Vermutlich das Gruseligste an der untergegangenen DDR war der „Lipsi“, eine Art Ententanz von oben, eine Mode aus der Retorte, die die westliche Rock’n’Roll-Dekadenz aus dem Rennen schubsen sollte. In der streckenweise schönen Fernsehreihe „Pop 2000“ (WDR, 1999) plaudern die Konstrukteure aus dem Nähkästchen: wie mühevoll es doch sei, einen Gesellschaftstanz zu entwerfen und dann auch noch eine halbwegs passende Musik dazu. Gar nicht mal so zwischen den Zeilen wird deutlich, dass es für die wenigen verblendeten Freiwilligen, die das Ding ohne staatlichen Auftrag tanzten, eine äußerst frustrierende Modewelle war – niemand machte mit, so richtig Spaß machte der angebliche Trend auch niemandem, und kaum waren die Schritte und Bewegungen draufgeschafft, war der Spuk auch schon wieder vorbei. In manchen der derzeit auf uns einprasselnden Dokus, Spielfilmen und Plauderrunden gehört zu den unbestreitbaren eigenbrötlerischen Errungenschaften der DDR was? Der Lipsi.

Vergleiche drängen sich auf: Gibt es etwas Erschreckenderes für Menschen eines gewissen Alters, als gedankenverloren „Joxride“ von Roxette mitzupfeifen, ein Stück, das 1991 als Inbegriff des schlechten Pop plus miesem Video galt, ausnahmslos hämisch zitiert wurde, und seit damals auch kein Stück besser geworden ist? Und wie steht es eigentlich mit den späten U2? Erinnert sich noch jemand daran, dass „One“ vor dem 100. oder 1000. Hören, vor Leid, Entbehrungen und der Coverversion von Johnny Cash einfach nur die öde Visitenkarte einer halbvergessenen Band ohne Song war, die auf einem „experimentellen“ Album vorsichtshalber noch einen Satz Markenzeichen präsentierte? Auch wer mit diesem Stück keine bewegenden Erinnerungen oder auch nur ein gutes Mittagessen verbindet, wer so selten wie möglich Radio hört und in Elektrofachmärkten nie mehr Zeit als unbedingt nötig verbringt, kann sich, das zeigt der Selbstversuch, irgendwann über ein Wiedererkennen der Minimalbreaks und die Entdeckung einer weiteren schrummelnden Gitarre im Hintergrund freuen. Und der Grußkartentext erscheint plötzlich bedeutsam.

Das ist offensichtlich keine Nostalgie, kein Aufleben schöner und/ oder wichtiger Momente – als der Lipsi eben nicht brummte, wollte die ganze DDR Rock’n’Roll hören – das ist etwas fundamental anderes. Vielleicht das Genießen der eigenen Differenzierungsfähigkeit beim Erkennen der eigenen Unverwandelbarkeit: ich bin immer noch da, und ich höre dieses Stück jetzt anders. Genauer. Und die Freude darüber verwandelt das Stück von einer Pleite in ein ehrfurchtgebietendes Objekt der Selbsterkenntnis. Und so schlecht sind die Gitarren auch nicht.

Der unverwüstliche Diedrich Diedrichsen hat in seinem bislang letzten schmalen Großwerk, „Eigenblutdoping“, das Phänomen des Loops untersucht, der Endlosschleife. Er postuliert, extrem verkürzt dargestellt, den Loop als zeitgemäße Form des Erlebens, von den minimalen Verschiebungen des Technos bis hin zur kreisförmigen Auto- und Fußgängerführung bei der Gestaltung von Städten. Wir erfahren uns durch die minimalen Abweichungen bei der Erfahrung des Immergleichen. Die Abweichungen im außen sind dabei längst nicht so interessant wie die im Innen: Der Technotänzer (eigentlich kaum noch eine zeitgemäße Erscheinung), befreit sein Bewusstsein und seinen Körper dadurch, dass in der Musik nichts passiert. Das ist, vor allem mit den verbundenen Nebengedanken, eine sehr, sehr viel ergiebigere Idee, als es sich in diesem Rahmen formulieren lässt, aber hat sie viel mit unserem täglich Erleben zu tun? Rajnees/Bhagwhan/Osho formulierte mehrfach heiter, bei der Meditation ginge es darum, das Gehirn so ausgiebig zu langweilen, bis es sich entnervt abschalte, und etwas Spannenderes passieren könne. Techno kann meditativ sein, U2 und der Lipsi sind es ganz sicher nicht, und ihre Rezeption fordert gerade nicht das ungefilterte Bewusstsein heraus, sondern kleine, blöde Kunststücke des aufgekratzten Alltagsintellekts.

