Oder warum das Medienritual des großen Sommerinterviews zugleich vollkommen überflüssig und dringend notwendig ist

Das Ritual, da wollen sich Soziologie und Ethnografie nicht widersprechen, ist eine wiederkehrende Inszenierung zur Sicherung sozialer Kontrolle und ideologischer Harmonie. Die großen Sommerinterviews mit den Führern der politischen Klasse im deutschen Fernsehen, da wollen sich nun wieder Medienkritiker und TV-Macher nicht widersprechen, sind vor allem Rituale. Dass da Information vermittelt oder gar eine Idee produziert wird, ist unwahrscheinlich. Und alle Beteiligten, die Politiker als Sender, das Fernsehen als Vermittler und wir von sommerlicher Hitze ermatteten Zuschauer als Empfänger, sind darin einig: Das ist nicht der Sinn der Sache. Der Sinn des Sommerinterviews ist das politische Idyll.

Das haben wir uns verdient, nach einem Jahr der Krisen und Katastrophen, der Lügen und Listen, der weitgehenden Entfremdung zwischen Herrscher und Volk. Das „Idyll“ hieß ursprünglich nichts anderes als „kleines Bild“, und das Einschreiben des Politikers ins kleine Bild ist das erste visuelle Ziel des Sommerinterviews: Der oder die Mächtige als Mensch, im lauschigen Ausschnitt der Natur, Intimität und Offenheit, ein kleines Glück im Winkel, die Welt reduziert auf einen harmonischen Zuhause-Platz in ihr. Die Kleinheit und Bekanntheit des Bildes täuscht: Es besteht aus einer Fülle von Bedeutungen. Wo man da plaudert, vor der Kamera, und wie Kleidung, Bewegung und Natur/Architektur-Ausschnitt miteinander harmonieren, das ist ein, nun ja, Gesamtkunstwerk wie die massiven Holzbänke, der alte Baum und das Fachwerk in Uckermark, wo Angela Merkel ihr diesjähriges ZDF-Sommerinterview gibt: Heimat.

Begonnen hat das alles mit Kurt Georg Kiesinger, im Juli 1967, als der damalige Kanzler der Großen Koalition atmosphärisch höchst wirksam den Kabinettstisch in den Garten des Palais Schaumburg bringen ließ. Da steckte einiges drin: Das Verlassen der geschlossenen Räume der Macht, kleiner Lebensgenuss (ohne die Pflichten zu vernachlässigen), Kommunikation statt Zeremoniell. Merkwürdigerweise entstand nicht so sehr ein luftiges Bild pragmatischer, öffentlicher und menschlicher Politik. Es entstand ein urdeutsches Bild romantischer Beziehung von Mensch und Landschaft. Ein inszenierter Mensch vor inszenierter Landschaft. Genau das blieb die Bühne für das „Sommerinterview“. Wie wenig wahre Öffnung in diesen romantischen Kulissen der Naturreste steckt, bemerkt man im Vergleich mit Bildern aus Amerika, wo sich die Mächtigen schon vorher gern den Medien in Hemdsärmeln, auf Ranches und Resorts zeigten. Hier ist die Kulisse einfach Gegend, Platz, Raum. In der Naturbühne des deutschen Sommerinterviews ist die Welt vor allem Symbol.

Da ist die begrenzte Weite eines Sees mit Segelschiffen (Gerhard Schröder), Südfranzösisches bei Edmund Stoiber, Joschka Fischer wählt die Glasfassade im Zentrum der Macht, und unser Präsident präsentiert sich dieses Jahr mitten unter uns am Gendarmenmarkt. Bei RTL ist Angela Merkel auf einer Terrasse vor einem Wasserteich im Hintergrund aufgenommen. Was geredet wird, kann man vergessen, nein, man hat es schon vergessen, während es milde aus dem Kasten plätschert.

Über die Jahre entwickelte sich aus Kiesingers expressiver Vergartung der deutschen Politik das Medienformat des Sommerinterviews. Zur Kunstform wurde es in der Ära Kohl mit den alljährlichen Besuchen der Kameras am Wolfgangsee in Österreich. Die Ikonografie setzte da den Bild-Kosmos des deutschräumigen „Heimatfilms“ fort, verpasste dem Kanzler eine mediale Sommerfrische und konterkarierte die Fähigkeit Kohls, Interviewfragen nicht nur ins Leere laufen zu lassen, sondern ernste Fragen als persönliche Beleidigung erscheinen zu lassen, mit der Idylle des Ferientraumes am See. Die schlichte Botschaft des Kohl-Sommerinterviews war die gute Laune des Herrschers: Im Sommerinterview verzieh der Kanzler sowohl dem Volk die Insubordinationen als den Medien die Impertinenz. Natürlich ging das später nicht mehr so einfach. Das Ritual wurde zum Sendeformat: Nicht nur bekam jeder politische Kopf, der etwas zu sagen, aber nichts zu sprechen hatte, sein Sommerinterview vor passender Kulisse, zugleich entwickelte jeder Sender, der viel zu sprechen, aber nichts zu sagen hatte, sein Format des Sommerinterviews. Die Interviewer wurden zu Co-Stars der Inszenierung. Wer an einem Sommerinterview teilnimmt, ist irgendwie wichtig.

