Georg Ullrich (links) und Detlef Gumm 2002 in Berlin

Mit Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich, den Machern der Langzeitdokumentation „Berlin – Ecke Bundesplatz“ sprach Daniele Kloock

Daniela Kloock: Stimmt es, dass Sie um ihre Protagonisten zu finden über eintausend Zettel in Briefkästen verteilt haben?

Gumm: Ja, das stimmt. Am Ende blieben ungefähr 120 Personen übrig. Von denen haben wir dann 30 ausgewählt.

Wie muss man sich das konkret vorstellen? So nach dem Motto „der kann gut reden“, „die sieht ganz gut aus“, oder so ein Typ hat uns noch gefehlt?

Ullrich: Das lief weniger kopfgesteuert, eher intuitiv und natürlich war auch ganz wichtig, dass man sich sympathisch ist. Denn man kann nicht mit Menschen 25 Jahre drehen oder zusammen leben, die man nicht mag.

Aber „das Mögen“ kann sich gewaltig ändern in so langer Zeit, wie lief es denn wenn es zu Konflikten kam?

Ullrich: Wir hatten ja die Möglichkeit uns immer wieder zurückzuziehen. Die Drehzeit bestand meistens aus zweimal acht Tagen im Jahr. Das war allen Beteiligten klar. Allerdings gab es durchaus Protagonisten, die laufend hier in unser Büro kamen und sagten „Mensch, warum filmt Ihr denn nicht weiter? Wann kommt Ihr denn endlich wieder?“

Gumm (lacht): Ja, oder sogar mit eigenen Regievorschlägen ankamen. Aber das passte natürlich nicht in unsere Dramaturgie!

Sie haben Menschen aus völlig unterschiedlichen Milieus – vom Schornsteinfeger bis zum Staranwalt – aber allen gemeinsam ist diese Ungezwungenheit vor der Kamera. Alle sprechen so, als säße man zuhause bei der Familie am Kaffeetisch.

Ullrich: Wir wollten auf keinen Fall, dass die Leute beschädigt oder bloßgestellt werden, wie das häufig in den Medien der Fall ist. Also keine Provokationen, keine gestellten oder nacherzählten Szenen. Das war nie unser Ziel. Aber wir haben uns natürlich oft gefragt, vor allem am Anfang, ist das spannend genug? Eine Bäckerfamilie am Bundesplatz, wen interessiert das?

Ihr Ziel war auch zu zeigen wie sich große politische Veränderungen, vor allem natürlich der Fall der Mauer, in das Leben ganz normaler Menschen einschreiben.

Ullrich: Was in der großen Welt passiert wird ja ununterbrochen gezeigt! Aber das Leben der normalen Leute, das kommt gar nicht vor…

Gumm: Zum Beispiel das Ehepaar Dahm, die haben eben heute keine Bäckerei mehr, weil die Großbäckereien sie kaputt gemacht haben. Oder der Schornsteinfeger, der in den Osten zieht oder der Karsten, der eine Türkin heiratet. Das ist ja alles gelebtes, alltägliches Berliner Leben.

Ullrich: Wir haben auch nie journalistisch abgefragt, so nach dem Motto „Was hat der Fall der Berliner Mauer in deinem Leben geändert?“

Aber es gab schon Fragen, die immer wieder auftauchen. Zum Beispiel die nach dem Glück oder nach den persönlichen Zielen. Und dann die herrlichen Szenen vor den Wahllokalen mit den politischen Stellungnahmen. Die sollte man mal unseren Politikern zeigen.

Gumm: Ja, ein Bild unserer Gesellschaft!

Ullrich: Wir wollen das absolute Gegenteil zu den natürlich besonders im Privatfernsehen stattfindenden Geschichten. Das ist einfach nur plakativ, laut und vulgär und hat ja keinerlei Phantasie…

Sie haben dann auch immer wieder auf Archivmaterial zurückreifen können und dieses in Bezug zur Gegenwart gesetzt.

Ullrich: Ja, zum Beispiel die Geschichte mit der SEW, mit der sozialistischen Einheitspartei Westberlin. Die hatten hier einen Ableger der großen SED, so einen Kleckerverein mit einem Büro gleich hier nebenan. Da haben wir diese grauenhaften Diskussionen mitgefilmt, und wir dachten damals: „Mensch alles wieder umsonst für Kodak und Geier“! Na und dann kam die Wende. Und dann sagten die „wie konnten wir uns so täuschen lassen usw.?“ Und in diesem Zusammenhang wurde das Archivmaterial wieder hoch interessant!

Wie hat das ganze Projekt  überhaupt begonnen?

Gumm: Das war damals die Suche nach neuen fernsehtypischen Formaten. Das WDR Fernsehspiel, das war die Redaktion von Martin Wiebel, fand unsere Idee gut eine Langzeitdokumentation über den Kiez zu machen in dem wir leben. Wiebel hat gesagt sammelt erstmal, und dann fangen wir mit 30 Minuten an und sehen dann weiter. Zunächst wurden die Filme als nachmittägliche Serie gezeigt. Wir haben aber damals schon mit dem Bewußtsein gedreht, dass wir wohl die Letzten sind denen das Fernsehen so was ermöglicht. Damals war der Plan unsere „Helden“ bis zur Jahrtausendwende zu begleiten.

Und dann ging es doch noch bis 2012. Und jetzt ist wirklich Schluss?

