Pessimistische Bemerkungen über die so genannte Alternativlosigkeit in der Abschlussphase des Bundestagswahlkampfes und die Richtungslosigkeit der Postdemokratie

Die Demokratie, soviel ist sicher, ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Sie entwickelt sich nicht mehr weiter, sondern sie muss immer nur verteidigt werden, weil alles andere noch viel schlimmer ist. Im großen und ganzen haben wir andere Sorgen. Wir leben in einer Gesellschaftsform, die die Demokratie mit sich herumschleppt wie einen kranken Verwandten. Was wir dagegen zur Genüge haben, das ist eine Herrschaftsform, die Colin Crouch „Postdemokratie“ genannt hat: ein prekärer Zustand zwischen der Herrschaft des Volkes und der Herrschaft der Konzerne (die sich den Umstand zunutze machen, dass der Staat seine Bürger nicht mehr schützen will): „Das heißt nicht, dass wir in einem nichtdemokratischen Staat leben, der Begriff beschreibt jedoch eine Phase, in der wir gleichsam am anderen Ende der Parabel der Demokratie angekommen sind. Viele Symptome weisen darauf hin, dass dies heute in den Industrienationen der Fall ist, und wir uns vom Ideal der Demokratie fort- und auf das postdemokratische Modell zu bewegen.“

Die Postdemokratie zeichnet sich dadurch aus, dass demokratische und nicht-demokratische Impulse einander durchdringen und dass dieser Prozess der inneren Zersetzung sich nicht in Form von großen Skandalen, Staatsstreichen oder Systemwechseln vollzieht, sondern in Form der schleichenden Erosion, der Gewöhnung, der „Alternativlosigkeit“. Man kann, so scheint es, einfach nichts dagegen machen: gegen die Anfälligkeit für direkte und mehr noch indirekte Korruption; gegen die Entmachtung der Parlamente durch eine Komplizenschaft der Exekutive mit der Wirtschaft; gegen das Privatisieren und Outsourcen, gegen die Erzeugung neuer bildungs- wie politik-, letztlich gar lebensfernen Subgesellschaften, die sich alle Freiheiten nehmen, weil es in ihren Ghettos (Plattenbau, Droge und Fernsehen) nichts zu verlieren gibt; gegen die Medialisierung und Infantilisierung der politischen Kommunikation zu einer Art von Democratainment, in dem Macht- und Entscheidungsfragen allenfalls in Form von Gerüchten und Affären behandelt werden und ansonsten eine Endlos-Show läuft; gegen die digitale Überwachungssucht, die Tendenz der Durchdringung von Wirtschaft und Politik; gegen den Sieg des Systemischen über das Moralische (Eigenart aller Fundamentalismen, so auch des kapitalistischen Fundamentalismus, des so genannten Neoliberalismus: Das System zu erhalten ist das einzig bedeutende Ziel, die Elemente – in diesem Fall: Menschen, Ideen und Projekte, sind demgegenüber völlig gleichgültig); gegen politische Entscheidungen, die aus Sachzwängen und Machtspielen entstehen, die Entstehung rechtsfreier Räume und demokratieresistenter sozialer Milieus; gegen die Auflösung der ideellen und politischen Konkurrenzen der Parteien in innerparteiliche Machtspiele und mediale Popularitätstests. Und so weiter.

Verzweifelt: die Mitte

Demokratische Formen der Regierung und der Kontrolle der Regierung ist das eine, eine Form der inneren Demokratie das andere. Diese „innere Demokratie“ einer Gesellschaft wäre ein System, in dem die einzelnen Elemente zugleich voneinander abhängig sind und voneinander unabhängig: eine Abhängigkeit, die sich aus Interesse und Wert zusammensetzen würde. Unabhängigkeit würde vielleicht mit weniger Sozialprestige und weniger Karriereaussicht, aber nicht mit dem sozialen Tod bedroht. Abhängigkeit wäre ein Pakt auf Zeit, der niemals, ich wiederhole: in einer demokratischen Gesellschaft niemals die Art von Abhängigkeit sein dürfte, die eine nach der Art einer Sklavenhaltergesellschaft von Herrn und Diener ist oder die nach Mafia-Art die einer unauflöslichen, verschworenen Gemeinschaft.

