Die Filme von Heynowski und Scheumann, wiedergesehen

Für Heynowski und Scheumann, H & S, wie man sie gern nennt, war das Dokumentarfilmen immer ein Kampf; die Verhältnisse sollen durch die Kamera zum Selbstausdruck gezwungen werden. Mit vielen, wenn nicht mit allen Mitteln. Da war die Kamera das Moment des Zusetzens und der Attacke. Der verborgene Zusammenhang sollte sich offenbaren. In der Montage von Bildern aus verschiedenen Zeiten und Räumen, verschiedenen Abbildungsformen zwischen Standbild, Zitat, Studio-Aufnahme und Reportage. Der Schnitt ist die Bewegung, die Stellung, die Finte auch. Kamera und Montage waren Waffen des Guten gegen das Böse. Kommentare schufen deutliche Linien. Bilder Empörung und Leidenschaft. Weil das auf der Oberfläche so klar schien, wollte man im Diskurs zwischen Dokumentarismus und Propaganda etwas anderes nicht sehen. Heynowski und Scheumann waren indes auch gleichsam naturalistische Essayisten. Das Erschrecken und der Schrecken gehen in manchen ihrer Filme über das diskursiv, dialektisch fassbare Maß hinaus, und dort kippen die Filme in eine Ontologie des Bösen. Was H & S sahen in Afrika, zum Beispiel, das war das Unerträgliche und Nicht-Hinnehmbare. „Africa Adio“ hieß im Westen ein noch viel unerträglicherer, bösartig rassistischer „Dokumentarfilm“, den Gualtieri Giacopetti gedreht hatte, und der eine Welle von gleichartigen Filmen über das Grauen in der Welt nach sich zog, von dem das Publikum offenbar nie genug bekam. Nein, natürlich geht es nicht darum, die Filme von Heynowski und Scheumann mit dem nihilistischen Trash dieses Genres zu vergleichen. Aber hier wie dort ging es um eine Welt, deren Bosheit nicht mehr zu fassen schien, vor allem in jenen Bereichen von ihr, in denen sich der Kampf zwischen West und Ost, Sozialismus und Kapitalismus in unentschiedenen Stellvertreterkriegen mit ganz anderen, archaischen, anarchischen und psychotischen Impulsen verband. Die Bilder und die Sprache, die sie generierten, waren stärker als die kognitiven und diskursiven Fähigkeiten der Kulturen – im Osten wie im Westen – mit ihnen fertig zu werden. Und die medialen Beschleunigungen dieser Zeit taten ein ihres, dass Bild und Text in den Mitten der Gesellschaften nicht mehr übereinstimmen konnten. In den Bildern war die Welt schon am Ende der sechziger Jahre verloren, während die Texte und die Interessen sie zusammenzuhalten versuchten. Natürlich konnte man diese Wahrheit, wie in den H&S-Filmen, aus der Sicht eines guten und „sauberen“ Subjekts her sehen wollen, und natürlich konnte es im Westen nicht anders als in der Form jener Kultur geschehen, die den Ehrentitel „Trash“, Müll, nicht umsonst erhielt. Heynowsky und Scheumann sahen die Wirklichkeit als ihren Gegner, und man sah sie so genau, um sie politisch und menschlich überwinden zu können, um die Spuren der Überwindung in ihr zu erkennen; im Westen sah man die Wirklichkeit zu dieser Zeit als Ansammlung von Waren und Zeichen, die das Spektakel des Weltuntergangs aufführten.

Heynowski und Scheumann reagierten mit ihren Filmen auf die Welt als Scherbenhaufen, den sehr konkrete Menschen unter sehr konkreten Bedingungen und mit sehr konkreten Interessen anrichteten. Sie nannten sie nicht nur beim Namen, sie gaben ihnen Gesichter, sie ließen sie reden, und in den besten ihrer Filme sahen sie buchstäblich dem Trash-Kapitalismus und seinen Protagonisten bei der Arbeit zu. Diese Arbeit bestand darin, in Afrika, in Vietnam, in Chile, die Welt in eine Hölle zu verwandeln, und in den seltenen Augenblicken der Wahrheit, die H & S wie sonst kaum jemand einzufangen und zu kontextualisieren wussten, plapperten die Protagonisten heraus, was ihnen im Kopf herumging. Die Gier, der Zynismus, die Korruption, mit absurden Phrasen versehen. Und immer wieder: das neue, kapitalistische Gesicht des Faschismus.

Wären Heynowski und Scheumann Filmemacher aus dem Westen gewesen, die Kritik hätte wohl nicht umhin gekonnt, sie, wenn auch zähneknirrschend hier und dort, als cineastische Kämpfer um die Wahrheit zu loben, die aufzudecken sich die Mainstream-Medien weigerten, aus unterschiedlichen Gründen, die sich am Ende freilich immer in Mark und Pfennig ausdrücken ließen. Aber Heynowski und Scheumann kam aus der DDR; sie waren zwar auf eine eigentümliche Weise unabhängig im Mediensystem des sozialistischen Staates, aber sie waren, so lange sie Freund und Feind in der richtigen Zuordnung behielten, mehr als nur geduldet, oft nach Kräften gefördert. Das hat es der Kritik im Westen natürlich leicht gemacht, immer nur „Propaganda“, „Agitation“ und „Einseitigkeit“ zu rufen, aber Heynowski und Scheumann machten es auch der liberalen, kritischen und neugierigen politischen Cineasten-Szene im Westen nicht immer leicht. Zu rabiat waren oft die Mittel, zu krass die Verstöße gegen die moralischen Standards von filmischem Dokumentarismus, zu viel „Polit-Sprech“ mischte sich in die Kommentare, zu holzhammerhaft manipulativ oft die rhetorische Montage. Doch wie dem auch sei: H & S-Filme erfüllten über zwei Jahrzehnte das erste Gebot des Films von Rang: Das Unsichtbare sichtbar zu machen.

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Piloten im Pyjama

Immer wieder ging es um die Machenschaften des „Neo-Imperialismus“ auf allen Kontinenten, es waren Reisen in eine Welt des Grauens, und immer wieder auch um den obszönen Umgang mit dem Nazi-Erbe in Westdeutschland, wie in „Meiers Nachlass“, wo eine Versteigerung in München gezeigt wird, eine Nahaufnahme auf ein Prunkgerät und seine Widmung: „Dem Ministerpräsidenten und General der Flieger Herman Göring in Treue“. Am Ende erfahren wir nicht nur, dass es um die Versteigerung aus dem „ehemaligen Besitz von Herman Göring“ geht, sondern auch dass der Freistaat Bayern daraus die für damalige Verhältnisse (1974) beachtliche Summe von 641 590 DM einstreicht.

Den Zusammenhang von Geld und politischem Verbrechen untersuchen Heynowski und Scheumann nicht nur in den großen Arbeiten, sondern auch in einer „kleinen Form“, wie cineastische Glossen, Randbemerkungen oder Gelegenheitsreaktionen. In nur sechs Minuten erklärt „Geldsorgen“ einen solchen Zusammenhang in den Aussagen des chilenischen Junta-Mitglieds und Bank-Chefs, der erzählt, wie er die Banknoten umtauschen muss, weil unbotmäßige Untertanen Anti-Junta-Parolen darauf kritzeln, und dann macht er sich nichts daraus, vor der Kamera einen solchen zum Flugblatt umfunktionierten Geldschein zu verlesen: Die Junta besteht aus Dieben, heißt es da. Will er nicht verstehen, dass er gerade den moralischen Schuldspruch über sich selbst verlesen hat, oder demonstriert er in seiner Arroganz, dass ihm so etwas nichts anhaben kann? Man könnte gleichsam von H & S-Momenten sprechen, in denen die Mächtigen und ihre Handlanger sich in einem cineastischen Augen-Blick selbst entlarven.

