Die malträtierte Kreatur

Was wäre der Mensch ohne Pferd? Wer hat wen gezähmt? Fragen, auf die der Dokumentarfilm „Buck“ über den berühmtesten Pferdeflüsterer Buck Brannaman die Antworten sucht

Was wäre die Geschichte der Menschenkultur ohne das Pferd? Eine bäuerlich-infanteristische Erd- und Sesshaftigkeit, vielleicht ein aufrechter Gang mit Mühsal. Das Pferd brachte den Fortschritt zugleich und die Distinktion, war Teil der Zivilisation und der Barbarei. Es war Besitz, Instrument und Waffe, doch mehr als das: Teil der Person, Freund und Geliebter, Abglanz des Göttlichen, Objekt ästhetisch-sexuellen Begehrens, Verstärkung des Zorns. „So stampfen, bevor eine Schlacht beginnt, die Pferde mit ihren Hufen die Erde; werfen die Köpfe hoch; das Licht glänzt auf ihren Flanken; ihre Hälse biegen sich“, so heißt es bei Virginia Woolf. Und dann ist das Pferd das erste Opfer, Ab- und Sinnbild des Leidens, das auf Stolz, Gewalt und Unterdrückung folgt. Das abgemagerte, blutende, schnaubende Pferd, das mit großen Augen auf den Gnadenschuss wartet: das nach-biblische Opfertier. Der Glorienschein und das Grauen des Krieges beginnt mit dem Pferd; so wie Apokalypse nur in der Form von vier Reitern darzustellen war.

Steven Spielberg nimmt die Metapher des leidenden Pferdes im Krieg in seinem Film War Horse wieder auf. Er erzählt die Geschichte des edlen und schönen Pferdes namens Joey, das den Menschen so selbstlos seine Dienste anbietet, ein Märchen aus den Zeiten des Krieges – des Ersten Weltkriegs, in dem Pferde noch eine bedeutende Rolle spielten: eine Geschichte von unverbrüchlicher Freundschaft und Treue, so wie wir es gerne hätten. Umgekehrt ist das malträtierte Pferd ein Bild von Gewalt, schlechter Herrschaft und Ungerechtigkeit. Noch in einem Western minderer Güte erkennt man, wer ein Guter und wer ein Böser ist, an der Art, wie er mit Pferden umgeht. Wer ein Pferd „schindet“, darf mit weniger Mitgefühl rechnen als ein Mörder. Die Metapher muss immer wieder erneuert werden, doch sie bleibt im Kern immer gleich: Die Verzweiflung des Menschen an sich und der von ihm geschaffenen Welt beginnt mit der Zeugenschaft der geschundenen Kreatur.

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filmkritiken 2010-13-300Georg Seeßlen: Filmkritiken 2010 – 2013
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52 Filmkritiken, geschrieben und veröffentlicht in den Jahren 2010 bis 2013, bieten Einblicke und Ansichten, vermitteln Zusammenhänge und Perspektiven.
Das Thema der Filmkritik ist das Filmesehen. Und Filmesehen ist eine Kunst. Und Georg Seeßlen versteht davon eine ganze Menge. Seine kompetente Übersetzung des audiovisuellen Mediums Film in Sprache ist tiefgründig, vielschichtig und bezieht aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen mit ein.
Gehen Sie mit Georg Seeßlen auf eine Reise in die Filmgeschichte. Eine Reise in Zeit und Raum.

 

Bilder: NFP (Filmwelt)