei.

Autor: Georg Seeßlen