Heynowski und Scheumann waren auf der Suche nach Bildern der Obszönität der Macht. Doch ihre Zuschauer bringen sie immer auf die „richtige Seite“, sie lassen sie nie mit dem Schrecken, den solche Momente auslösen, allein. In einem bezeichnenden Satz im Neuen Deutschland erklärt der Kritiker Rolf Richter zu „Meiers Nachlaß“: „Die sichere Haltung der Filmemacher ihrem Stoff gegenüber überträgt sich auf den Zuschauer“. Als gelte es, sich durch Distanz und festen Standpunkt vom Schrecken dieses wahnwitzig-wahrhaften Moments zu sicher. Aber weder die Bilder noch die Sprache geben eine solche einfache Grammatik her, so wenig wie der Schmutz der „Mondo“-Filme ganz und gar in der rassistischen Propaganda und der Sensationsgier allein aufgehen. Hinter dem Erschrecken darüber, wie der Kapitalismus funktioniert, lauert ein Grauen darüber, wie der Mensch ist. Radikaler H & S-ismus würde die Welt als unrettbar verdammen, der Rhetorik der „sicheren Haltung“ zum Trotz.

So haben wir schon drei sehr unterschiedliche Blickwinkel, unter denen man ein halbes Jahrhundert später die Filme von Heynowski und Scheumann ansehen kann: Als Dokumentationen, die das in der westlichen Propaganda und der populären Kultur Verborgene des „Neo-Imperialismus“ mit (vielleicht hier und dort fragwürdigen Mitteln) ans Tageslicht brachten – sie sind, was das anbelangt, und unabhängig von ihrer Ästhetik und Produktionsweise, Zeitdokumente von höchstem Rang. Als eine Form der parteilichen Aufklärung, deren politischen Ausgangspunkt man akzeptieren kann oder nicht, und deren Energien, Drastik und Zorn, nach einer Phase der strengen Ethik des Dokumentarischen wieder erstaunlich aktuell sind: Ist es sinnvoll, in asymetrischen Bilderkriegen auf die „Objektivität“ oder wenigstens die ständige moralische Selbstkontrolle zu achten und darauf zu verzichten, à la Michael Moore den Gegner mit den eigenen Mitteln zu attackieren? Heynowski und Scheumann wieder zu sehen erinnert an den Dokumentarfilm als Pamphlet und audiovisuelle Kampfansage, mehr als schlichte Propaganda drückt sich in ihnen sarkastischer Zorn über den Zustand der Welt aus. Allein der Gestus, den politischen Verhältnissen den Kampf anzusagen, so oder so, rettet das Prinzip Hoffnung im Dokumentarfilm. Und als drittes, man möchte sagen: heikles Element gilt es einen Exploitation-Effekt zu diagnostizieren. Damit ist nicht unbedingt immer ein ökonomische Ausbeutung einer Bilderwelt verbunden, so wie wir es in einer kapitalistischen Traumfabrikation kennen, wo staatliche und gesellschaftliche Zensur durch das Schaffen von „Vorwänden“ umgangen wird (die Gewaltorgie eines Kriegsfilmes, der mit einem „mahnenden“ Schlusswort versehen wird, ein „Sexfilm“, der als „Aufklärung“ verkauft wird, eine „Literaturverfilmung“ die auf die verbotenen Stellen hinaus will und so weiter). Exploitation, das ist, allgemeiner gesprochen, immer auch das Drängen einer sub-diskursiven „Wahrheit“; Exploitation heuchelt im besonderen, um der allgemeinen Heuchelei ein Schnippchen zu schlagen. Und H & S-Filme, in der Rückblende, sind nicht so sehr dort interessant geblieben, wo sie ganz einfach „recht hatten“, sondern dort, wo sie in die Psyche, in die Selbstbildnisse von politischen Tätern der Nachkriegszeit eindringen. Wo man, wie man so sagt, in den Abgrund schaut. Das gilt nicht nur für Filme, in denen diese Täter im Zentrum stehen, sondern, zum Beispiel auch für „Krieg der Mumien“, wo der CDU-Abgeordnete Heinrich Gewandt, die „Kreditwürdigkeit“ des Pinochet-Regimes betont. In allen diesen, gewiss: ertricksten, Selbstoffenbarungen liegt als Tieferes der Wahrheit nicht so sehr deren „Ideologie“ als deren Techniken des Lügens und der Selbstrechtfertigung. Und in „Ich war, ich bin, ich werde sein“ dient die Technik des Guerilla-Shooting unter den Augen der Machthaber in einem chilenischen Lager auch der Darstellung einer Mechanik von Macht und Gewalt, und der Film ist zugleich das Material für eine Anklage im Sinne des Menschenrechtes. Die List, mit der es in den Jahren 1973 und 1974 mit der Kamera in die Lager zu gelangen galt (wenngleich natürlich nur dorthin, wo es die Kommandanten glaubten, erlauben zu sollen) wird im Film selber dargestellt. Es war erklärtes Ziel dieses Films, die Häftlinge zu identifizieren, nicht nur, um ihnen einen winzigen Teil der geraubten Menschenwürde zurück zu geben, sondern auch um einen Auftrag zu erfüllen: „Für jeden, der in diesem Film zu erkennen ist, wird die Junta rechenschaftspflichtig sein, eines hoffentlich nicht mehr fernen Tages“ (Heynowski und Scheumann).

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Mitbürger!

Die Filme von Heynowski und Scheumann halten den Augenblick stets fest, um ihn in einen größeren Zusammenhang zu stellen, was, gelegentlich, eher durch diskursive, vertextete als durch audiovisuelle Elemente geschieht, aber eben auch dies gehört zur spezifischen politischen Ästhetik der H&S-Filme, ob man sich nun in der westlichen Kritik über allzu viel politischen „Unterricht“ beklagte oder nicht. Denn eben darum ging es ja: Den Schrecken der Welt, der Grausamkeit von Herrschaft und Ausbeutung, statt einer vagen Hoffnung ein politisches Bewusstsein, wenn man so will: eine dialektische Welterzählung gegenüber zu stellen. Heynowski und Scheumann erklären das in ihren „Merksätzen für die zukünftige Produktion“[1] so:

„Wo die Wirklichkeit dialektisch – und damit ehrlich! – betrachtet und aufgezeichnet wird, kann das eingebrachte Material von der Wirklichkeit nicht mehr ‚entwertet’ werden: denn ein dialektisch aufgezeichnetes Material muss auch alle Elemente für eine Interpretation möglicher Umschwünge und überraschender Wendungen er Geschichte enthalten“.

Notwendig also zerfällt ein H & S-Film vor den Augen des nicht dialektisch denkenden Zuschauers in die Gegenwärtigkeit des den politischen Verhältnissen entrissenen dokumentarischen Bildes (jener Aspekt mithin, der im Westen zumindest was die großen Filme über Afrika, Asien und Lateinamerika betrifft, stets kritisch akzeptiert werden konnte, solange die eingesetzten Mittel nicht das Maß an Täuschung der Objekte überschritt, das man durchaus variabel einsetzte; offenbar gibt es Unterschiede in der Täuschung eines chilenischen Lagerkommandanten und eines bundesdeutschen Parlamentariers, wenn es um die Herstellung cineastischer Wahrheit geht) und in die politische Antithese. Aus dem richtigen Sehen und dem richtigen Denken (Sprechen) folgert, was die Dialektik der Heynowski und Scheumann-Filme anbelangt, das richtige Handeln. Denn natürlich käme es auch für einen Dokumentarfilm nicht darauf an, die Welt nur zu sehen, wie sie ist, es käme für einen dialektischen Dokumentarfilm darauf an, sie zu verändern. Indem sie versuchten, diese Veränderung – die Veränderbarkeit zumal – in ihre Filme mit einzubeziehen, mussten die Filmemacher gegen die „demokratische“ Moral des Dokumentierens verstoßen. Ein unlösbarer Widerspruch. Ein produktiver.

