Anmerkungen zu einem Akt marktwirtschaftlicher Bücherverbrennung

Eines Tages wird jemand die Geschichte der deutschen „Wiedervereinigung“ anders, nicht mehr als Siegertext schreiben, und dann wird sie nicht mehr so lustig birnenförmig erscheinen wie wir es gewöhnt sind und bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit zunehmender Verlogenheit feiern. Dann wird beschrieben, wie das Geld über die Menschen herfiel, wie eine Mischung aus Ignoranz, Bösartigkeit, Gier und Überheblichkeit das ästhetische Erbe einer Gesellschaft vernichtete, die man sich eher einverleibt hat als sich mit ihr zu vereinen. So verschwanden Architekturen, Bilder, Archive, Landschaften schneller als man sie überhaupt hätte wahrnehmen können als Dokumente der Kulturgeschichte eines Landes, von dem zunehmend die Vorstellbarkeit verloren geht. An die Stelle der Dokumente treten die Fiktionen; es scheint auch bei einer solchen „freundlichen Übernahme“ das Recht des Siegers sich die Besiegten nach eigenem Gutdünken zu erfinden. So teilt sich die Erinnerung in Ostalgie-Kneipen, Marken-Fetischismus und Oscar-Gewinnerfilme.

Mantrahaft müssen wir betonen: Nein, wir wollen die alte DDR nicht zurück. Müssen wir denn, wenn wir das Colosseum in Rom besuchen, betonen, dass wir keinesfalls das römische Imperium und das Spektakel zurück haben wollen, bei dem die Christen den Löwen vorgeworfen wurden? Ist die Bewunderung mittelalterlicher Buchkunst eine Zustimmung zur Inquisition? Müssen Porzellan-Schäferhunde aus den Museen des Alltags verbannt werden, weil sie die Produkte der Nazi-Ikonographie waren? Kulturelles Gedächtnis ist ein offenes System, in dem so sehr wie Verklärung Kritik, so sehr wie Bewunderung Analyse steckt. Man darf schon deswegen Bücher nicht verbrennen, weil man sie sonst nicht mehr kritisieren kann, und man darf schon deshalb Bilder nicht zerstören, weil man sonst das richtige Sehen nicht lernen kann.

Es gibt eine simple Metapher für die Wiedervereinigung, auf die wir uns eingeschworen haben: Ein Gefängnis wurde geöffnet, die Menschen sind ins Freie geströmt, und alles, was sie an die Zeit der Gefangenschaft erinnert, von ein paar kauzigen Neben-Aspekten wie Ampelmännchen und Sommerfilmen abgesehen, soll verschwinden. Und das schließt offensichtlich die „Gefängnisbibliothek“ mit ein.

Unterhalten wir uns ein andermal darüber, ob diese Metapher nicht doch viel zu schlicht ist, um für die Transformation von Politik in Geschichte zu sorgen. Sehen wir uns stattdessen an, was wir mit dem machen, was eben beides zugleich ist, schmerzhafte Erinnerung und kulturelles Erbe. Die Entsorgung diesbezüglicher Altlasten teilten sich Regierung und Markt; das eine wurde als Akt symbolischer Politik vernichtet, das andere durch Spekulation. Zu dieser Barbarei des Marktes gehörte die teils nachlässige und teils planvolle Vernichtung von Büchern. Dabei geht es um mehr als um die schiere, blöde Arroganz der Vereinigungssieger, und sogar um mehr als darum, dass man die Früchte einer Lesekultur vernichtet, um Platz zu schaffen für die eigene Produktion, und fast gar nicht geht es um einen Akt der ideologischen Säuberung (Bücher aus der DDR können doch nur „verseucht“ sein, auch wenn es sich um Klassiker-Ausgaben, Kinderbuch-Schätze oder etwas so eigenartiges wie die Krimi-Produktion eines sozialistischen Landes geht). Bei der Vernichtung von Bibliotheken geht es immer um die Vernichtung von Gedächtnis, und so treffen sich bei der Vernichtung von DDR-Bibliotheken sehr anschaulich symbolische Politik und Marktinteresse. Als müsste man, damit wir den Dativ auf dem Jakobsweg durch die Feuchtgebiete zum positiv denkenden Biss am Morgengrauen folgen können, ein paar kontaminierte Bücherberge verbrennen.

