Hobbits sind wie Vivaldi

Wir schauen nicht richtig hin, wir hören nicht richtig zu, und wer könnte es uns verübeln?  Der erste Teil des „Hobbits“ läuft, und nun sind die Kunstrezeptionsformen der letzten 200 Jahre wirklich hinüber, und nicht auf eine Art, wie sie sich Avantgardisten erträumt haben.

Alex Ross, der langjährige Klassik-Kritiker des „New Yorker“, ist bei uns bekannt geworden durch sein Buch „The rest is noise“, in dem er uns durchschnittlich ignoranten Bücherlesern die moderne Klassik näherbringt (der Erfolg von „The rest is noise“ hat zu all den Bestsellern geführt, die uns erklären, warum wir bei ABBA und Volksliedern mitpfeifen. Nicht ganz so tricky, aber musste auch mal gemacht werden). Zu seinen steilen Thesen gehört die (umfangreich belegte und begründete) Ansicht, die derzeit übliche Form des „klassischen Konzerts“, mit Stillsitzen, Nichträuspern und einem sorgfältig zusammengestellten Programm aus bspw. einer Symphonie, zwei Liedern  und einem kurzen Stück für Quartett sei etwa 150 Jahre alt.

Quietschende Stühle

Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung wurde die für uns übliche Konzerthallenklassik größtenteils als Fetenbeschallung, Hintergrundgedudel, Festaktsuntermalung und generell als Ambientmusic eingesetzt (was die Werke Vivaldis vermutlich recht gut erklärt). Natürlich trieb diese Situation manche Komponisten, speziell der Wiener Klassik, zur Verzweiflung, und ab dem 18. Jahrhundert setzte sich dann ja auch nach und nach die bis heutige übliche konzentrierte Aufführungspraxis durch. Abende mit einzelnen Musikern und Sängern wandelten sich von bunten Potpourris aus Evergreens, Ohrwürmern, Kabinettstückchen und Kostbarkeiten zu Programmen, die Werken Geltung verschaffen wollten. Ross, ein selbstkritischer Amerikaner, behauptet, die im Zuge der Industriealisierung neu geschaffenen Konzertsäle samt Garderobenzwang seien auch ein Ausdruck von neureichem amerikanischem Posertum gewesen – wir haben keine Kultur, aber wir zelebrieren sie ordentlich –, doch in der alten Welt wurden sie ja parallel populär. Zwei Dinge können uns nun bei diesem modernen Umgang mit klassischer Musik ins Auge springen: sie war demokratisch (im bürgerlichen Sinn, man musste nicht mehr bei Hofe eingeladen werden, um ein Streichquartett hören zu können), und sie war konzentriert (in einem Konzertsaal gibt es absolut nichts zu tun, was von der Musik ablenkt). Die dritte und fragilste bedeutende Verschiebung war die Betonung des Werkbegriffs. Zum Tanzen, bei Hofe und an einem Abend mit einem Meistergeiger braucht es nicht unbedingt ein Werk, die Musik ist wichtig, aber der Kontext ist wichtiger als die Erfassung der Musik als Werk mit diesen oder jenen Grenzen.

Aber natürlich gab es Theater- und Opernaufführungen lange bevor jemand Programmzettel für einen Abend mit Paganini verteilte. Da ging es nun offensichtlich um Werke (was bei Erzählungen nun auch näher liegt – die meisten Menschen haben ein instinktives Gespür dafür, wann eine Geschichte zu Ende ist, aber klatschen trotzdem aus Versehen zwischen den Sätzen von Symphonien), allerdings nur bedingt um Konzentration. Theater und Opern wurden, nach allem, was wir wissen, vor Wagner nicht annähernd so weihevoll genossen wie heute. In dem verschrobenen Episodenfilm „Aria“ von 1987 zeigt Robert Altman uns statt der Bühne ein Publikum des 18. Jahrhunderts auf den billigen Plätzen: da wird gegessen, getrunken, gelacht, geprügelt und kopuliert. Und scheinbar scheint Altmans Vision nahe an der historischen Wirklichkeit zu sein: Nicht nur wurde im attischen Theater bei natürlichem Licht gepicknickt, Shakespeare sprach die Plapperer im Publikum direkt an, Orchester- und Theaterdonner sollten bei vielen klassischen Werken die Konzentration zurück auf die Bühne lenken, und, wenn er selber dirigierte, reagierte Mozart angeblich auf Zwischenrufe und Musikwünsche aus dem Publikum. Zudem sind die Dramen und Opern bis zum 18. Jahrhundert für unser Verständnis nicht sonderlich dicht: da gibt es viel zum Überhören und Übersehen und als Ausgleich für uns heute häufig unerträgliche Redundanzen. Shakespeare, für den das sicher nicht gilt, legte seine Stücke gleich, gemessen an seinen Zeitgenossen, als eine Art Nummernrevue an.