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Der lachende Mann

Das ist ein doppelter Effekt von Täuschung und Ent-Täuschung: Auf der einen Seite durchschauen die politischen Objekte die Darstellung nicht, weil sie in ihrer Eitelkeit und Überheblichkeit erwischt werden, auf der anderen Seite sind die Zuschauer durchaus eingeladen, die agitatorische Ebene des Filmes zu durchschauen, indem man sie, zum Beispiel teilt, oder auch indem man sie „ausblendet“. Die eigentliche Wahrheit beginnt dahinter. Sie zeigt einerseits Interessen und andererseits Charaktere, die hinter ihnen stehen, als Nutznießer und als Erfüllungsgehilfen. Interessant ist immer wieder, dass beides nicht vollständig ineinander aufgeht. Und es ist ein Spiel mit einer möglichen Infektion. Als nämlich etwa „Meiers Nachlaß“ in Westdeutschland gezeigt wurde, gab es Kritiker (wie zum Beispiel Eckart Kroneberg vom „Tagesspiegel), die, nicht völlig von der Hand zu weisend, auf einen „Nostalgie-Effekt“ der Göring-Zitate deuteten: den „sicheren Standpunkt“ erzeugen die H&S-Filme nicht so sehr, sie setzen ihn vielmehr voraus. In „Ohne Arbeit“, dem Film über Arbeitslose in der BRD, den Dieter Klein und Peter Voigt für das Studio H & S drehten, sieht man nicht zuletzt die völlige Unfähigkeit der Betroffenen, sich einen politischen Reim auf ihre Situation zu machen. Es fehlt ihnen, gewiss doch, an Klassenbewusstsein, doch wäre vielleicht die Vorführung dieser Bewusstlosigkeit in heutiger Sicht auch als „Klassismus“ zu werten. Die Kamera in „Ohne Arbeit“ ist gleichsam bei Selbstgesprächen der Betroffenen Zeuge, strukturiert sie aber durch Marx-Zitate; man kann das so sehr als Erkenntnis empfinden wie als eine gewisse Mitleidlosigkeit. Die Dialektik fordert einen Tribut. Der Weg zum Menschen in den Bildern der H & S-Filme führt immer zugleich über das Wahrnehmen und über das Denken. So ist auch keine schnelle Tröstung zu haben.

Noch einmal aus den „Merksätzen“: „Bloße Schnelligkeit fördert Stunden-Wahrheiten zutage – richtig verstandene Aktualität: Epochen-Wahrheit. Über viele Jahre herrschte eine Form der Beobachtung bzw. Berichterstattung vor, die Leser und Zuschauer bei plötzlichen Umschwüngen und Wendungen des geschichtlichen Prozesses verunsicherte. Die Anerkennung eines ‚mündigen’ Publikums setzt aber voraus, dass dieses Publikum insofern stärkeren Belastungen auszusetzen, als ihm einseitige Darstellungen erspart werden und eine dialektische Sicht auf die Dinge ermöglicht wird. Voraussetzung dafür ist die dialektische Sicht der Beobachter, die sich auf einen Schauplatz begeben. Schwierigkeiten bei der Durchsetzung dieser Betrachtungsweise sind vorauszusehen: die Formen der Widerspiegelung der Wirklichkeit unterliegen den gleichen Gesetzen wie die Wirklichkeit selbst“.

Gerade dieser letzte Satz erklärt mehr als ein Abwägen des Mittel-und-Zweck-Prinzips die politische Ästhetik der H & S-Filme und ihren fundamentalen Widerspruch zur demokratisch-kapitalistischen Form des Dokumentarismus, in dem Prinzipien wie Offenheit und Fairness den positiven, ein inhärentes Verbot des Denkens von „plötzlichen Umschwüngen“ den negativen Pol bilden. Um der Wirklichkeit „gerecht“ zu werden, muss man sie akzeptieren, wie sie ist (und nicht erst im Trash-Dokumentarfilm führt dies zu einer Form der fatalistischen Sensationsgier), um sie aber zu verändern, muss der Eingriff schon in ihrer Widerspiegelung sichtbar werden. Wir tun uns vielleicht daher leichter, die meisten H & S-Filme trotz ihres konkreten und augenblicklichen Ausgangsmaterials eher als Essay- denn als reine Dokumentarfilme zu betrachten. Dann ist der „agitatorische“ Text als dialektischer Teil der filmischen Widerspiegelung kein paradigmatischer, sondern ein syntaktischer Teil des Filmemachens, nichts übergestülptes und mitgeliefertes, wie es immer wieder in den auch wohlwollenden Kritiken im Westen gesehen wurde. Auch dort gab und gibt es Filmemacherinnen und Filmemacher, die sich an Formen des dialektischen Films erprobten, Godard, Kluge, Farocki oder Varda. Interessanterweise (vielleicht weil sie an die „sichere Haltung“ bei H & S nicht glauben konnten) verkehren sich hier die Funktionen von These und Antithese, die augenblickliche, konkrete und aktuelle Wirklichkeit erscheint bei Godard zum Beispiel als Antithese. Vielleicht könnte man bei den Essay-Filmern des Westens sogar am ehesten von einer Form der negativen Dialektik ausgehen (was sie für einen „sicheren“ marxistischen Standpunkt möglicherweise genau so „unlesbar“ machte wie Heynowski und Scheumann-Filme in dieser cineastischen Kultur als agitatorisch plump erscheinen mussten und man sie daher gern auf ihren investigativen und aktuellen Gehalt reduzierte). So gälte es nun, die Geschichte von Dialektik im Dokumentarischen/Essayistischen Film neu zu schreiben. Kritisch und unvoreingenommen. Als Dialektik der filmischen Dialektiken sozusagen.

II 

Heynowski und Scheumann kamen vom Journalismus. Was unter anderem heißen mag, dass es ihnen erst in zweiter Linie auf das vollendete Kunstwerk, in erster Linie aber auf die Wirkung ankam. Beide aber auch hatten ihre hautnahen Erfahrungen mit der westlichen Nachkriegspolitik. Walter Heynowski, geboren in Ingolstadt, studierte nach amerikanischer Kriegsgefangenschaft Volkswirtschaft in Tübingen und leitete die Zeitschrift „Die Zukunft“ in Reutlingen, als er von der französischen Sicherheitspolizei verhaftet und ohne Urteil für ein halbes Jahr eingesperrt wurde. Seine Übersiedlung nach Berlin war halb Flucht und halb Entscheidung. Hier begann er 1948 als Redakteur bei der „Berliner Zeitung“, im Jahr darauf übernahm er die Redaktion der satirischen Zeitschrift „Frischer Wind“, die im Jahr 1954 in „Eulenspiegel“ umbenannt wurde. Dann wechselte er 1956 zum Deutschen Fernsehfunk, wo er als Autor, Regisseur und schließlich leitender Redakteur der Sendung „Zeitgezeichnet“ Erfahrungen sammelte. Nachdem er eine Zeit als stellvertretender Intendant und Programmdirektor tätig war, erschien ihm die praktische Filmarbeit interessanter als eine Büro-Karriere, und er wechselte zum DEFA-Studio für Dokumentarfilme, wo er zwei Jahre als Autor und Regisseur arbeitet, bis im Jahr 1965 die Zusammenarbeit mit Gerhard Scheumann begann.

Scheumann war Schüler einer „Nationalpolitischen Erziehungsanstalt“ gewesen, bevor er 1945 nach Nordhausen floh. Seine journalistische Arbeit begann er, seit 1949 Mitglied der SED, bei der Zeitung „Thüringer Volk“ und arbeitete zu Beginn der fünfziger Jahre beim Berliner Rundfunk und war Lehrbeauftragter an der Fachschule für Rundfunkwesen. Zu Beginn der sechziger Jahre wechselte auch er zum Fernsehen, wo er für den DFF zwischen 1963 und 1965 das politische Magazin „Prisma“ moderierte.

