Der Geist von Casablanca

Ein rotes und ein gelbes Rechteck auf schwarzem Grund, flankiert von zwei weißen Quadraten, das Ganze durchkreuzt von weißen und blauen Diagonalen. Auf den ersten Blick hält man die titellose Arbeit an der Wand für ein klassisches Bauhaus-Bild, so wie sie mit Horizontale und Vertikale spielt. Wer näher herantritt, bemerkt: Es handelt es sich um einen Teppich.

Das Werk stammt von Yto Barrada. Dazu inspirieren lassen hat sich die französisch-marokkanische Künstlerin, Jahrgang 1971, von der Bauhaus-Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, Jahrgang 1889. Entstanden ist das Stück vor zwei Jahren in der Zusammenarbeit mit dem Weberei-Atelier des Frauen- und Jugendzentrums Darna in Tanger.

Barrada, 2011 „Artist of the Year“ der Deutschen Bank Kunstsammlung, nimmt damit ein weiteres Vorbild auf: Das der amerikanischen Künstlerin Sheila Hicks. Die 1943 in Nebraska geborene Pionierin der Textilkunst, Schülerin des Bauhäuslers Josef Albers, folgte Anfang der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts einer Einladung der Regierung nach Marokko.

Sheila Hicks  Gebetsteppich, 1972, Wolle, 250 x 125 cm  © mit Genehmigung der Künstlerin und Demisch Danant

Sheila Hicks | Gebetsteppich, 1972, Wolle, 250 x 125 cm | © mit Genehmigung der Künstlerin und Demisch Danant

Um die Traditionen des Landes revitalisieren zu helfen, arbeitete Hicks in dem nordafrikanischen Land mit Weberinnen zusammen. Auf sie geht die „School of Casablanca“ zurück, die sich ab 1973 an der dortigen Kunsthochschule formierte – eine künstlerische und intellektuelle Aufbruchsbewegung.

Hicks hatte begonnen, sich während ihres Studiums in Yale für Textilkunst zu interessieren. Wie kongenial sie ihr Ziel erreichte, dieser, lange als dekoratives Handwerk abgetanen, Technik mehr Anerkennung zu verschaffen, lässt sich an einer Arbeit aus dem Jahr 1972 in Marokko erkennen. Die bunt abgebundenen Wollbündel, die aus dem ockerfarbenen „Gebetsteppich“ herausragen, entgrenzen dessen Oberfläche, geben ihm Bewegung und Volumen.

Das späte Echo ihrer Kunst kann man dann in einem Werk wie „Feuer im Ozean“ sehen. Mit einem Teppich im klassischen Sinne hat die Arbeit des marokkanischen Künstlers Mostafa Maftah von 1979 nicht mehr viel zu tun. Das wilde rote Wollknäuel, das da aus einem rhythmisch bewegten, blauen Linienbündel emporsteigt, erinnert mehr an das Bild eines Lavastroms, der zum Ausbruch drängt.

Kein Wunder, studierte Maftah doch zu der Zeit an der Kunstakademie in Casablanca: „1979 durchlebten wir eine hitzige Zeit, das heißt, sie war revolutionär, explosiv. Wir wollten Rahmen sprengen, eine Freiheit des Denkens erlangen und zu einem gewissen kindheitsnahen Naturzustand zurückkommen“ erinnert sich der Absolvent an eine Zeit, die kulturgeschichtliche Weichen stellte.

Politische und ästhetische Befreiung gingen damals Hand in Hand: Ein „Objekt von Farbe“ nennt Maftah seinen „Teppich“ deshalb konsequent. Und hat ihn an die Wand gehängt.

Der interessanten Ausstellung geht es nicht um eine systematische Kulturgeschichte des Teppichs. Auch wenn sie Arbeiten weiterer Bauhaus-Künstler präsentiert. Die Entwürfe abstrakter Teppiche von Gunta Stözl oder Anni Albers etwa vom Beginn der Zwanziger Jahre.

An klug ausgewählten Einzelbeispielen erinnert die Kuratorinnen Salma Lahlou, Mouna Mekour und Alya Sebti vielmehr an den – aus dem Osten stammenden – Teppich als Medium der europäischen Kunst. Eine Faszination, die in Europa spätestens mit Hugo von Tschudis Ausstellung „Meisterwerke Muhammdeanischer Kunst“ 1910 in München begann.

Vor allem arbeiten sie die Ähnlichkeiten zwischen der modernistischen Formensprache und den indigenen Traditionen heraus. Es frappiert schon, wie die „verrückten Teppiche“ der Azilai oder der Beni Quarain, zweier Bauernstämme aus dem Atlasgebirge: halbabstrakte Zufallsmuster oder unendlich sich wiederholende, schwarze Rautenmuster auf weißem Grund, einerseits abstrakten Bauhaus-Mustern ähneln.

Von hier führt aber auch ein Weg zu den Teppichen des französischen Künstlers Saâdane Afif. Während der Marrakesch-Biennale gab der Berliner Künstler auf dem Marktplatz eine öffentliche Geometriestunde. Die dabei entstandenen Zeichnungen übertrug er, zusammen mit lokalen Webern, auf einen von Berberteppichen inspiriertes Stück – noch ein Echo auf die Öffnungspolitik der „Schule von Casablanca“ vierzig Jahre früher.

Mosta Maftah: Feu en Océan, 1979; wool, silk threads, cotton, 85 x 160 cm © courtesy of the artist and Thinkart

Mosta Maftah: Feu en Océan, 1979; wool, silk threads, cotton, 85 x 160 cm © courtesy of the artist and Thinkart

Mit solchen Zwiesprachen entsteht das faszinierende Bild eines ästhetischen Dialogs. Scheinbare Essentials der West-Moderne: Gegenstandslosigkeit, die Entgrenzung des Bildraumes, das Streben ins Dreidimensionale verdanken sich auch der Auseinandersetzung westlicher Künstler mit dem „Handwerk“ des Vorderen Orients.

So gesehen wird der Teppich zur Metapher – der einer untrennbaren Verflechtung der Codes, Techniken und Akteure. Wer jetzt einen Kulturkampf zwischen Muslimen und Abendland herbeireden will, zieht sich gleichsam selbst den Teppich unter den Füßen weg.

Ingo Arend

taz vom 11.2.2017

AUSSTELLUNG

In the carpet. Über den Teppich

ifa-Galerie Berlin, Linienstr. 139/140

Noch bis zum 12. März 2017

Katalog, 15 Euro

Bild ganz oben: Yto Barrada: untitled (realised in cooperation with the Darnas weaving workshop for women), 2014; hand-woven wool, 172 x 195 cm; © courtesy of the artist and the Sfeir-Semler Gallery Hamburg / Beirut