Literatur kann sicher als Musterbeispiel einer aufmerksamkeitsfordernden Kunst gelten, aber zum einen wurde der Roman verhältnismäßig spät erfunden, zum anderen wurde er zu seiner ersten Glanzzeit, im 19. Jahrhundert, meist im Familienkreis vorgelesen. Für die Werke von Dickens ist das eine großartige Rezeptionsform, aber moderne Literatur, in der drei Punkte ungeahnte Abgründe aufreißen, lässt sich so kaum verstehen – selbst die lockersten Großfamilien hätten an einem gemeinsamen Herumlungern zu Texten von Hemingway oder Raymond Carver vermutlich wenig Freude.

Die Konzentration, die uns, theoretisch, zu überwachten, fokussierten Idealrezipienten macht, wurde also vermutlich tatsächlich mit den Konzertsälen in den Hirnen installiert, unterfüttert durch die einsame Erfahrung des genauen Lesens. Etwa 70 Jahre nach der Etablierung des klassischen Konzerts mit Fliege und quietschendem Parkettboden erlebte sie ihre Apotheose mit den Filmpalästen der Großstädte.

 Karel Dujardin (1626–1678)“Commedia dell'arte“

Karel Dujardin (1626–1678)“Commedia dell’arte“

Zu viel Ernst, zu viel Spaß

Über die Prachtbauten zu Hollywoods Glanzzeit ist schon so viel geschrieben worden, dass wir uns das an dieser Stelle getrost sparen können. Der Vergleich mit den großen Opernhäusern fällt da gerne und zu Recht, aber Opernhäuser von entsprechenden Ausmaßen waren nicht annähernd so weit verbreitet. Und sie waren heller, sind es trotz gelegentlicher Stroboskopblitze und Farbmagie bis heute. Die raunende Dunkelheit kam mit dem Kino in die Kultur. Alle hermetisch neonlichten Ausstellungen mit keltischen Krügen, alle Webber – Musicals und Angeberpräsentationen bei heruntergelassenen Jalousien leiten sich von der Konzentration des Kinos ab. Erst mit den Filmpalästen lernte die Menschheit, wirklich lichtlose Räume zu bauen und gleichzeitig, sie zu beleuchten.

Das Kino hatte natürlich einen Vorläufer, und das war die Kirche. Und es ist kein Zufall, dass die konzentrierte Kunst zeitgleich mit der nüchternen Wissenschaft und dem individuell geprüften Glauben reüssierte. Wieder einmal stolpern wir über die von Max Weber  so genannte „protestantische Arbeitsethik“. Das Hingucken und vor allem Hinhören beim Gottesdienst lohnt sich erst, wenn der keine atmosphärische Woge vertraut bizarrer Eindrücke in einer fremden Sprache und mit unklarer Bedeutung ist. Das genaue, zergrübelte Lesen im hell erleuchteten Studierzimmer kann sich in Kunst und Wissenschaft leichter durchsetzen, wenn mit einem Mal jeder Gläubige mit seiner Bibel alleine ist. Der Einzelne muss Sinn produzieren und sich beim Konsum von kulturellem Schnickschnack dessen Sinn erarbeiten. Das Kino ist gleichermaßen Zuspitzung und Gegenbild dieser Tendenz. Zwar müssen im Kino auch die kleinsten Nuancen eines Moments intensiv gelesen werden, ohne, dass der Blick träge über eine Theaterbühne mit einer Fülle unwillkürlicher Eindrücke schweifen könnte, dafür passiert das aber in einem schwelgerischen Rahmen, und die Eindrücke sind traumähnlich und meist nicht bewusst zu verfolgen. Ernsthaftere Protestanten waren nie glücklich mit dessen heidnischem Bilderrausch und verteufelten es gerne als bunten Mummenschanz. Aber hinter diesen naheliegenden Vorurteilen lauerte häufig der andere, nagendere Zweifel: wurde da nicht Weltlichem und Dummem umgekehrt viel zu intensive Aufmerksamkeit zuteil? Die zumindest in den USA mächtigen puritanischen Kulturbeobachter, die Schleusenwärter für ganze Zuschauermillionen, bedienen sich bei der Abwertung (meist populärer) Kultur bis heute immer des gleichen Doppelarguments: alles ist entweder hirnloser Mumpitz, ein unstrukturierter Karneval (Kultur als laufende Waschmaschine mit besserem Bild) oder eben gerade ein viel zu ernsthafter Umgang mit angetäuschten richtigen Fragen, die jedoch falsch beantwortet werden (Kultur als Quacksalber, der eine falsche Heilung verspricht). Der Wissenschaftspositivismus, der parallel zu dieser religiösen Einstellung entstanden ist, sich aber trotzdem gegen sie im Lauf der Zeit mehr und mehr abgegrenzt hat, sieht Kultur genau so: Entweder als schönen Quatsch oder als irritierende Hirnverklebung, und in dieser Tradition steht auch unser aktueller salonfähiger Umgang mit Kultur, der zwar von der Kunst keine wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Bescheidenheit fordert, aber nachweisliche wirtschaftliche Effekte oder Klappehalten.