Wer die bislang fehlenden acht Minuten in Avatar aufspüren will, und die Veränderungen bei den Hartz IV-Regelsätzen, ist gerade nicht ganz entspannt im Hier und Jetzt.

Ein großes Problem bei chronischen Krankheiten und Beschwerden ist das so genannte „Schmerzgedächtnis“. Wer tapfer die Zähne zusammenbeißt und das Stechen im Fuß ignoriert, schleppt sich eben nicht über den Berg, sondern gewöhnt sich ab einem kritischen Punkt daran, das gesamte Körpergefühl um das unbewusst vermiedene Auftreten herum zu bauen. Die Folge sind eine Fülle von möglichen Spätfolgen, darunter der faktische praktische Ausfall des betroffenen Fußes. „Der Mensch gewöhnt sich an alles.“, lautet eine berühmte Kalenderweisheit von Dostojewski. „Das ist seine genaueste Definition.“ Laut dem Fazit der Schmerztherapeuten gewöhnt er sich dagegen an gar nichts, sondern baut um, mit schwer einschätzbaren Folgen. Die humanistische Psychologie geht heute davon aus, dass dies im emotionalen Bereich immer zum Zustand größtmöglicher Gesundheit strebt, solange für diese auch nur die geringste Chance besteht. Trotzdem liegen auch für sie die größten Probleme bei den unnötigen blinden Flecken. Aber wie verhält es sich bei weniger individuellen Zumutungen wie den späten U2?

Eine kleine autobiographische Anekdote: Als junger Mensch sah sich dieser Autor einmal mit einem Freund in absolut nicht nüchternem Zustand einen extrem langweiligen Horrorfilm an. Nach den ersten drei Minuten war unvermeidlich, wie sich die nächsten neunzig Minuten entwickeln würden, aber wir weigerten uns, uns das einzugestehen. Statt dessen überboten wir uns darin, dem Film eine zweite, dritte, vierte Ebene anzudichten, ein subtiles Geflecht verborgener Hinweise auf noch zu erwartendes cleveres Grauen. Eine grüne Tür oder ein plötzlich dümmlich in die Kamera grinsender Statist verwiesen auf ungeahnte Möglichkeiten. Als der Film sein erwartbar enttäuschendes Ende erreicht hatte, hatten wir ihn schon beinahe vergessen und waren nicht mehr frustriert. Ein schöner Abend, und wir klopften einander zum Abschied gerührt und anerkennend auf die Schultern, wir waren gute Freunde und kreative Köpfe, immun gegen die Langeweile der Welt und schlechte Horrorfilme.

Was aber, wenn der Film nur ein winziges bisschen besser gewesen wäre (und wir eine Spur nüchterner und älter)?

Wenn er sich seines eigenen mageren Potentials voll bewusst gewesen wäre und zum Ausgleich tatsächlich ein paar ins Leere führende Andeutungen von höheren Ambitionen, wilden Gedanken und cleverer Selbstreflexion besessen hätte? Gerade genug, um nicht abgetan zu werden oder zu fröhlichen eigenen Ideen einzuladen?

Wir hätten nicht von ihm wegdenken können, sondern mit ihm mitdenken müssen, immer in dem Bewusstsein, vermutlich einem zynischen Bluff zum Opfer zu fallen.

Und damit sind wir mitten im heutigen Leben.