Ullrich: Jetzt ist Schluss – definitiv. Nach 25 Jahren! Es ist übrigens verrückt was wir alles an Reaktionen bekommen. Wir haben Zuschriften von Ethnologen, Soziologen, unglaublich viel Anfragen von Designern und von Psychotherapeuten. Aber auch ganz normale Zuschriften. Die Zuschauer identifizieren sich mit den Figuren, sehen in ihnen Parallelen zu ihrem eigenen Leben.

Und ist es wirklich so, dass keiner der Protagonisten abgesprungen ist? Alle sind dabei geblieben?

Gumm: Ein paar Leute sind gestorben, aber ansonsten… Nein, bis jetzt sind alle dabei geblieben. Alle fühlen sich in ihrer Lebenswelt richtig dargestellt. Und einige werden richtig enttäuscht sein, wenn’s nicht weiter geht, vor allem der Schornsteinfeger! Die anderen auch, aber er besonders.

Kommen wir jetzt zu den eher technischen Aspekten Ihrer Arbeit. Bis 2003 haben Sie auf Film gedreht?

Ullrich: Das ist auch ein hochinteressantes Thema! Wenn wir uns nämlich damals, vor 26 Jahren sofort auf elektronische  Aufzeichnungen eingelassen hätten, dann wären wir mit sieben verschiedenen Systemen konfrontiert gewesen. Wir hätten uns ständig technisch an das jeweils aktuelle System anpassen müssen. Das hätten wir von der Qualität und Haltbarkeit her gar nicht geschafft. Gott-sei-Dank sind, oder besser waren, wir beide Zelluloid-Verrückte. Wir haben also versucht möglichst lange bei dem 16-mm Material zu bleiben.

Gumm: Irgendwann war es dann finanziell nicht mehr möglich. Wir waren genötigt auf digital umzusteigen.

Wie viel teurer wurde das, was heisst das konkret?

Ein Meter Negativmaterial zu entwickeln und zu kopieren kostete damals ungefähr 5 Euro. Und für 55 Minuten brauchte man circa 120 Meter. Wir hatten damals ein Drehverhältnis von 1:7 oder 1:6. Da wurde schon sehr genau überlegt was man dreht. Man konnte nicht beliebig lange draufhalten, so wie das heute geschieht. Die jungen Leute drehen derzeit 1:30 und denken dabei gar nicht daran, dass sie anschließend alles am Computer bearbeiten müssen. Sie machen sich auch viel weniger Gedanken über die Komposition eines Bildes…

Aber Licht und Ton bringen bei der digitalen Technik  schon enorme Vorteile, oder?

Ja unbedingt. Wir mussten früher relativ viel Licht mitnehmen in die Wohnungen und es dort aufbauen, und das störte schon die Intimität des Drehvorgangs… Aber die Leute haben sich daran gewöhnt. Wir haben ja auch nicht gleich gedreht… Jetzt kann man schon mit relativ wenig Licht drehen, das ist toll!

Gumm: Ja und dann die Ansteck-Mikros, da haben wir jetzt wirklich einen total sauberer Ton! Und wir sind auch euphorisch in Bezug auf die Vorteile der Licht- und Farbbestimmung.

Ullrich: Ein anderer Punkt ist natürlich auch, dass die Kameras viel leichter geworden sind. Man kann damit im Dokumentarischen viel einfacher eine intime Situation herstellen.

Sie mussten das ganze 16 mm-Material dann digitalisieren, wie lief das?

Gumm: Wir haben die letzten sechs Jahre mit der sogenannten DVCAM gedreht und das ganz Material, also alles aus den 26 Jahren, technisch angeglichen. Wenn Sie genau hingucken sieht man das schon…

Ullrich: Aber wenn wir von Anfang an elektronisch  gedreht hätten, säßen wir jetzt nicht hier, weil das ganze Material nicht mehr zu transformieren gewesen wäre.

Gumm: Oder in ganz, ganz schlechter Form. Damals merkte man ja sofort: das ist eine elektronische Kamera, die da die Bilder geliefert hat. Das ist ja jetzt schon längst nicht mehr so. – Aber es ist schon verrückt, Arriflex z.B. baut keine Kameras mehr, Filmmaterial wird auch immer schwieriger in der Beschaffung, und es gibt außerdem kaum Leute, die die Entwicklungsmaschinen überhaupt noch bedienen können.

Gut, das war jetzt das große Loblied aufs Digitale. Aber was  die Haltbarkeit bzw. die Beständigkeit des Materials anbetrifft, da sieht die Sache doch entschieden anders aus.

Gumm: Hollywood macht jetzt auf Technicolor. Das war ja eigentlich ein Schwarz-Weiß System. Ein Drucksystem. Da werden drei Schichten übereinandergelegt und dann kopiert. Berühmtes Beispiel „Vom Winde verweht“, und genau dieses Technicolor System, verstanden jetzt als Archivsystem, boomt! Es werden Farbauszüge gemacht und die halten dann angeblich 120 Jahre – bei bestimmten äußeren Bedingungen.

Am Ende also misstraut man dem Digitalen!

Gumm: Das sind brisante Fragen, die mich auch zunehmend beschäftigen. Die Keilschrift wird man noch in 3- oder 5.000 Jahren lesen können , aber was wird mit unserem ganzen kulturellen Gedächtnis? Wie bleibt Erinnerung zugänglich?

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Bild: © WDR/Ingeborg Ullrich

Interview: Daniela Kloock

 

 

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