Der Krieg hat dem Maler Bernhard Heisig zeitlebens die Inhalte seiner Kunst vorgegeben. Hinterlassen hat er ein Lebenswerk in progress – die Totenrede von Christoph Hein

Im September 1942 wird Bernhard Heisig zum Wehrdienst einberufen und nach einer Grundausbildung in einer Panzerdivision eingesetzt. An der Westfront wird er schwer verletzt, kommt mit Erfrierungen in das zur Festung erklärte Breslau, wo er wiederum an die Front geschickt und verwundet wird. Im Herbst 1945 entlässt das sowjetische Militärkommando ihn aus der Kriegsgefangenschaft – als Invaliden.

Er bekam nicht den Krieg aus dem Kopf und auch nicht den Nachkrieg.

Als der Kriegsversehrte eine neue Heimat suchte, saßen die alten Schreibtischtäter bereits hinter den neuen Schreibtischen, auf denen nun ein anderes Fähnchen wehte. Alles hatte sich gewandelt, aber die Gesichter waren die gleichen, waren dieselben. Die alten Goldfasane schufen im neuen demokratischen Deutschland eine neue und demokratische Armee. Der Geheimdienst wurde als Organisation der Nazis von der Demokratie direkt übernommen, schließlich waren es unersetzbare Fachkräfte. Und wertvolle, unersetzliche Fachkräfte waren die hitlergetreuen Diplomaten und Juristen, die Wirtschaftsmanager und Journalisten, die Bürovorsteher und Ärzte und die Lehrer und die Ausbilder. Sie alle wurden übernommen, sie waren nun keine Faschisten mehr, sondern Demokraten, keine Antisemiten, sondern plötzlich leidenschaftliche Philosemiten, sprachen demokratisch, wählten demokratisch, lebten demokratisch, ja, sie konnten sogar demokratisch lächeln. Und sie erzogen den Nachwuchs in ihrem Geist. Alles ist die Folge einer Folge einer Folge. Nicht alles pflanzt sich fort, weiß der Kleingärtner, aber einiges ist unausrottbar.

Ein Glücksfall

Da erschien dem Kriegsheimkehrer Heisig der andere deutsche Staat, der diese unersetzlichen Kriegsschuldigen ersetzte, eine lebenswertere Alternative. Vieles wurde in diesem anderen deutschen Staat anders, ganz anders, auch die Ideologie, doch auch sie, zeigte sich, war blutig und menschenvernichtend. Der Krieg hielt den Kriegsheimkehrer weiter in der Kralle und stellte ihn hohnlachend vor die Wahl: die gewandelten Faschisten oder die neuen Stalinisten, Skylla oder Charybdis, Pest oder Cholera. Doch wie immer er sich entscheidet und entschied, aus seinen Krallen wird ihn der Krieg bis zu seinem Lebensende nicht entlassen.

Der Krieg hat dem Maler Heisig das Thema seines Lebens und seines Schaffens diktiert. Nettigkeiten waren von ihm nicht mehr zu bekommen, der Schrecken des Krieges gab ihm die Palette seiner Farben vor, führte den Pinsel, beherrschte die Leinwand, machte ihn zum Kollegen der anderen großen, kriegsversehrten Maler, zum Gefährten eines Goya, Velásquez und Jacques Callot, eines Barlach, George Grosz, Otto Dix, Felix Nussbaum und eines Max Beckmann.

Seine Farben wurden das Rot und das Schwarz, um den grauen, dreckigen Alltag im Feld und die Wunde auf die Leinwand zu bringen, den zerrissenen Körper, den Schmerz- und Todesschrei, den ans Kreuz geschlagenen, geschundenen Körper, die zerrissene Haut, den aufgerissenen Mund.

Heisig kann nicht aufhören, den Krieg zu zeichnen, den Mord, das große Schlachten, da ist er dem vier Jahre älteren Dichter Wolfgang Borchert nah, sehr nahe, der gleichfalls vom Krieg sprechen und wie Heisig entsetzt sehen musste, dass die Schreibtischtäter und Stabsoffiziere, die ideologischen Kriegstreiber der Politik und der Presse, die grauen Eminenzen des Krieges in der Nachkriegszeit die wundervollsten, erstaunlichsten Karrieren machten, während er selbst draußen vor der Tür zu bleiben hat.

