Endlich werden Doktorarbeiten gelesen. Massenhaft. Das gab es noch nie. Es gehörte immer eine ordentliche Dosis Masochismus dazu, sich freiwillig mit Textkonvoluten zu Themen wie „Vergleich des politischen Denkens in den USA und Europa“ zu befassen. Selbst professionelle Doktorarbeitsleser, Doktorväter genannt, lasen eher flüchtig, obwohl sie gut dafür bezahlt werden. Sie neigten zum „magna cum laude“, bloß um die öde Angelegenheit rasch hinter sich zu bringen. Und dann vergilbten die wissenschaftlichen Produkte als zuverlässigste Langweiler in der Geschichte des gedruckten Wortes auf irgendwelchen abgelegenen Regalbrettern abgelegener Institutsbibliotheken.

Damit ist es vorbei, seit Wikiplag und Vroniplag und all die anderen Plagen und Quälgeister als akademisches Weltgewissen fungieren und jeden Täuschungsversuch in die virtuelle Öffentlichkeit googeln. Gelesen werden die Doktorarbeiten zwar weiterhin nicht inhaltlich, doch Satz für Satz auf ihre Herkunft geprüft, um schließlich das Urteil über den jeweiligen Autor zu fällen. Moral lässt sich damit erstmals grafisch darstellen und in Prozentzahlen quantifizieren, je nachdem, wie hoch der Plagiatsanteil einer Arbeit ist. Dass diesem Vorgehen der zumeist anonymen Überprüfer selbst etwas Denunziatorisches anhaftet, scheint die moralische Qualität ihrer Tätigkeit für die Öffentlichkeit nicht zu beeinträchtigen. In Zukunft wird die Note der Universität weniger zählen als ein Gütesiegel von Wikiplag. Und wenn es einen notorischen Angeber wie Guttenberg erwischt, dann passt das ja, wie der Bayer sagt.

Doch so sinnlos 99 Prozent aller Doktorarbeiten sind, so dümmlich ist es auch, sie allzu wichtig zu nehmen und Menschen darauf festzunageln, dass sie abgeschrieben haben. Ja was denn sonst! Wissenschaft ist nichts anderes, als ein einziges Zitierkartell. Ob das ordentlich mit Fußnoten geschieht oder etwas salopper unter Weglassung derselben, ist eine Stil- und Temperamentsfrage. Das hat nur in einem Betrieb Bedeutung, der in der Erfüllung der Form seine vornehmste Aufgabe sieht, da mit überraschenden Inhalten offenbar sowieso nicht zu rechnen ist. Dass Doktorarbeiten nur in den seltensten Fällen irgendwelche relevanten Erkenntnisse enthalten, weiß schließlich jeder. Stattdessen dokumentieren sie massenhaft sinnlos verschwendete Lebenszeit, deren Summe vermutlich höher ist als alle addierten Staatsschulden dieser Welt. Kann sich eine Gesellschaft diese gewaltige Ressourcenverschwendung eigentlich leisten, wenn der wahre Zweck der Doktortitel-Operation sowieso nur im persönlichen Renommee und nicht im Erkenntnisgewinn besteht? Was sagt das über unsere Wissenschaft aus? Wir könnten Doktortitel stattdessen doch auch für ein Jahr gesellschaftlich nutzbringender Arbeit verleihen, im Pflegedienst zum Beispiel, wo großer Bedarf besteht. Das wäre was, wenn zum Umbetten Doktor Guttenberg oder Frau Doktor Mathiopoulos erschiene.

Jörg Magenau

Kommentar auf rbb-kulturradio (14.07.2011)