Georg Seeßlen: Abgas und Erinnerung

Die Installationen des spanischen Künstlers Santiago Sierra sind, so viel ist sicher, nicht harmlos. Schmerz, Ekel und Selbsthaß sind kalkulierte Bestandteile der Inszenierung. Wenn das Wort nicht so verbraucht wäre, könnte man sie nihilistisch nennen; sie führen an einen Nullpunkt von Emotion und Empfinden. Und das mag eine Transzendenz berühren: Wenn das, was Sierra nicht etwa zeigt, sondern macht, möglich ist, dann hilft nur noch der Himmel. Oder die Revolution.

1999 engagierte Sierra arbeitslose Kubaner, die sich für 30 Dollar eine Linie auf den Rücken tätowieren ließen. Süchtige, denen Streifen ins Haupthaar rasiert wurden, erhielten ihre Entlohnung in Form von Heroin. Menschen ließen sich von Sierra in Pappkartons einsperren und bekamen dafür den gesetzlichen Mindestlohn. Man hat das System schnell raus: Ein Segment des menschlichen Elends wird, statt repräsentiert oder zitiert, als Kunstwerk in der Mitte der Kultur, die es erzeugt, noch einmal hergestellt. Dieses Kunstwerk ist der Punkt, an dem sich die Fortsetzung von Unterdrückung und Zerstörung mit dem Protest gegen sie schneidet. Je nachdem also, in welche Richtung man von diesem Punkt aus blickt, erscheint es als „notwendige Provokation“ oder als „zynisches Spiel“.

Was mit dem gegenwärtigen Elend funktionierte, so mag der Künstler gedacht haben, müßte doch auch auf die Geschichte und die Erinnerung anwendbar sein. Und so führt auch seine Stommelner Installation zu einem Nullpunkt der „Erinnerungskultur“. In seinem mittlerweile ausgesetzten Beitrag zu einer Reihe von künstlerischen Versuchen zum Holocaust in der ehemaligen Synagoge von Stommeln bei Köln hat er eine entsetzliche Mischung aus dem sinnlichen Revivre der Vergangenheit und dem aktuellen Alltagselend geliefert. Um die Synagoge herum plazierte er sechs Automobile mit laufenden Motoren, deren Abgase in dicken PVC-Schläuchen in das Gebäude geleitet wurden. Das lebende Bild, das auf diese Weise entstand, mag drei Assoziationsketten in Gang setzen: den Gastod der jüdischen Opfer in den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus, eine Form von Selbstmord, die zeitgemäß kanonisiert ist und gern als Metapher kleinbürgerlichen Scheiterns an der rauhen Welt des Neoliberalismus genommen wird, und die Vergiftung der Umwelt durch Fleiß und Energieverbrauch. Jedes einzelne dieser Bilder, denen sich der Betrachter in allerdirektester Form aussetzen sollte, indem er selbst (zeitweilig) zum ansonsten fehlenden Objekt der Installation wurde, ist tendenziell skandalös. Der eigentliche Skandal aber besteht in ihrer Verbindung.

Synagoge Stommeln 245 m3, 12.3.2006

Synagoge Stommeln 245 m3, 12.3.2006

Der Titel dieses „lebenden Bildes“ ist „245 m3“, er beschreibt den Rauminhalt des leeren Gebäudes oder das Ausmaß der Leere eines nicht mehr (bzw. nur noch als künstlerische Schnittstelle) genutzten Raumes. Und diese Quantifizierung setzt eine neue Assoziationskette in Gang. Wie viele Menschen werden auf diesem Raum mit wieviel Gas traktiert? Aber nur als einzelner durfte man den Raum betreten, und nur indem man durch eine Prozedur jeglicher Beiläufigkeit dieses Vorgangs entsagte: Man mußte eine Einwilligung unterschreiben, man bekam eine Gasmaske, man wurde von zwei Feuerwehrleuten begleitet (wieder Assoziationen zwischen uniformierter Gewalt und Absicherung): Es war eine kalkulierte symbolische Begegnung mit dem Tod.

Der eigentliche Inhalt der Installation war also nicht die Anordnung der Elemente selbst, sondern das, was sie auslöste. So wie Sierras übrige Installationen nicht nur davon erzählen, was mit Menschen angestellt wird, sondern vor allem davon, was Menschen mit sich anstellen lassen – in konsequenter Fortsetzung des Reality TV -, so lag auch hier das Grauen nicht in dem unmoralischen Angebot der Kunst, sondern darin, daß es angenommen wurde.

Noch bevor diese sich selbst erfüllende Prophezeiung sich selbst erfüllte, scheint die offizielle Erinnerungskultur nur allzu bereitwillig in diese Kunstfalle getappt zu sein, indem sie dieses Geschehen in den Rang einer wenn auch provokativen Metapher zurückstuft, die, wie es der Bürgermeister sieht, „der Verdrängung und dem Vergessen entgegenwirken“ könnte. Einem Mißverständnis scheinen mir allerdings auch die zu unterliegen, die sich gegen die Anmaßung und Geschmacklosigkeit auf derselben semiotischen Ebene zur Wehr setzen. Natürlich ist die Frage von Stephan J. Kramer, dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, vollkommen gerechtfertigt: „Wenn das die neue Form der Erinnerung ist, sollen wir dann Auschwitz wiedereröffnen und an die Besucher Gasmasken verteilen, um ein authentisches Erfahrungserlebnis zu bekommen?“ Aber vielleicht läuft Sierras Installation ja eben gerade nicht auf eine Antwort, sondern auf eine Verschärfung der Frage hinaus. Denn die eigentliche Perfidie dieser Einrichtung besteht ja nicht in einem geschmacklosen, gar „niederträchtigen“ Akt (wie Ralph Giordano es nannte), sondern darin, daß sie Menschen zu Komplizen dieses Aktes macht. Und gegen Sierras Erklärung, die Aktion sei „eine Arbeit gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust“, läßt sich selbst im Namen der Würde der Opfer nur schwer argumentieren. Denn in der Tat: Was ist beleidigender, eine Kunstinstallation, die ans finstere Herz der Gesellschaft des Spektakels greift, oder eine pompöse Erinnerungskultur, die mehr Selbstfeier der Macht und Bannungsritual ist als Trauer, die aus Erkenntnis kommt, und Erkenntnis, die aus der Trauer kommt?