Die neue Fassung von „Avatar“ ist ja tatsächlich acht Minuten länger. Der höchstmögliche Hartz IV-Regelsatz wurde tatsächlich um fünf Euro angehoben. Damit ist unnachgiebig impliziert, dass „Avatar“ ein Meisterwerk war, und die Zusammenlegung von Arbeitslosen-und Sozialhilfe samt bürokratischer und unbürokratischer Schikane der Betroffenen ein sinnvoller Beitrag zur Sozialpolitik. Brauchen wir diese acht Minuten? Brauchen wir diese fünf Euro? Das ist eine völlig andere Diskussion als: Brauchen wir Avatar? Brauchen wir Hartz IV? Die Werbung ist schon seit rund zwanzig Jahren davon abgekommen, in erster Linie das beworbene Produkt als besonders schön und gut herauszustreichen. Es wird mit kleinen Widerhaken gearbeitet, mit Provokationen und behaupteter Selbstkritik, generell mit der allgegenwärtigen Antäuschung von Ironie, mit „bald in neuem Design!“ und „verbesserte Rezeptur“. Neue Softwareprodukte werden ganz selbstverständlich zunächst einmal mit groben Macken ausgeliefert, anschließend werden unter zwiespältigem Medientamtam dann die Verbesserungen nachgereicht. Das betrifft ausnahmslos ausgerechnet Phänomene, die eben nicht in der Garage entstehen. Avatar war als einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten geplant (dass er es tatsächlich wurde, war natürlich nicht planbar), James Cameron standen 15 Jahre Zeit und ein horrendes Budget zur Verfügung. Die soziale öffentliche Hinrichtung mit der Chiffre Hartz IV war kein kleiner, schräger Versuch einer Neuregelung, sondern, wie immer gerne betont wurde „die größte Reform, die diese Republik bisher erlebt hat“ und verschlang bislang Unsummen, die der Sozialpolitik fehlen. Der Lipsi war Staatssache und wurde von hochqualifizierten Leuten unter Laborbedingungen entwickelt. Und das kleine, melancholische Gitarrenlied „One“ ist heillos überproduziert, selbst in der karg anmutenden Johnny Cash-Version.

Minderheitenpositionen, neue Ideen und Produkte müssen sich als perfekt gerieren. Großakte inszenieren sich als charmant, zweifelnd, spontan und fehlerhaft.

Das mediale kollektive Schmerzgedächtnis ist längst darum herumgebaut, dass die Lohnnebenkosten in Deutschland zu hoch sind und international nicht wettbewerbsfähig. Oder dass U2 eine bedeutende Band ist. Das Problem mit dem Schmerzgedächtnis liegt darin, dass es auf eine veränderte Situation nicht mehr reagieren kann.

Man sieht die qualvolle und verwirrte Überwindung des Schmerzgedächtnisses zur Zeit auf allen Kanälen in den Gesichtern der DDR-Bürger im Herbst 89. Und man kann zumindest ahnen, wie im Prozess der auf diese Art erfolgten Vereinigung Vieles wieder schnell an seinen richtigen, falschen Platz gerückt ist.

Wie aber sollen wir jetzt damit umgehen? Ehrfürchtig Wohl und Wehe der acht zusätzlichen Minuten und der fünf zusätzlichen Euro diskutieren? Sich dieser Diskussion verweigern? Lieber ein paar Bäume pflanzen? Avatar (sicherlich ein interessanter Film, der diese Metapher nur bedingt verdient hat) und Hartz IV sind nicht mehr erfolgreich ironisierbar. Dass der Lipsi eine Farce war, ist mittlerweile allgemein bekannt. Um nichts bemüht sich Bono mehr außer um seine Art der Afrika-Diplomatie und seine Form der Selbstironie. Roxette haben sich nie anders als hochwertiges Trash-Phänomen dargestellt.

Wir werden auf unsere Differenzierungsfähigkeit zurückgeworfen, und die ungelenke Schönheit des Lipsi zu erkennen, ist eine Leistung. Und „One“ ist tatsächlich ein interessantes Stück, wenn man irgendwann gezwungen ist, auf die Feinheiten zu achten, um sich nicht zu langweilen.

Aber diese Differenzierungsfähigkeit nützt umso mehr, wenn sie sich auf lohnendere Objekte anwenden lässt, auf tatsächlich umgeschnittene Filme oder brauchbare Vorstellungen von Sozialpolitik. Mit diesem Bewusstsein tut natürlich jede BILD-Schlagzeile erst einmal weh. Doch uns stehen ja genug Schmerzmittel zur Verfügung, von tatsächlich tanzbaren Tänzen bis hin zu guter Musik

Text. Florian Schwebel