Die Tradition festigte sich bei gleichzeitiger Inflation des Formats; 2003 trat im ZDF-Sommerinterview in „Berlin Direkt“ zum ersten Mal der Bundespräsident an. Heute gilt diese Institution und ihr Repräsentant als der einzige politische Mensch, der in einem Sommerinterview etwas zu kommunizieren hat. Eine Meta-Macht, die andere Teil-Mächte zu mehr Harmonie mahnt. Peter Hahne, der Kolumnist und evangelische Theologe, und Peter Frey führen die Interviews mit Parteichefs. Ihnen gelingt von allen Sommer-Interviewern der größte Gehalt an Salbung.

Mit dem RTL-Interview mit Kanzler Gerhard Schröder 2003 etablierten sich „die Privaten“ auf dem Ritualmarkt der Sommerinterviews. Das führte zu einer Fundamentalisierung der Inszenierung. Die Blubber-Mantras in den Wohlfühl-Kulissen sanken aufs Niveau der neuen Heimatfilm- und Ferienserien. Kurt Georg Kiesinger wollte, vielleicht, die deutsche Politik symbolisch aus dem Mief der Adenauer-Ära führen; in der Inszenierung der Sommerinterviews sind wir wieder mittendrin: Gesundheitsreform auf dem Immenhof. Hartz IV im Silberwald.

Die Vervielfältigung führt zur Krise des Formats. Von ihrem Lehrmeister Helmuth Kohl hat Frau Merkel gelernt, dass es nicht damit getan ist, die Frage eines Journalisten nicht zu beantworten, es gilt vielmehr, das ganze Frage-und-Antwort-Ritual zu unterlaufen. Die Vervielfältigung des Rituals führt zu einer Art der „Karnevalisierung“. Statt das Bild der Harmonie zu genießen, hofft man auf die kreative Störung. Highlights wie Angela Merkels Brutto-Netto-Rechenkünste sind zwar selten, denn je defensiver die Antworten, desto butterweicher werden auch die Fragen. Aber ein Blick in entsprechende Internet-Foren genügt, um zu zeigen, wie nahe aneinander ein vertrauensbildendes Medienritual und die Ödnis eines bekennenden Null-Mediums sind.

Dieses Jahr kommen die Sommerinterviews wie neblige Bild- und Mantra-Wolken über den Zuschauer. Zuerst laufen sie auf RTL, dann folgt das ZDF mit „Berlin direkt“. Am vergangenen Sonntag stellte sich Bundeskanzlerin Merkel den Fragen von Peter Frey, heute Reinhard Bütikofer, der Chef von Bündnis 90/Die Grünen. Am 6. August kommt der Fraktionschef der Linkspartei, Oskar Lafontaine, und am 13. August ist CSU-Chef Edmund Stoiber im Gespräch mit Peter Hahne. Eine Woche später trifft Peter Hahne Guido Westerwelle. Den Abschluss der Reihe bildet am 27. August das Gespräch zwischen SPD-Chef Kurt Beck und Peter Frey. Zugleich beginnt die ARD mit einer eigenen Reihe: CSU-Chef Edmund Stoiber ist heute erster Gast der diesjährigen Sommerinterviews in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ mit den Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien. Stoiber wird dem neuen Moderatoren-Duo aus Chefredakteur Thomas Roth und seinem Stellvertreter Joachim Wagner Rede und Antwort stehen. Eine Woche später kommt FDP-Chef Westerwelle, am 13. August SPD-Chef Kurt Beck, 20. August der Vorsitzende der Linkspartei.PDS, Lothar Bisky und am 27. August Grünen-Chefin Claudia Roth. Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel beenden Roth und Wagner die Interview-Reihe.

Mit der Ausdehnung des Formats in den Programmen verliert das Sommerinterview eine weitere Eigenschaft des Rituals, nämlich zu einer Strukturierung der Zeit, der Abläufe von Fleiß und Macht beizutragen. Kohls Ritual des Gutfühl-Friedensschlusses am Wolfgangsee war der menschliche Nullpunkt zwischen den politischen Zyklen. Zugleich Überbrückung und Bestätigung der Pause in der politischen Praxis. Wenn nun aber zwischen Juni und August dem Sommerinterview im Programmalltag nur mit Mühen zu entkommen ist, trägt das Ritual eher zur Entstrukturierung bei. So lange Ferien können doch auch unsere Politiker nicht machen, Aktenstudien hin, wichtige Telefonate her. Was, wenn schließlich „Sommerinterview“ zum Normalzustand des Politischen würde? Oder gar schon ist?

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in Der Tagesspiegel, 30.07.2006