1969 gründeten die beiden das Studio H & S, das mit seinen Filmen über Afrika, Vietnam, Chile und Kampuchea rasch über die Grenzen der DDR hinaus bekannt wurde. Dass die beiden in einem von der DEFA unabhängigen Studio mit einigen Privilegien mehr und einigen Restriktionen weniger als ihre Kollegen arbeiten konnten, verdankte sich nicht zuletzt auch der Zusammenarbeit mit dem westdeutschen Kameramann Peter Hellmich. Durch diese Konstruktion konnten immer wieder ein paar Türen, die für Mitarbeiter der DEFA oder des Deutschen Fernsehfunks gewiss geschlossen geblieben wären, geöffnet werden. Die Zusammenarbeit von Heynowski, Scheumann und Hellmich in der eigenwilligen Konstruktion der OHG setzte sich über Jahre hin fort; es war zu gewissen Zeiten zweifellos ein Trio von „Autoren“ am Werk.

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Dreharbeiten in Vietnam

Mehr als 70 Dokumentarfilme haben Heynowski und Scheumann in dem Vierteljahrhundert ihrer Zusammenarbeit hergestellt. Sie waren Autoren, Regisseure und Produzenten, „total filmmakers“ eben. Und sie begründeten ein eigenes Genre, den dialektischen Dokumentarfilm, etwas ganz anderes als zum Beispiel die liebevollen Langzeit-Dokumentationen des Ehepaars Junge, etwas anderes aber auch als die gewöhnliche journalistische Filmarbeit mit ihren sauberen Bildern und „sicheren“ Kommentaren.

Gerhard Scheumann hielt vor dem IV. Kongress des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden der DDR eine kritische Rede zur Medienpolitik der DDR. Scheumann hatte versucht, einen gerissenen Gesprächsfaden zwischen den Künstlern und dem sozialistischen Staat wieder aufzunehmen, der doch für den dialektischen Film eine notwendig positive Funktion innehaben sollte. Er forderte nicht mehr als einen fairen Dialog. Dass dieser Kommunikationsversuch so heftig misslang, dass man dem Sprecher sogar den Pass entzog und so an Auslandsreisen hinderte, das markierte einen Bruch, den die Filmemacher nie wirklich überwanden. Das bedeutete nicht nur das Ende des selbständigen Studios H & S, es wurde den beiden Autoren sogar verboten, bei ihrer Arbeit für die DEFA nun das Signet „Heynowski und Scheumann“ noch zu benutzen. Zwischen 1983 und 1991 entstanden weitere Filme des Autorenduos, aber die Privilegien (wie halbwegs unkomplizierte Westreisen) und die Unabhängigkeit waren zunächst einmal dahin, auch wenn ab 1986 das Etikett „Werkstatt H & S“ wieder benutzt werden durfte. Unter diesem Produktionsdach entstanden noch 14 Filme. Die internationale Wirkung der Filme aus den siebziger Jahren erzielten sie indes nicht mehr.

Ein Projekt des dialektischen Filmemachens wurde von der DDR abgebrochen, bevor sie selber abgebrochen wurde. Dass auch das wiedervereinigte Deutschland eher wenig Interesse an ihrer Arbeit zeigte, erklärt sich schon aus der Themenwahl. Denn neben den Verstrickungen der westlichen Politik in die Machenschaften der Diktatoren und korrupten Regimes hatten sie sich immer wieder mit den Umtrieben der alten und neuen Nazis in der BRD befasst. Insbesondere in den späten achtziger Jahren galten in Filmen, die in der Fortsetzung zu „Kamerad Krüger“ (1988, der obszönen Öffentlichkeit gewidmet, in der sich die alten SS-Kameraden zu ihren Taten bekennen und ihre Propaganda weiter betreiben) standen, wie „Die Lüge und der Tod“ (über die Propaganda und den Völkermord im nationalsozialistischen Deutschland) oder „Der Mann an der Rampe“, ihr Interessen dieser anderen Dialektik der „Aufhebung“ des Faschismus in der BRD. Dabei setzten gerade diese Filme das Projekt fort, den Protagonisten die Bühne zum radikalen Selbstausdruck zu bieten: Niemand kann die Wahrheit über Kongo-Müller und einige seiner aus dem fruchtbaren Schoße des deutschen Faschismus gekrochene Zeitgenossen so deutlich ausdrücken als sie es selber tun. Immer wieder fanden Heynowski und Scheumann es, dieses „Gesicht, ein Grinsen, ein kaputtes Mit-sich-selbst-im-Reinen-Sein, das man nicht vergisst“, wie es Simon Rothöler in Bezug auf „Der lachende Mann“ beschreibt[2]. In „Der Mann an der Rampe“ hatten sie, ganz in der von ihnen entwickelten Technik, den Mann vor die Kamera gebracht, der den Zugverkehr in Ausschwitz regelte und sich, ohne Reue, ohne Strafe, seinen Erinnerungen widmet. Diese H & S-Filme können auch gesehen werden als Vorstudien, Essays über das Revivre, das dann in Claude Lanzmanns großem „Shoah“-Film seine vollendete Form fand. Aber um sie in ihrer Bedeutung der Kritik wieder zugänglich zu machen, müssen sie erst wieder gesehen werden.

Die H & S-Filme dieser Zeit fielen in eine Zwischenphase. Die politische und historische Neugier und Offenheit des Publikums war weitgehend verschwunden, es breitete sich stattdessen eine Stimmung aus Historisierung und Nostalgie aus. Das Verborgene drängte von ganz allein an die Oberfläche; in den achtziger Jahren war das alles schon ein offenes Geheimnis, was in den Jahrzehnten zuvor so sorgfältig verborgen worden war. Bei etlichen Filmen, die nun auch in der BRD über die Neonazi-Szene entstanden, konnte man schon darüber streiten, wer da eigentlich wenn „vorführt“, und die obszöne Selbstdarstellung war zum Teil des Nachmittagsprogramms in den bundesdeutschen Sendern geworden. Nach dem dialektischen Film war auch dieses zweite filmische Vorhaben, den Verhältnissen an ihren Protagonisten die Wahrheit zu entlocken, an der Wirklichkeit gescheitert: Es gab nichts mehr zu entlarven. Und im wiedervereinigten Deutschlands galt nichts mehr als Freude und Marktwirtschaft. Kongo Müller bekäme heute eine eigene Fernsehshow.

Im Februar 1990 beschlossen Gerhard Scheumann und Walter Heynowski ihre gemeinsame Arbeit zu beenden. Man hatte, wie es Scheumann ausdrückte, „den Kreis unserer gemeinsamen Möglichkeiten ausgeschritten“. Und es war, könnte man hinzufügen, die Hoffnung geschwunden, mit Filmen die Welt zu verändern.

Die späten Filme von Heynowski und Scheumann warten noch auf ihre Wiederentdeckung. Dieses neue Deutschland wollte von solchen Dingen kaum noch etwas hören. Die filmhistorische Erledigung machte man sich nach Kräften leicht. Natürlich war die Eröffnung von IM-Tätigkeiten für die Stasi dabei dienlich, ein wichtiges Kapitel des Dokumentar- und Essayfilms in die Ablagen zu verbannen. Am Ende musste auch Scheumann die Auflösung dieses Projektes eingestehen und zugleich ein Erbe zu bewahren versuchen: „Vom Ende her betrachtet könnte man natürlich sagen, dass die Definition vom Charakter einer Epoche durch die Geschichte widerlegt ist. Wir haben eine historische Niederlage erlitten und müssen uns damit abfinden. Mir bleibt aber unvergesslich, was ein führender Vertreter der Unidad Popular Chiles sagte, als dieser Prozess in Europa zum Zerfall des realen Sozialismus wurde: ‚Die DDR verlässt uns.’ (…) Wenn wir von der Geschichte auch widerlegt scheinen, so bleiben meiner Meinung nach einige Positionen, deren wir uns niemals zu schämen brauchen, sowohl was Chile als auch Vietnam und Kambodscha betrifft. Da hat die DDR im Gegensatz zu dem Staat, der heute der ganze Staat ist, historische Positionen besetzt, und wir können sagen, wir sind mit unseren Filmen dabei gewesen.“ (zitiert nach Simon Rothöler).