Im Neoliberalismus haben sich die Verhältnisse von Abhängigkeit und Unabhängigkeit ebenso verändert wie die Bedingungen einer politischen Kontrolle der Ökonomie und einer demokratischen Kontrolle der Politik. Wechselseitige Abhängigkeit verdichtet sich in der Mitte. Eine fundamentale zwischenmenschliche und soziale Unabhängigkeit dagegen entwickelt sich an den Rändern: Der Jugendliche U-Bahnschläger, für den es keine Hemmung gibt, einen anderen Menschen totzuprügeln, gleicht darin einem Millionen-Bankmanager, der nichts dabei findet, sein Unternehmen von der Allgemeinheit refinanzieren zu lassen und sich dabei erneut die eigenen Taschen mit „Boni“ vollzustopfen – beide müssen sich von niemandem wirklich abhängig fühlen. Für beide gibt es keine wechselseitige soziale Beziehung mehr, die eine Balance zwischen eigenen Interessen und denen von Mitmenschen oder denen des demokratischen Systems verlangen würde. Jenseits der demokratischen Abhängigkeit verhalten sich Menschen offensichtlich oben wie unten: barbarisch.

Die Mitte versucht verzweifelt, die ohnehin schon ausgeprägte wechselseitige Abhängigkeit noch zu erhöhen: Sie ruft nach noch mehr Kontrolle, meint und trifft dabei allerdings weniger die „unverantwortlichen“ Ränder als sich selbst. In der Mitte ist gegenseitige und hierarchische Abhängigkeit bereits wiederum so ausgeprägt, dass allerorten die Grenzen zwischen der demokratischen und der sklavenhalterischen oder der mafiösen Abhängigkeit überschritten werden. Das Gesetz der Abhängigkeit erlaubt es Menschen in der Mitte nicht nur nicht mehr, ihre Möglichkeiten zu entfalten. Es erlaubt ihnen nicht einmal mehr, ein Bewusstsein, eine Sprache für ihre Gefängnis-Situation zu haben. Wir nennen es Korruption, wir nennen es Feigheit, wir nennen es Unterwerfung; es ist indes nichts anderes als die zur alltäglichen Charaktereigenschaft in einem Lebenszusammenhang der fundamentalen Abhängigkeit gewordene Taktik des Überlebens: Dem Verlust an Wahlmöglichkeiten (und sei es die zwischen Sprechen und Schweigen) begegnen wir mit Wahl-Surrogaten wie der Wahl zwischen Aldi und Lidl oder der Wahl zwischen RTL und ProSieben, zwischen Infotainment, Dokutainment und Politainment. Und wir müssen nicht nur in Kauf nehmen, sondern sogar fordern, dass sich die äußere Surrogat-Demokratie der inneren Surrogat-Demokratie angleicht und also ein Wahlkampf vor allem an seinem Unterhaltungswert wie am „Mitspiel“-Wert gemessen wird. In Ergänzung zu Crouchs politischer Form der Postdemokratie müssten wir daher auch eine soziale Form der Postdemokratie beschreiben (die Ausbreitung von rechtsfreien Räumen, Inseln der feudalistischen und der mafiösen Herrschaft, Abhängigkeit in der Arbeit und über die Medien, die jenseits der Vorstellung vom freien Individuum liegen). Postdemokratisch ist nicht nur die Sphäre „da oben“, postdemokratisch ist auch unser Alltags-, Arbeits- und Kulturleben.