Ohne Herumschlonzen

Trotz dieser Gegenbewegungen wurde Kultur zumindest in den letzten 100 Jahren konzentriert konsumiert. Als idealer Genuss von Popmusik, die nicht zum Tanzen auffordert (die ist eher wieder die vertraute gesellschaftlich eingefasste Rezeption) galt von den 1970ern bis vor wenigen Jahren noch das Anhören mit Kopfhörer auf den Ohren und Textblatt oder Cover in der Hand. In Konzertsälen dagegen wurden alle Bewegungen vermieden, die einen unbequemen Stuhl zum Ächzen bringen könnten. Filmliebhaber betraten das Kino vor dem Vorspann und verließen es nach dem Abspann. In Museen standen Betrachter schweigend vor einem sorgfältig ausgeleuchtetem einzelnen Exponat und taten zumindest so, als würden sie es nachdenklich auf sich wirken lassen. Und Literatur wurde einsam und hingebungsvoll im Schein der individuellen Lampe gelesen.

Diese ganze angespannte Weihe verführte dabei immer wieder zu Spott, nicht zuletzt von Kulturschaffenden. Von den Dadaisten bis zu den Surrealisten, von den Lettristen bis zu den Situationisten und ab da aus den verschiedensten Ecken der Gegenkultur und der Avantgarde wurden Angriffe gegen die bildungsbürgerliche Erhabenheit gestartet. Pissoirs wurden in Ausstellungsräume geschmuggelt, Lesungen und Konzerte gestört, Genres und Formen gemixt, als Versuch, die Kultur aus ihren abgezirkelten Nischen wieder in irgendeine soziale Praxis zu übersetzen, um sie wilder und freier, konkreter oder gerade transzendenter zu machen, um sie gewöhnlicher und ungewöhnlicher zu machen. Selbstverständliche Grundlage all dieser Attacken war immer, dass es ein Ideal der fokussierten Aufmerksamkeit überhaupt gab, dass die Zeit der beschickert im Fürstensaal dösenden oder essenden Hörer, die sich eigentlich mehr für die Manschettenknöpfe des Fürsten als für den Violineneinsatz interessieren, vorbei war. Wenn aktuelle kulturelle Produkte offensichtlich doch im fröhlichen Halbdämmer laut mit interessiertem Blick auf Manschettenknöpfe erlebt wurde, war es ein Skandal, den man laut beklagen durfte, siehe die Schmähreden auf Fernsehshows, auf Videoclips, auf scheinbar dumme Erfolgsfilme usw.

Schlendern oder geschlendert werden

Und nun sitzen wir hier, gerade an den Feiertagen. Die Bestseller in unseren Händen sind nicht nur so dick wie die heute vergessenen Schwarten aus viktorianischen Zeiten (viele der pointiertesten modernen Romane sind/waren abartig umfangreich), sondern erlauben auch nur eine vergleichbare halbe Aufmerksamkeit – sie sind redundant, inkohärent, kaum anders zu lesen als mit suchendem Auge und halbamüsierter Lässigkeit. Die großen Kinofilme sind Materialsammlungen aus guten und schlechten Szenen verschiedenster emotionaler Wertigkeit, ansonsten wird ferngesehen, gerne auch ambitionierte amerikanische Werke auf DVD, die immer irgendetwas bieten, wenn auch das Nachdenken darüber, was das im Einzelnen sein mag, hier und da ziemlich gruselig ausfällt. Wir surfen durch Artikel voller Hyperlinks, die einen großen, amorphen, nicht enden wollenden Text ergeben. Und dazu hören wir Musik im Shuffle-Modus.