Das Scheitern des Projektes des dialektischen Filmes aber liegt in einer tieferen Ebene. Heynowski und Scheumanns Arbeiten „funktionieren“ nur, wenn es die Instanz des „richtigen“ und „sicheren“ Standpunktes gibt, den man, auch im Konflikt hier und da, in „seinem“ Staat und seinem Geschichts- und Weltbild sah. Lange bevor die DDR als Staat und dann als Gesellschaft (oder war es umgekehrt?) zerbrach, zerbrach diese Sicherheit. Es ist die Tragödie der H & S-Filme, dass der zentrale Punkt für eine dialektische Sicht der Epoche dieser selber nicht standhielt. Ihre dialektische Einheit stimmt nicht mehr, wenn sie je „gestimmt“ hat; was von ihnen bleibt sind grandiose Fragmente, und eben, Dokumente eines Scheiterns. Die kapitalistische Wirklichkeit erwies sich als Sieger im politischen Kampfsport mit den dialektischen Filmemachern.

 

III 

H & S-Film bilden mit dem „dialektischen Film“ so etwas wie eine eigene Form. Wie, jenseits der teils wahrhaft virtuosen Montage sehr disparater Elemente, jenseits der Kunst, die Menschen wie den Kongo Müller, den Kamerad Krüger oder auch die „Wahrsagerin“ Buchela zur selbst-entlarvenden Rede zu bringen, wie jenseits der dogmatischen Reinheit eines nicht nur marxistischen, sondern vor allem dem Selbstverständnis von Staat und Partei in der DDR entsprechendem Weltbildes, ließe sich diese Form verstehen? Einen „Erkundungsfilm“ nannte man „Krieg der Mumien“, der vielleicht am eindringlichsten zeigt, wie Heynowski und Scheumann durch ihre Arbeit wenn nicht die Welt so doch das Wissen von ihr und das Gewissen in ihr veränderten. Nach diesem Film konnte niemand mehr sagen, er habe nicht wissen können, dass der Putsch der Generäle und die Ermordung und Folterung tausender Menschen unter ihrem Kommando das Werk einer besitzenden Klasse, internationaler Konzerne und Geheimdienste und einer verhängnisvollen ökonomischen Ideologie war, die sich bis heute über die Welt zieht und die Spur der Finanzkrisen und Bürgerkriege hinter sich her zieht.

Auch hier benutzen die Filmemacher aktuell-dokumentarische Aufnahmen ebenso wie Spielszenen und Zitat-Montagen, die Poesie von Pablo Neruda und den Tanz des Widerstands. Der Film geht in die Vergangenheit und eröffnet einen Ausblick in eine Zukunft des neuerlichen Umsturzes. Mehr noch als die direkten und investigativen Elemente des Filmes führte dies wohl dazu, dass die offizielle und konsensuelle bundesdeutsche Filmkritik (wo man nicht von Ermordeten, sondern von „zu Tode gekommenen“ sprach, und statt von einem Putsch von „Umsturzaktionen“) den Film eher verlegen, verzagt und nie ohne Distanzierung von seinen „agitatorischen“ Elementen rezensierte. Denn er war, eben dies steckt in einem dialektischen Filmemachen, schon auf das Ende des Regimes hin gedreht, er enthielt die Geschichte der Klassenkämpfe in Chile, und in dieser Geschichte war Pinochet nur eine furchtbare Episode. Um es mit den Worten von Heynowski und Scheumann zu sagen: „Indem der Film versucht, die derzeitige KZ-Wirklichkeit mit Einblicken in die Geschichte der chilenischen Arbeiterklasse zu verbinden, macht er sich anheischig, das Pinochet-Regime geschichtlich zu relativieren, seine vorübergehende Existenz, seine Vergänglichkeit bewusst zu machen. Aus dieser Kompilation leitet der Film seinen Titel her, legitimiert er ihn“.

Und Heynowski und Scheumann dokumentierten auch die Versuche des Regimes, Vergangenheit und Gegenwart aus den Texten und Bildern zu tilgen (zum Teil in öffentlichen Verbrennungen). Ihre Arbeit am Bild erschöpft sich also nicht in der dokumentarischen Widergabe der Ereignisse und der Zustände im terroristischen Staat der neoliberalen Ökonomie, und nicht in ihrer historischen Einordnung, sie machen auch den Kampf um die Bilder deutlich.

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Remington Cal. 12

Der heftige Dokumentarfilm unserer Zeit geht von einer radikalen Selbstermächtigung des filmenden Subjekts gegenüber übermächtigen Bilder- und Erzählmaschinen aus; die Kritik bei Michael Moore wird, wiederum gelegentlich schon im Titel, in der ersten Person Einzahl formuliert. Bei anderen Filmemachern dient dieses Subjekt als Versuchsperson oder „Opfer“ (wie, sagen wir, in „Supersize Me“), oder man folgt den Spuren der Verwüstung von Konzernen, Waffen oder Touristen, gewissermaßen als entschlossene Reise ins Offene. In ihren Einzelteilen arbeiten viele dieser Filme (bewusst oder nicht) mit Methoden und Prinzipien, die Heynowski und Scheumann entwickelt haben. Nur war bei ihnen das Subjekt der Montagen, der Reisen und Befragung nicht der individuelle Filmemacher, der sich empört, sondern der historisch materialistische Begriff der Geschichte, die Epoche, der Klassenkampf, die marxistische Welterzählung. In der Rhetorik über den Bildern verschwammen daher Utopie und Doktrin. Und so wie dort der dialektische politische Dokumentarfilm am Ende an seinen selbst gewählten Voraussetzungen zerbricht, verliert sich hier die radikale soziale Geste (wie es Jean Luc Godard nennt) des einzelnen. In beiden Fällen wird die Ohnmacht des filmischen Subjekts deutlich, und in beiden Fällen besteht die Schönheit des Dokumentarischen darin, dass sich der Blick über die Ohnmacht erhebt. Es gibt immer eine doppelte Gefahr beim Sehen der Wirklichkeit, die äußere und die innere. Der radikale Dokumentarfilm unserer Tage aber kann sich nur auf die Gegenwart des filmenden Subjekts in ihr berufen, Heynowski und Scheumann aber verstanden das filmende Subjekt als direkten Ausdrucks des Subjekts der Geschichte.

Es gibt, so könnte man das wohl interpretieren, keine Gegenwart (und keinen Blick auf die Gegenwart) ohne die Vergangenheit (den Blick in die Vergangenheit) und die Zukunft (den Blick in die Zukunft). Dies widerspricht ganz und gar einer Sichtweise, die in der Vergangenheit nur das Nostalgische, in der Zukunft nur das Apokalyptische und in der Gegenwart nur das fatale Gegebene und das Spektakel sieht. Aber wieder öffnet sich auch die Falle des dialektischen Films. Er muss sozusagen zu viel in den Blick nehmen um beim einzelnen zu verweilen. Die Hoffnung, ja vielleicht die Gewissheit der Veränderung gerät in Widerspruch zur Empathie. „Der Krieg der Mumien“ hatte die unbequemsten Wahrheiten über Chile in deutlichen und unwiderlegbaren Bildern dargelegt, und heute wirkt der Film wie das hellsichtigste und konsequenteste Statement. Aber in der Mitte der Gesellschaft bedurfte es dann doch mehr oder weniger sentimentaler Hollywood-Produktionen, um ein wirkliches Umdenken zu initiieren.