Dazu nur so eine Geschichte: Damals, 1989, war Peter Sodann Theater-Intendant in Halle, als er Zeuge eines ziemlich ungeheuerlichen Vorgangs wurde: Vor dem Haus der Gewerkschaft waren Leute damit beschäftigt, die Bücher der Bibliothek auf einen Müll-Laster zu werfen, Bücher der DDR-Autoren ebenso wie Klassiker, Sachbücher und Kinderbücher. Der Versuch, der Vernichtung der Bibliothek Einhalt zu gebieten, führte dazu, dass man ihn als Verrückten auslachte. Die Vernichtung dieser Bibliothek, so stellte sich rasch heraus, war alles andere als ein Einzelfall. 15 000 Bibliotheken in diesem Leseland DDR wurden ausgeräumt, 200 Millionen Bücher vernichtet. Zusammen mit einigen Getreuen machte sich Sodann an eine Rettungsaktion und konnte schließlich wenigstens eine halbe Million besonders wichtiger Bücher vor einer solchen geistigen Abwrackaktion großen Stils retten. Sie wurden erst in Räumen des Theaters von Halle zwischengelagert, dann, als er den Posten räumte, kam das Angebot des Bürgermeisters von Merseburg gerade recht, eine Turnhalle zu verwenden und Hilfskräfte aus dem Ein-Euro-Segment unserer famosen Arbeitsgesellschaft damit zu beauftragen, die Bücher wenigstens grob zu sortieren und zu katalogisieren (eine Bibliothek der vernichteten Bibliotheken war da immerhin im Entstehen). Die Politik verweigerte zäh und standhaft die Unterstützung, weder der Kulturstaatsminister Bernd Neumann noch der Bundespräsident Horst Köhler konnten oder wollten helfen. Der neue Merseburger Bürgermeister setzt jetzt einen drauf, indem er die Turnhalle von den Büchern säubern will. Köhler im übrigen gab den billigen Rat, sich Sponsoren aus der Wirtschaft zu suchen.

So wie es aussieht, werden indes weder Politik noch Wirtschaft sich dieser Aufgabe widmen, mögen die Aufwendungen im Verhältnis zu anderen Projekten des Sponsoring auch Peanuts sein. Es wird an ein paar Idealisten kleben bleiben, diese Bibliothek der DDR zu erhalten und zu pflegen. Wenn sie sich finden, in Peter Sodanns Rettungswerk, dann ist das schön und gut. Das Versagen und die kulturelle Barbarei in der bundesdeutschen Postdemokratie werden deswegen nicht weniger.

Den Revanchismus unserer Unterhaltungskultur durften wir schon an mehreren Beispielen erleben: Wenn ein Mensch aus der DDR, die sowieso schon lange wieder eine sogenannte ist, sich nicht hundertfünfzigprozentig dem Mainstream-Diskurs unterwirft, wenn er gar das eine oder andere gute Haar an ihr lassen will oder darauf hin weist, dass möglicherweise auch die BRD nicht das Land der Freien und Tapferen ist, von den Gerechten ganz zu schweigen, dann hilft ihr oder ihm auch die größte Popularität nichts. Wenn ein Ex-DDR-Künstler seine Karriere vorzeitig beenden will, dann braucht er bloß ein paar kapitalismuskritische Bemerkungen fallen zu lassen. Uwe Steimle oder Peter Sodann, um nur etwas Prominenz zu nennen, die, wie man so sagt, sich in die Herzen der Fernsehzuschauer im wiedervereinigten Deutschland gespielt hatten, werden dafür bestraft, dass sie sich nicht verbiegen lassen.

In der Barbarei gegenüber diesen Büchern spiegelt sich indes nicht nur die Verachtung für die Kultur der DDR (die man sich hierzulande nie anders vorstellen kann als im Dreierschritt: ideologisch verbohrt, IM-verseucht und kleinbürgerlich-muffig), es spiegelt sich auch schon die Verachtung für die Kultur des Lesens (die etwas anderes ist als die Kultur des Bücher-Verbrauchens).

Was da geschieht ist die heuchlerischste Art von Bücherverbrennung, die man sich vorstellen kann. Eine Gesellschaft, die Bücher verbrennt, so viel ist sogar in der (dass ich nicht lache) „Kulturnation“ Deutschland Konsens, die verbrennt früher oder später auch Menschen. Und was macht eine Gesellschaft mit Menschen, die Bücher auf den Müll wirft? Eben. Aber was zum Teufel haben wir erwartet? Die Barbaren gewinnen immer. Ganz besonders die mit dem Geld.


Autor: Georg Seeßlen