Es fällt schwer, hier den Spielverderber zu geben, denn vieles daran ist ja eine ekklektizistische Befreiung, ein Zulassen der verschiedensten Formen und Ansätze. Wer will etwas gegens Schlendern und Herumschlonzen sagen, gegen das Wirkenlassen und Entdecken? Viele der interessantesten Kunstwerke waren schon immer vieldeutig oder etwas schief, langsam oder wirr, überreich oder detailverliebt, selbst derjenige, der streng modern Bergmann über Fellini stellt, kann die komplexe Legierung von Bergmanns Werk nicht übersehen, dessen vielfältige Einflüsse und Nuancen. Und Benimmregeln waren nie gut für einen wachen Geist resp. ein fröhliches Herz.

Der „Hobbit“ ist kopflos, aber vielleicht liegt genau darin nicht nur sein Reiz, sondern seine Kunst.

Und doch muss hier Spielverderberei sein, denn wir schlendern nicht, sondern werden geschlendert, und das mit Hochdruck.

Der Unterschied zwischen einem späten Fellini-Film und dem neuen „Hobbit“ (die bei allem Sammelsurium natürlich beide wahnwitzig genau gerarbeitet, detailverliebt konzipiert und voll von grundsätzlichen Überlegungen sind) liegt darin,  dass Peter Jackson und die seinen vielleicht alles in Frage stellen wollen, von den Ideen Tolkiens bis zu Vorstellungen über Filmdramaturgie, aber nie ihre Definitionsmacht, diese Geschichte letztgültig zu interpretieren, und uns vor allem nie eine Chance geben wollen, ihrem Spektakel zu entkommen. Sie rufen uns zur Ordnung. Sie werfen uns nicht, wie Fellini, ein Kaleidoskop vor die Füße, sondern beharren mit jedem dräuenden Dialogsatz, mit jedem Selbstzitat, und erst recht natürlich mit jeder weihevollen Werbung darauf, dass dies kein Kaleidoskop sei. Vielleicht animieren Dialoge im Film selber zu Zwischenrufen, aber die Trailer müssen gebannter aufgenommen werden als ein Konzert moderner Klassik. Es mag Jackson et al gleichgültig sein, ob wir in den ersten drei Stunden „Hobbit“ an den Bildern vorbeischauen, dies oder das für uns mitnehmen, uns hier langweilen oder dort ärgern. Aber sie verhindern mit ihrer geballten Martkmacht nicht nur, dass wir den Film ignorieren können, nicht nur, dass wir an Bilbo Beutlin denken können, ohne an den (großartigen!) Martin Freeman zu denken, sondern vor allem, dass wir uns von ihrem Hof lösen können. Wer irgendeine Relevanz, irgendeinen Reiz an ihrem Werk finden kann, mag darin herumschlendern, aber in die Freiheit soll er nie fliehen können, und erst recht nicht zur Konkurrenz. Die Schocks und Stilbrüche sollen nicht aufwecken, sondern binden, sie finden immer wieder zu einem Cliffhanger, einer Beschwörung, einem Kehrreim zurück. Die Konzentration und Kohärenz, die so vielen heutigen kulturellen Erfolgsprodukten fehlt, fehlt in ihrer (und das klingt heute so altmodisch und humorlos, dass es sich ohne Magenschmerzen kaum aufschreiben lässt) Platzierung am Markt keineswegs. Das neue Moment mag darin liegen, dass es nicht um ein schnelles Geschäft geht, sondern um die Beanspruchung eines kulturellen Raumes.

Und nun sitzen wir also bei Hofe. Das Geraune über „Qualität“ hat sich nicht aufgelöst, ist auch nicht wirklich neu definiert worden, sondern erübrigt sich einfach, denn bei Hofe ist nun einmal alles erlesen. Hobbits sind wie Vivaldi. Wir mögen schläfrig auf die Uhr gucken, aber immer wird uns irgendetwas geboten. Unseren Computern ist es gleichgültig, ob wir Essays schreiben oder Liebesbriefe, Spiele spielen oder uns über die Bundesliga informieren, solange wir uns dabei die Produkte und Dienstleistungen unserer Softwarefirma anschauen, und sicher ist irgendetwas für uns dabei, und sei es ein Hörbuch. Die Geigen spielen, ja, der „Hobbit“ enthält ja auch wirklich viele fantastische Szenen, und wenn wir nicht aufpassen, kommen wir nie nach Hause, und nie nach draußen.

Florian Schwebel