Ein allgemeiner Konsens zur Postdemokratie, die offensichtlich nicht ein mehr oder weniger statischer Zustand nach einer Blütephase der Demokratie ist, sondern vielmehr ein Prozess der Erosion, der sich bei Bedarf (zum Beispiel in einer so genannten „Wirtschaftskrise“) beschleunigen lässt, hat zwei große Ursachen.

Die erste Ursache für unser Mitspielen ist jene Angst, von der schon die Rede war. Wir wissen, dass jenseits der Postdemokratie nur die Ungeheuer von Terror, Diktatur, Zerfall, Anarchie und kaum weniger moderater Formen von Nicht-Demokratie lauern. So erscheint uns Postdemokratie nicht nur als Zugeständnis und nicht nur als Verfallserscheinung, sondern auch als „Bollwerk“. Postdemokratie ist immer noch besser als gar keine Demokratie.

Unabhängig: oben und unten

Die zweite Ursache ist eben jenes System der Abhängigkeit, das in der kulturellen Mitte der Gesellschaft keinen Verstoß gegen den Konsens, nicht einmal einen Verstoß gegen allgemeine Schweigegebote zulässt: Die politische und kulturelle Kritik in Deutschland zum Beispiel kann gar nicht besser sein.

Wir starren auf einen „Fall Doris Heinze“ beim NDR, weil sich da jemand in geradezu grotesker Weise am System der Abhängigkeit bereichert hat, und werden nur noch blinder gegenüber den Abhängigkeiten, die längst schon System sind. Zwar wurde das Mitmachen schon immer belohnt und das Wahrheit-Sagen schon immer bestraft, aber erst in der Neuverteilung der Abhängigkeit werden Blindheit und Dummheit zum Maß der Dinge. Oben und unten haben die Menschen sich so von den Abhängigkeiten gelöst, dass sie zur Demokratie nicht mehr fähig sind, und in der Mitte sind die Menschen so sehr in Abhängigkeiten verstrickt, dass sie zur Demokratie nicht mehr fähig sind. Es sind die Rituale des Medienpopulismus, die dies – postdemokratisch – noch zusammen halten.

Die eigene Verblödung wird uns indes langsam unheimlich. Es geschieht so vieles in der Demokratie, was uns Unbehagen, Angst bereitet. Und an allen Orten gibt es auch defensive Impulse, Widerstand, Einspruch. Aber vor der letzten Konsequenz, dies alles zusammen zu denken und es zu beschreiben nicht als Schwächen in einem System, sondern als schleichenden Systemwechsel, das Wechseln zu einem System, in dem die Banken systemrelevant sind und nicht die Bürger, dazu fehlt uns der Mut. Das würde vielleicht auf den vernichtenden Satz hinauslaufen: Das Projekt einer demokratischen Gesellschaft ist kurz davor zu scheitern.

Nirgendwo als in Zeiten „wichtiger“ Wahlen wird uns so sehr bewusst, wie mittendrin wir in diesem Scheitern sind. Verblüffend ist nicht, wovon in diesem Wahlkampf die Rede ist, verblüffend ist, worüber Parteien, Staat und Gesellschaft übereingekommen sind, nicht zu reden. Wir scheinen uns damit abgefunden zu haben, dass wir „Demokratie spielen“ müssen, damit niemand die Erosion des Systems bemerkt, wir selber am wenigsten.

Wir müssen uns unser System demokratischer einbilden, als es in Wahrheit ist, weil wir die zwei wichtigsten Subjekte in der Welt damit blenden und bannen müssen. Auf der einen Seite: Den Feind der Demokratie. Wer das ist? Na, der Kommunist, der Faschist, der Islamist, der Terrorist, der Fatalist, die Spacken des Bösen. Und auf der anderen Seite: uns selber. Denn wenn es nichts geworden wäre mit der Demokratie, wer hätte dann Schuld daran, außer den Spacken des Bösen? Eben. Und deshalb ist ein bisschen Demokratie immer noch besser als gar keine Demokratie. Also wäre eine Wahl, die nichts ändert, obwohl man es „eigentlich“ will, immer noch besser als gar keine Wahl, oder?

