Das war ihr Leben!

Der ästhetische Grenzgänger Zülfü Livaneli  hat eine spannende Biografie – von ihm selbst erzählt wird ein Ballett der Eitelkeiten daraus.

1971 in einem Zug an der Grenze zu Deutschland. In der Hoffnung, für wohlhabende Touristen gehalten zu werden, haben sich Dutzende Türken, die nach dem Militärputsch aus ihrer Heimat flüchten, blaue Anzüge angezogen. Gerade das macht sie der Polizei verdächtig. Nur ein junger Mann, ungewaschen und verschlafen, erscheint ihnen unverdächtig echt. Die Polizei lässt Mehmet Basmaci alias Zülfü Livaneli mit seinem falschen Pass einreisen. Die Flucht nach Schweden gelingt. Die falschen Europäer müssen zurückbleiben.

In der surrealistisch anmutenden Szene, die der 1946 geborene Künstler in seinen Memoiren beschreibt, fließt vieles zusammen, was seine Existenz ausmacht: Das Nomadische, Grenzüberschreitende, stets Gefährdete ebenso wie die Identitätsprobleme seiner Heimat. Sie liest sich aber auch wie ein Schlüssel zum Verständnis des Künstlers Livaneli. Dieser Mann verstellt sich nicht. Er tut das, was ihm seine innere Stimme eingibt. Und liegt richtig damit. Anders wäre der Aufstieg von einem linksradikalen Buchhändler und Songwriter zu einem ästhetischen Multitalent und intellektuellen Superstar seiner Heimat, der es bis ins Parlament nach Ankara schaffte, auch kaum zu erklären.

Ein Mann, der in seinem Leben rund 50 Freunde durch politischen Mord und Totschlag verloren hat, mehr als einmal in Untersuchungshaft saß und aus seiner Heimat fliehen musste, ist in gewisser Weise immun gegen Kritik. Zudem erhellen Livanelis Lebenserinnerungen durchaus seinen Werdegang im magischen Dreieck von alevitischer Volksmusik, historischem Materialismus und Pop. Literarisch sind sie für einen so vielseitigen, experimentierfreudigen Künstler ausgesprochen eindimensional ausgefallen.

Der ästhetische Grenzgänger, der die Musik der türkischen Laute mit dem Rock verschmolz, Nazim Hikmets Lyrik vertonte, mit Mikis Theodorakis eine griechisch-türkische Freundschaftsgesellschaft gründete und die Filmmusik für Yilmaz Güneys Film „Yol“ schrieb, ist ein Musterbeispiel für Interkulturalität und Transdisziplinarität. Nicht nur, dass Livaneli so sehr auf sein bewegtes Leben als Plot vertraut, dass seiner Autobiografie jeder doppelte Boden fehlt – er entwickelt ihn als schlichten, streng chronologischen Report. Sein ungebremster Hang zum selbstverliebten Enthusiasmus lässt ihn auch die „distanzierte Erzählweise“, die er seiner Literatur sonst attestiert, vergessen. So verflacht dieser „Roman meines Lebens“ gegen Ende zu einer TV-Show nach dem Motto: „Das war mein Leben“ mit jeder Menge Überraschungsgästen – von Maria Farantouri über Joan Baez bis zu Michael Gorbatschow.

Das Leben des heute 64-jährigen Livaneli ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie die Begegnung mit der Kunst einen Menschen vor engstirnigem Nationalismus bewahrt und zum kosmopolitischen Intellektuellen reifen lässt. Der Reigen prominenter Geister, in dem er sich zum Schluss selbst inszeniert, zeigt aber auch die Schattenseiten dieses Typus. Livanelis Selbstrelativierung, sein Leben sei „in der kosmischen Ewigkeit noch nicht einmal ein aufleuchtendes Glühwürmchen“, liest sich da plötzlich wie ein eitles Understatement.

Text: Ingo Arend

Zülfü Livaneli: Roman meines Lebens. Ein Europäer vom Bosporus.

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.

Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 365 S., 22, 95 EUR

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