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Alain Badiou

In Jean Luc Godards vorletztem Film „Film Socialisme“ hält der französische Philosoph Alain Badiou eine Vorlesung vor leeren Sitzen. Was immer der Altmeister des Kinos damit ausdrücken wollte – die Einsamkeit eines großen Theoretikers im Bildschirmzeitalter, die noch größere Einsamkeit eines linken Theoretikers in Zeiten der Restauration, den Bildungshunger auf Kreuzfahrtschiffen –, von Godard ist bekannt, dass er Badious Filmessays der vergangenen fast fünf Jahrzehnte gelesen hat. Badious deutscher Verlag ist offenbar der Ansicht, dass der Leserkreis erweitert werden muss und hat in einem umfangreichen Band Artikel zu einzelnen Filmen wie grundsätzliche philosophische Betrachtungen zur Filmkunst herausgebracht.

Badiou schreibt über einzelne Filme wie Robert Bressons „Le Diable, probablement“, Murnaus „Der letzte Mann“, Godards „Tout va bien“, „Matrix“ der Wachowski Brothers, über Manoel de Oliveira, Godard, John Woo, Clint Eastwood, Godard, Visconti, Chaplin – und natürlich über Godard. Große Regisseure dominieren, Unterhaltungsware kommt kaum vor. Wer vom Philosophen nun eine große Filmtheorie erwartet, wird, anders als bei seinem universitären Lehrer Gilles Deleuze, enttäuscht. Badiou ist in diesen Essays stets auf dem Sprung zur großen Theorie – aber er verharrt bei der Geste des Sprungs, und das ist ein eindeutiger Vorteil. Oft bleiben einzelne Bemerkungen hängen; Film, Liebe und Revolution sieht er als sehr verwandte Erscheinungen, was, verkürzt gesagt, etwas mit ihrer jeweiligen Neigung zu Brüchen im Lauf der Zeit und anschließenden überraschenden und anarchischen Synthesen zu tun hat. (Die verständlichere Langfassung findet sich in dem Essay „Der Film als philosophisches Experiment“).

Wenn Badiou so etwas wie eine Filmtheorie imaginiert, dann liegt sie in seinen Bemerkungen zur siebten Kunst, die von ihren aristokratischen Vorgängern das je demokratische Element absondert und zu einer Massenkunst, einer demokratischen Kunst bündelt, über die auf den Straßen oder in den Cafés genauso hingebungsvoll, gut und ohne spezifische Vorbildung gesprochen werden kann wie im Filmseminar, das aufwendig Anspielungen und Techniken entschlüsselt. So gesehen ist der Filmtheoretiker Badiou ein Anti-Bordwell. Aber er will ja gar keine große Theorie, sondern begnügt sich mit philosophischer Querdenkerei – und die ist auf jeden Fall anregend.

Mario Scalla 

epd-film 01-2015

Bild: Alain Badiou (born 17 January 1937 in Rabat, Morocco) is a prominent French philosopher, formerly chair of philosophy at the École Normale Supérieure (ENS) – pictured in FNAC Montparmasse (Paris) in occasion of a book show, february, 5th in 2010 CC BY-SA 3.0  Siren-Com – Eigenes Werk

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Alain Badiou

Kino. Gesammelte Schriften zum Film.

Passagen Verlag

361 Seiten, 42 EUR