Man muss eine Meinung haben zu Sierras Installation, da hilft auch der distanzierte Blick nichts. Auch ich habe eine Meinung dazu. Sie lautet: nein. Aber seltsamerweise ist auch dieses „Nein“ mit Unbehagen kontaminiert. Nicht allein, weil es zu einfach scheint, damit auf die Seite der Guten zu kommen. Denn es provoziert zumindest die Frage: Was denn dann? Und wie kann, jenseits von Meinung und Geschmack, ein Diskurs möglich sein über die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust? Die Aussetzung der Installation jedenfalls scheint mir eher ein Symptom von Feigheit als eine Lösung zu sein.

Zuallererst gilt es, den „Skandal“ selbst vor der Banalisierung zu schützen. Zunächst scheint es, als würden Sierras Installationen den Kunstkonsumenten zu einem Kick der besonderen Art verhelfen. Er bewegt sich in „Wirklichkeit“ zurück, wie umgekehrt wirkliche Menschen sich in Themenparks und Achterbahnen bewegen, etwa wenn der Künstler die Gäste einer Vernissage in einen Bus packt und in die Slums von Guatemala City karrt. Oder wenn er in „The Punished“ Menschen der Kriegsgeneration über eine deutsche Stadt verteilt, die, mit dem Gesicht zur Wand, Scham und Bestrafung vorführen. Immer öffnet sich da das scheinbar simple lebende Bild ganz direkt den Konflikten der Wahrnehmung und Identifikation. Es wird der Punkt der Unerträglichkeit erreicht. Aber es kann nicht mehr die Unerträglichkeit einer Performance allein sein. Das Empfinden der Unerträglichkeit breitet sich aus in Alltag und Geschichte. Das Verhältnis von Kunstinszenierung und Wirklichkeit ist dabei immer komplizierter und reflektierter, als es der Empörung ob des geschmacklosen Bildes erscheint. Und nur Reflexion, keine Kanonisierung, hilft der Erinnerung aus der Falle von Banalität und Zynismus.

Was haben wir?

1. Zunächst eine Öffentlichkeit, die sich die Erinnerung, wenn überhaupt, so leicht als möglich macht. Sie ist, so will es scheinen, nur durch Provokationen zu erreichen. Wir könnten mittlerweile eine Kunstgeschichte dieser Eingriffe in den Alltag schreiben, aber wir tun es nicht.

2. Einen Kunstbetrieb, bei dem sehr schwer zu unterscheiden ist zwischen ästhetischen Konzepten und Positionierungen auf dem Markt. Die Signatur ist geldwert und geht, was das Objekt anbelangt, gelegentlich über Leichen.

3. Zwei letzte Rechte, die wir den Opfern schaffen können (und das war in der Gesellschaft der Täter immer schwer genug): das Recht, nie vergessen zu werden, und das Recht, die Würde, die ihnen das faschistische Todessystem so konsequent nahm, in ihrem Gedenken zu erschaffen und zu bewahren. Diese beiden Rechte können einander immer wieder in die Quere kommen: Ein im Äußeren würdevolles Gedenken als leere Geste auf der einen Seite, eine Erinnerung, die sich den Gesetzen des Spektakels unterwirft, auf der anderen Seite.

4. Einen globalisierten Markt der Bilder, auf dem sich Verwertungsinteressen und Terror treffen und für den es keine demokratische und kulturelle Verfassung gibt. Auf diesem Markt werden auch die Bilder der Erinnerung an den Holocaust gewendet und geschändet, sie werden, wie der Film „Tal der Wölfe“ oder Karikaturen aus dem Iran zeigen, gegen die Opfer gewendet.

5. Eine Gesellschaft, die ihr eigenes materielles und moralisches Elend unentwegt in ein Medienspektakel verwandelt und es damit bestätigt.

6. Ein Projekt der deutschen Kultur, die eigene Geschichte zu „normalisieren“. Die Singularität des faschistischen Völkermordes kann in diese Normalität nur durch zwei Strategien integriert werden: durch Relativierung (Völkermord gab es auch vorher schon und nachher noch) oder durch Isolierung (der Holocaust wird gleichsam aus der Geschichte ausgeschlossen und zur Metaphysik).

7. Eine so radikale wie unreflektierte Veränderung der Grammatik von Zeichen, Bild und Repräsentierung. Subjekt und Objekt des Bildes wechseln die Plätze, und die Aussage entsteht nicht mehr primär durch das Bild, sondern durch seinen sozialen Gebrauch.

Nimmt man diese Voraussetzungen zusammen, gibt es für die Erinnerung keine andere Möglichkeit, als sich einem Prozeß der ständigen Selbstreflexion zu stellen. Das ist anstrengend und schmerzhaft: Wahrhaftigkeit wird nicht genügen, wenn es nicht auch Klugheit gibt. Und plötzlich bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob mein „Nein“ der falschen Antwort oder der richtigen Frage gilt.

Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben 2006

Text: veröffentlicht in konkret, Heft 5-2006

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