Wir sprachen vom „Exploitation“-Charakter der Filme (ohne dies als Werturteil zu verwenden). H & S-Filme zeigen Dinge, die sie nur zeigen dürfen, weil sie einerseits „dokumentarisch“ sind, und weil sie andererseits in der „richtigen“ politischen Einordnung gelesen werden können. Dabei verheddern sie sich immer wieder in den drei Energien ihrer Entstehung (und genau das ist es, was sie so interessant macht). Wenn sie von den Gefängnissen in Vietnam erzählen, sind sie von den in der Tat barbarischen Details so besessen, dass sie darüber den aufklärerischen Elan vergessen. Wenn sie Menschen erzählen lassen, machen sie sie zu Sprachrohren oder zu blutigen Kasperles der Selbstdemaskierung. Wenn sie anklagen vergessen sie manchmal das komplementäre Gefühl, Anteilnahme und Trauer. Wenn sie Bilder montieren, dann um eine Eindeutigkeit zu suggerieren, die es nie gab. Aber dabei benutzen sie oft reichlich schamlos das, was Roland Barthes das „Schockbild“ nannte, ein Bild, das weniger Wirklichkeit „aufhebt“ als vielmehr zu einem blitzraschen Bruch mit ihr führt. So entsteht manchmal ein Bild der Welt (übrigens in den Büchern, die mit gewisser Regelmäßigkeit zur Begleitung der Filme entstanden, noch deutlicher), das ein ganz und gar schreckliches Außen einem geborgenen Innen gegenüberstellt. Die Dialektik fällt dann in einen banalen Dualismus zurück, das geordnete und sichere eigene steht dem chaotischen und gewalttätigen anderen gegenüber.

Aber Heynowski und Scheumann nutzen die Elemente ihres Filmemachens, gerade jene, die eigentlich „nicht erlaubt“ sind, auch wie es Agenten tun, und manchmal scheint man zu spüren, wie sie ihre Aktionen genießen. Sie lassen die Zuschauer, das unterscheidet sie fundamental von Filmemachern, die manipulieren und verführen wollen, keinen Augenblick über ihre Absichten im Unklaren. Es gibt Irrtümer, gewiss, es gibt, insbesondere in den Assoziationsmontagen – etwa von Bildern der grausamen Wirklichkeit und Bildern der zynischen Popkultur – Schludrigkeiten. Aber es gibt keine Lügen in den Filmen von Heynowski und Scheumann. Und da ist, bei aller Kritik, auch das zweite Grundgebot für den dokumentarischen Film erfüllt: Es geht darum, das Verborgene sichtbar zu machen. Und es geht darum dabei nicht zu lügen.

Doch es ist gleichzeitig dieser Akt einer ästhetisch-politischen Selbstermächtigung, der die Filme freier, heftiger und zorniger macht als andere, die möglicherweise an verwandten Themen und Aufgaben arbeiteten. Vieles ist „falsch“ in diesen Filmen, aber vieles wäre ohne sie nicht gesagt und nicht gezeigt worden. Hätten Heynowski und Scheumann nicht den „Kongo-Müller“ unter Alkohol gesetzt, den Vorsitzenden der sudetendeutschen Landsmannschaft nicht freundlich in die Falle der Selbstdarstellung geführt („Der Präsident im Exil“), Frau Buchela nicht munter über ihr Gewerbe der Verblödung parlieren lassen, kaum je wäre diese deutsche Subgeschichte sichtbar geworden.

Es ging in den meisten ihrer Filme um eine Darstellung und vor allem um eine Demaskierung eines Feindes. Dieser Feind, im weitesten Sinn der neokolonialistische und postfaschistische Westen, durfte auch bei der filmischen Behandlung mit Schonung nicht rechnen. Vieles von dem, was Heynowski und Scheumann taten, würde man später als Guerilla Shooting, Aproppriation, soziale Skulptur etc. verstehen, eine Darstellung wirklicher Menschen in wirklichen Verhältnissen, die man allerdings vorher provoziert, verleitet oder in falsche Sicherheit gewiegt hatte. Jedenfalls ist dies in den Filmen der Fall, die den Ruf des Duos (oder zu Zeiten des Trios) begründeten. Nie wird zwischen einem Kommentar und einer Beschreibung unterschieden, nie eines der selbst gefertigten oder wenigstens selbst kontextualisierten Bilder irgendeinem Zweifel unterzogen, stets geht es um einen konstanten flow der Bilder und Texte, zuweilen haben H & S-Filme einen hypnotischen Gestus. In vielem wird dabei bewusst gegen traditionelle Regeln des „lauteren“ Dokumentarismus verstoßen, aber doch stets so, dass der Zuschauer Teil dieses Regelverstoßes ist. Wenn der Voice-over-Sprecher in dem Film „Die Teufelsinsel“ über die vietnamesischen Folterlager sich beinahe wie ein Lippen-Synchronsprecher verhält, nur zum Beispiel, verschwimmen die filmischen Subjekte wie in einem „Spielfilm“. Stets geht es offensichtlich darum, den Abstand zwischen dem Blick und dem Bild zu verringern. Während sie in ihrer Makrostruktur dialektisch zu sein versuchen, sind die Filme in ihrer Mikrostruktur oft geradezu lachhaft undialektisch.

Zwischen der Widerspiegelung und dem Eingriff in die Wirklichkeit wird dabei nicht unterschieden. Bei „Der lachende Mann“ war der berüchtigte „Kongo-Müller“ von den Filmemachern sogar darüber getäuscht worden, dass es ein Film aus der DDR war, dem er so willig die Hauptfigur abgab. Es war der westdeutsche Kameramann Peter Hellmich, der die Kontakte im Westen herzustellen und in den entsprechenden Idiomen daheim war. Ein Agent unter Agenten. Es ist der Film, der noch heute zugleich ein Erschrecken über seinen Gegenstand und ein Erschrecken über seine Herstellung erweckt. Der Film machte sich die menschliche Schwäche seines Objektes, seine Eitelkeit, seinen Alkoholismus, seine Geldgier, nicht zuletzt seine Dummheit zunutze, um ihn zu schrecklichen Selbstaussagen im Studio zu bringen, in dem er in voller Montur und mit dem Eisernen Kreuz mit Hakenkreuz auftrat. Man sprach von Zahlungen zwischen 2500 und 10 000 DM, und der Selbstauskunftswilligkeit war mit einer Flasche Pernod nachgeholfen worden. Auch gegen das Rauchen vor der Kamera wandte niemand etwas ein, so dass dieser Kongo-Müller zu einem perfekten Bild der moralischen Verkommenheit wurde, ein Mensch, genauer gesagt, der vor den Augen der Kamera immer weiter verkam. Das Bild einer Epoche?

Seine Aussagen (die im Verlauf der Sitzung immer verschwommener werden) wurden mit Standfotos aus dem Film „Kommando 52“ den Heynowski in Afrika gedreht hatte, zusammen geschnitten. Dies ist im übrigen nur eine der vielen Momente, die die Arbeit des Studios als work in progress charakterisieren. 1966 lief der Film im Fernsehen der DDR, eine Reportage-Reihe in der Neuen Berliner Illustrierten begleitete die Ausstrahlung und beim Dokumentarfilmfestival in Leipzig erhielt er den Sonderpreis der Jury und eine Goldmedaille des „Weltfriedensrates“. Heynowski und Scheumann war zu Beginn ihrer Karriere zweifellos das gelungen, was man andernorts einen „Coup“ nennt.