Max Beckmann stirbt 1950 im Exil in Manhattan; ein Triptychon, es wäre sein zehntes, bleibt unvollendet. Er stirbt in dem Jahr, in dem Heisig an der Akademie für graphische Künste in Leipzig studiert. Jahrzehnte später erhält Heisig acht Leinwände von Max Beckmann; Leinwände, die Beckmann vorbereitet hatte, aber nicht mehr malen konnte. Beckmanns Sohn Peter entdeckt diese acht aufgezogenen, grundierten Leinwände im Nachlass seines Vaters, in dessen New Yorker Atelier, und er schenkt sie seinem verehrten Freund Heisig, der sie für ein Polyptychon nutzte, für das mehrteilige Werk Zeit zu leben. Ein Kreis schließt sich, eine Brüderlichkeit entsteht über die Generationen hinweg und über den Tod hinaus.

Und Heisig arbeitet und arbeitet, Tag für Tag und bis zu seinem Tod. Wann immer wir zu ihm kamen, er saß vor einer Leinwand, rechts und links und hinter ihm weitere Bilder, an die er hin und wieder sich setzen wollte. Für ihn war eine Arbeit nie beendet, er brachte es fertig, auch ein vor Jahrzehnten beendetes Bild zu korrigieren, zu verändern. Er scheute sich auch nicht, mit dem Pinsel noch einmal an ein vor Jahren von einem Museum gekauftes und dort gehängtes Bild zu gehen, wenn sich dafür eine Gelegenheit ergab und er für eine Zeit mit seinem alten Bild allein und unbeobachtet war. Denn für ihn war keins seiner Bilder wirklich abgeschlossen, und daher trägt auch keins seiner Bilder die Jahreszahl der Entstehung. Ein Lebenswerk in progress.

Er arbeitet und arbeitet. Der Krieg, die Krankheiten, das Alter machen ihn in den letzten Lebensjahren zum Schwerstbehinderten, was ihn nicht abhalten kann, aber Hilfe verlangt. 50 Jahre lang lebt er mit der Malerin Gudrun Brüne zusammen. Ohne ihren Beistand wären seine letzten Bilder nicht entstanden, diese großartigen Bilder der letzten Periode seines Schaffens, die für mich die ergreifendste ist, die vollendetste. Gudrun Brüne muss ihre eigene Arbeit einschränken, fast völlig aufgeben, um alle paar Minuten zu ihm zu eilen, um für ihn die Handgriffe zu tun, zu denen er nicht mehr in der Lage ist. Und es ist für ihn ein Glücksfall, dass seine Frau Malerkollegin ist: sie weiß die Farben zu mischen, findet sofort die richtigen Mal-Utensilien, spürt, wann er einen Abstand zur Leinwand braucht, und rollt ihn dann zurück.

Das Schönste überhaupt

Wenn ich mich über diesen Arbeitseifer, diese Arbeitswut verwundert zeige, schaut er mich skeptisch an, hält den Kopf ein wenig schräg, kneift ironisch die Augen zusammen, lächelt und sagt: „Was soll ich denn sonst machen? Ich kann doch nichts anderes.“

Und irgendwann sagt er dann jedes Mal: „Aber nun wollen wir einen Champagner trinken. Wo ist denn der Champagner, Gudrun?“

Und Gudrun muss wieder laufen und eilen.

Champagner war sein Lieblingsgetränk. Mit Champagner, dem feinsten Champagner, konnte für ihn nur noch die Bockwurst mithalten, die gewöhnliche Bockwurst, mit der er liebend gern die Gäste seiner Vernissagen zu beglücken suchte. Schöner als Champagner und schöner als Bockwurst war für ihn nur noch Champagner zusammen mit Bockwurst.

Vielleicht sitzt er in dieser Stunde bereits wieder bei Champagner und Bockwurst. Nun allerdings ohne Gudrun und ohne uns, aber dafür mit Goya und Beckmann und Liebermann und Barlach.

Wer von uns weiß das schon?

Christoph Hein

Totenrede für Bernhard Heisig, gehalten am 2. Juli 2011 in Havelberg