Von Beginn ihrer Zusammenarbeit an war H & S ein „multimediales“ Unternehmen. Zu vielen der Filme entstanden Bücher – unter anderem „Der lachende Mann“, der das Interview mit Müller und Fotos enthält, die eigenen ästhetischen Montage-Prinzipien gehorchen, etwa eine Serie von Porträtfotos, die immer näher kommen und am Ende nur noch den lachenden Mund des Söldners zeigen. („Kannibalen“ war so etwas wie ein Bestseller in dieser multimedialen Aufarbeitung des Afrika-Themas, und man könnte durchaus von einer Vermischung von Dokumentarismus und Horror sprechen, wenn man das Buch mit dem salutierenden Uniformierten und dem aufgespießten Schädel im Hintergrund sieht. Im Klappentext erfährt man:„Heynowski & Scheumann legen hier einen in seiner Art einmaligen Bilddokumentarband vor, der von Massenmördern fotografiert wurde. Von modernen Kannibalen, die so zivilisiert sind, dass sie ihre geschundenen Opfer nicht mehr selbst verzehren. Von abendländischen Kannibalen, die im Namen westlicher Freiheit und christlicher Kultur ganze Völker abschlachten. Von poetischen Kannibalen, die sich Fotoalben zur Selbstbespiegelung anlegen und Beethoven-Sonaten lieben. Es entstand ein ‚abendländisches Poesiealbum‛, bei dessen Anblick man keine Muße für Poesie mehr findet. Mit Bildern aus dem heißen Kongo, bei denen man friert. Ein Tatsachenbuch, das man für eine Wahnvorstellung halten möchte und das doch wahr ist.“ Die innere Verwandtschaft solcher Prosa mit westlicher Spektakel-Dramaturgie beiseite, wird hier der Exploitation-Charakter noch einmal verdeutlicht. Und zur gleichen Zeit ist die Arbeit von H & S selbstreflexiv, indem immer wieder Querverweise eingebaut werden, „Kannibalen“ zum Beispiel verbindet bereits das Thema vom Afrika-Konflikt mit der Geschichte von Vietnam, die mit „Piloten im Pyama“ fortgeschrieben wurde. Heynowski und Scheumann waren in der audiovisuellen Kultur der DDR eine wichtige Größe. Meistens wurden ihre Arbeiten mit Lob und Preisen überhäuft, aber manchmal entwickelten sich durchaus auch fruchtbare Debatten.

In der BRD dagegen wurde zunächst mit allerlei Mitteln die Veröffentlichung der Filme zu verhindern versuchten. Der Pazifist Helmut Soeder brachte nach einem Besuch der Leipziger Messe 1966 eine Kopie von „Der lachende Mann“ mit in die BRD, wo er am 9. September in einer „Privataufführung“ gezeigt wurde. Als Soeder drei Tage später erneut eine Vorführung für Freunde organisierte, erschien die Kriminalpolizei. Es gab nämlich ein „Verbringungsgesetz“ von 1961, nach dem jeder Film aus einem sozialistischen Land dem „Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft“ als Prüfungsinstanz vorgelegt werden musste. Die Wahrheit der H & S-Filme für die politische Filmszene in der BRD lag schon im Prozess ihrer Verfolgung oder Missachtung. Da war kein Platz für Fragen der cineastischen Methodik. Und man war noch weit entfernt von einer postmodernen Frage danach, wie sich das Subjekt und das Objekt einer solchen Entlarvungs-Dramaturgie eigentlich zu einander verhalten.

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Piloten im Pyjama

Wenn „Der lachende Mann“ noch rundheraus verboten worden war, so ließ sich bei dem vierteiligen „Piloten im Pyama“ eher eine Phalanx der Ablehnung bilden, nach der Uraufführung des dritten Teils „Der Job“ beim Kurzfilmfestival Oberhausen 1968, die von der „Bundeszentrale für politische Aufklärung“ bis zur Springer-Presse ging: Man versuchte, durch Missbilligung und Abwertung eine größere Verbreitung, insbesondere unter den Schülern und Studenten zu verhindern. Bemerkenswerterweise war es der katholische Filmdienst, der „trotz eines gewissen Propagandaeffekts“ konstatierte: „Auf billigen rhetorischen Antiamerikanismus wurde verzichtet und konnte angesichts der Fakten verzichtet werden“. Mit Aussagen wie dieser begann, was man eine zweite Rezeptionsgeschichte der Filme nennen könnte. Für das Publikum in der DDR waren sicher andere Elemente bedeutend als für das in der BRD. Die dialektische Konstruktion und der Versuch, über die Aktualität hinaus zu einer Darstellung der Epoche zu gelangen, spielte hier weniger hinein, und natürlich noch weniger eine Konstruktion des idealen und sicheren Standpunktes ex negativo, den meisten Kritikern fehlte dazu auch die Idee einer marxistischen Ästhetik. Stattdessen wurden Heynowski und Scheumann zu frühen Helden der Investigation (denen man das rhetorische Beiwerk nachsah). Heynowski und Scheuman galten in den siebziger Jahren als die „geschicktesten und wohl auch gefürchtetsten Dokumentaristen der DDR“[3],und wenn sie mit „Der lachende Mann“ und der so unwiderlegbaren Darstellung der Verstrickungen deutscher Söldner (mit einschlägig postfaschistischem Gedankengut im Kopf) in Afrika erst einmal fassungsloses Staunen erzeugt hatten, mit den Filmen über Vietnam eine bemerkenswert informative Materialsammlung vorgelegt, so brachten sie mit ihrem Film „Der Krieg der Mumien“ über den Militärputsch gegen Salvador Allende in Chile das Kunststück fertig, aus der Trauer und der Resignation auszubrechen, die sich breit gemacht hatte. Mit diesem Film erreichten sie auch im Westen einen Umkehrpunkt. Um zu begreifen, was in Chile geschehen war, was ja gleichzeitig Niederlage des Sozialismus und Niederlage einer Demokratie war, durchaus auch im westlichen Sinne, musste sich der Blick weiten. Schockbild, Sensationsreportage und Empathie-Bildung allein (wie es noch im Fall von Vietnam geschah) konnten diesen Sieg der gnadenlosen Ökonomie über Recht und Menschlichkeit nicht mehr erklären und nicht mehr bewältigen. In Chile waren Demokratie und Sozialismus gleichermaßen geschändet worden, und das bedeutete unter anderem auch, dass sich Formen von Kritik und Widerspiegelung annähern mussten. Nie kamen sich das Prinzip des dialektischen Films und das Prinzip der empathischen Teilhabe in der Dokumentation so nahe wie in „Krieg der Mumien“ und den Debatten über diesen Film und das, was er zeigte. Und selten wurde ein Dokumentarfilm aus der DDR in der BRD so bis in die liberale Mitte hinein begrüßt und benutzt.

Danach entwickelten sich die Verhältnisse und die Menschen wieder auseinander. Und auch die Brüche in den H & S-Filmen wurden wieder sichtbarer. Schon in „Die Teufelsinsel“ geraten sich Aussage und Empathie wieder in die Haare. Der Film ist klar in zwei Teile gegliedert, im ersten lernen wir Le Quang Vinh kennen, der von seinem Leiden im Lager Con Son berichtet, im zweiten Teil geht es um eine „Ortsbesichtigung“ des berüchtigten Gefängnisses mit seinen Tigerkäfigen. Da wir das Lager mit Le Quang Vinhs Augen (wieder) sehen, wird zwar die Erfahrung der Pein deutlich spürbar, aber andererseits verhindert das beständige Polit-Sprech (stets ist vom „Marionettenregime“ die Rede) auf beiden Seiten der Kamera, dass man sich wirklich auf eine Leidensgeschichte einlässt. Und während man so viel von den Verhältnissen und Kämpfen der Vergangenheit und von den Umwälzungen der Zukunft erfährt in H & S-Filmen, verschwinden um so mehr die Vergangenheit und die Zukunft der einzelnen Menschen in ihnen. Nicht nur die „Bösen“ wie der Kongo-Müller haben in den Filmen kein Recht auf eine andere als politische Vergangenheit und eine Zukunft, in der über sie gerichtet wird, auch die „Guten“ haben es nicht. Hätten wir von Le Quang Vinh nicht gerne noch etwas anderes erfahren als dass er auf der Teufelsinsel litt und seinen politischen Überzeugungen treu blieb? Seine Kindheit, seine Träume… Es ist das unglückliche Bewusstsein des politischen Dokumentarfilms, dass er den Menschen verliert, wenn er sich zu genau auf die Verhältnisse einlässt, und dass er die Verhältnisse verliert, wenn er sich zu nah auf den Menschen einlässt. Heynowski und Scheumann, bei aller Freiheit, die sie sich nahmen, bei allem dialektischen Geschick, das sie immer virtuoser in ihren Filmen einsetzten, konnten dieses unglückliche Bewusstsein nur sehr selten überwinden, und noch weniger konnten sie reflektieren, dass darin auch ein Widerspruch der „sicheren“ Welterzählung und des marxistischen Epochenblicks lag.

 

IV 

Im nachhinein ist es leicht zu behaupten, der dialektische Film sei einer, der seinen Bildern nicht traue (der sie sogar verrate). Es ist ein Film, der nach einer eigenen Beziehung von Bild und Diskurs sucht und der dabei einerseits Möglichkeiten entdeckt, die es im bürgerlichen Realismus, auch im Bereich des Dokumentarischen, nicht gibt, und der andererseits auf unvorhergesehene Schwierigkeiten trifft. So ist es beinahe ein Programm, wenn H & S anlässlich der Retrospektive des fotografischen Werkes schreiben: „Das fotografische Bild ist seiner Natur nach immer konkret; es ist darüber hinaus immer emotional befrachtet, also erlebnisträchtiger als der abstrakte Gedanke“[4]. Wie ist das zu verstehen, dass ein Bild „emotional befrachtet“ sei? Und was ist das eigentlich, ein „abstrakter Gedanke“? In den dialektischen Filmen von Heynowski und Scheumann fehlt, es ist wie eine gewaltige Leerstelle in ihnen, die Reflexion über das Wesen „des Filmischen“.

Filmen als Kampfansage. Auch in ihren theoretischen Äußerungen haben Heynowski und Scheumann das nie verschleiert: „Unsere Methode ist nur eine von vielen möglichen Methoden. Aber unser Ausgangspunkt ist ein verbindlich sozialistisch-realistischer: Dokumentarfilm zu begreifen als ein Medium, Politik nicht nur zu reflektieren, sondern als die Möglichkeit, selbst zum Politikum zu werden – als Versuch, das Denken des Zuschauers in der Weise mitzubestimmen, dass es materielle Gewalt wird zur Veränderung der Welt“.[5] Das Subjekt des dialektischen Dokumentar/Essay-Films zwingt einerseits das Objekt seiner – wir erinnern uns: aus dem Unsichtbaren zum Sichtbaren gebrachten, nicht gelogenen – Untersuchung zum Selbstausdruck und ermächtigt den Zuschauer (sozusagen: den zweiten Filmemacher) vom Sehen zum Handeln zu gelangen. Die Mittel, mit denen die Filme arbeiten, kann man „drastisch“ nennen. Sie bauen Assoziationen auf, die sich nicht auf das Faktische beschränken, sondern in die Tiefe der Ikonografien gehen. Das Ziel ist immer zugleich die konkrete Brutalität und der Zynismus der westlichen Gesellschaften. Die Doppelbödigkeiten und Maskierungen der westlichen Populären Kultur haben H & S nie verstanden, wie auch? Etwa wenn in „Kannibalen“ ein makabres Bild einer lasziven halbnackten Frau mit einem Totenkopf auf einem Sarg eingeschnitten wird oder eine Illustriertenreportage zitiert, in der es um den Handel mit Totenköpfen geht, verwandelt sich radikale in fundamentale Kritik. Sie fällt gewissermaßen auf ihren Gegenstand herein. Wir erinnern uns an die H & S-Behauptung von der Gemeinsamkeit von Wirklichkeit und Widerspiegelung. Sind solche Montagen „erlaubt“?

 

Und: Haben sich nicht Widerspiegelung und Wirklichkeit ganz anders zueinander organisiert? Gibt es noch etwas zu entlarven, noch etwas zu verändern? Können wir uns überhaupt noch eine Verbindung von Film-Sehen und politischem Handeln vorstellen? Verschwindet der dialektische Film mit der Existenz jener „verbindlichen“ und „sicheren“ Standorte? Sind H & S-Filme nun endgültig Geschichte?

Nein, das sind sie nicht. Sie führen uns, beim zweiten und dritten Nochmalsehen, immer wieder auf das unglückliche Bewusstsein des politischen Dokumentarfilms. Was in H & S-Filmen an Gewinn steckt, ist noch zu bergen, was in ihnen an Problemen steckt, ist noch zu bearbeiten. Und wenn es das Projekt eines dialektischen Dokumentarfilms weiter geben wird, dann führt sein Weg über eine Auseinandersetzung mit den Filmen von Walter Heynowski und Gerhard Scheumann.

 

[1] Zit. nach Unidoc-Verleih Pressematerial

[2] Simon Rothöler: „Vom Charakter einer Epoche“ In: Cargo vom 12. Dezember 2013

[3] Wolfgang Ruf: Der Krieg der Mumien. In Süddeutsche Zeitung vom 8.5. 1974

[4] H&S 1966, zit. nach Retrospektive H&S 1976, S.49)

[5] Heynowski und Scheumann: „Plädoyer für den politischen Film“. In: Neues Deutschland vom 20. 7. 1974

 

Georg Seeßlen, geschrieben im Frühjahr 2014

Bilder: © DEFA-Stiftung, absolut MEDIEN

 

INFOS

zu  Personen und Werk bei der DEFA-Stiftung

zu den Filmen im DEFA Archiv der Deutschen Kinemathek

 

 

 

Der Text ist erschienen als Booklet der DVD Box

cover-hunds340

Studio H&S – Walter Heynowski und Gerhard Scheumann:

Filme 1964-1989

Deutsche Demokratische Republik 1964

845 Minuten

FSK: ohne Altersbeschränkung

Regie: Walter Heynowski, Gerhard Scheumann

Verleih: absolut MEDIEN

 

 

Details zur DVD:
Die Filme

DVD 1. FRÜHE FILME: O.K. (1965) | KOMMANDO 52 (1965) | DER LACHENDE MANN (1965) | GEISTERSTUNDE (1967)

DVD 2. VIETNAM: 400 CM³ (1966) | 100 (1971) | REMINGTON CAL. 12 (1972) | EINTRITT KOSTENLOS (1976) | VIETNAM 1 – DIE TEUFELSINSEL (1976) | AM WASSERGRABEN (1978) | EIN VIETNAMFLÜCHTLING (1979) | AMOK (1984)

DVD 3. CHILE: MITBÜRGER (1974) | PSALM 18 (1974) | GELDSORGEN (1975) | DER KRIEG DER MUMIEN (1974) | EL GOLPE BLANCO – DER WEISSE PUTSCH (1975)

DVD 4 . KAMPUCHEA: KAMPUCHEA – STERBEN UND AUFERSTEHN (1980) | EXERCISES (1981) | DIE ANGKAR (1981)

DVD 5. SPÄTE FILME: MEIERS NACHLASS (1975) | DIE LÜGE UND DER TOD (1988) | KAMERAD KRÜGER (1988) | DER MANN AN DER RAMPE (1988)

Bonus

ZEITZEUGENGESPRÄCH MIT WALTER HEYNOWSKI (Ausschnitte, 62 Min., 2003, Interviewer: Ralf Schenk)

Die DVD-Box wird ergänzt durch das umfangreiches Booklet (16 Seiten) mit einer Einführung von Ralf Schenk.

 

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