Demokratie und Freiheit sind nicht dasselbe. Freiheit meint die Möglichkeit und die Fähigkeit des Individuums, sich zu bewegen, sich zu entfalten und zu kommunizieren und von willkürlichen Eingriffen des Staates wie anderer Institutionen in seiner Lebensgestaltung sicher zu sein. Demokratie meint die Möglichkeit und die Fähigkeit des Individuums, in Entscheidungen und Kontrollen von Staat und Gesellschaft einzugreifen, alle Vorgänge der legislativen, exekutiven und judikativen Institutionen informiert zu ein. Demokratie und Freiheit sind nicht dasselbe, sie bedingen einander, geraten manchmal aber auch in Widerspruch.

So entstehen die Paradoxien auf dem Weg zur Postdemokratie: Eine Demokratie, die, um sich selbst zu erhalten, Freiheiten ihrer Bürger abbauen will. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich die Freiheit nehmen, auf Demokratie zu pfeifen. (Übrigens: Waren nicht Wahlen einmal die Praxis dafür, Wesen und Grad der wechselseitigen Abhängigkeiten mitzubestimmen? Wer keine Abhängigkeit mehr kennt, interessiert sich nicht mehr für Wahlen, aber genau so verliert jener, dessen Leben aus einer feudalistisch-mafiösen Überdetermination der Abhängigkeit besteht, seinen Glauben: Es bleibt ihm nichts übrig, als gleichsam als Wähler neben sich selbst zu stehen und belustigt den Umfragen, den Mediencoaches, den Experten zu lauschen. Der Medienpopulismus macht den Wahlkampf zu einem Spektakel, bei dem eines nicht mehr vorkommt: der freie Wille.

Die Postdemokratie ist das ideale Gesellschaftssystem für den globalen Finanzkapitalismus. Auf dem Weg dahin sind viele Menschen bereit, dem Selbstabbau und den Verwandlungen der Demokratie zuzusehen, da sie einerseits ihre persönliche Freiheit nicht bedroht sehen, andrerseits aber von dem (post-) demokratischen Staat nichts mehr erwarten, was ihre Interessen anbelangt. Der Staat rettet Banken. Das heißt umgekehrt: Dieser Staat lässt Menschen im Stich – denn die Interessen der Bank können nicht die Interessen von uns „normalen“ Menschen sein.

Der weite Weg zum Neustart

Das Modell für die äußere Entwicklung der Postdemokratie ist ebenso bekannt wie die sie begleitenden apokalyptischen Szenarien: Die demokratischen Gesellschaften fühlen sich bedroht von Migrationsströmen, von internationalem Terror und von „Schurkenstaaten“, und um sich gegen deren Angriffe zu wappnen, bleibt nichts anderes übrig, als einen Teil der demokratischen Rechte zu relativieren oder gleich abzuschaffen. Polizei, Geheimdienste und Verwaltungen arbeiten so, als gäbe es nur die Bedrohung, nicht aber das Gut, das bedroht werden könne.

Zur gleichen Zeit gibt es eine innere Entwicklung der Postdemokratie. Die Symptome dafür sind in einer Erosion der Sprache zu sehen. Das politische Nullsprech und die Verwischung der Sachverhalte durch Euphemismen und Werbe-Talk sind ja nicht nur kleine Täuschungsmanöver. Es geht darum, dass die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft Einigung und Klarheit über Begriffe ist. Für uns aber haben selbst die fundamentalen Begriffe – sagen wir: „Krieg“ – ihren diskursiven Charakter verloren. An ihre Stelle treten Bilder, die – und hier schließt sich erneut ein Kreis – nur in einem Regelkreis der Abhängigkeiten kursieren. Die Bilder werden im Verhältnis zur Sprache in gleichem Maße, aber in anderen Dimensionen korrupt. So entscheiden wir uns nun bei der Wahl nicht mehr zwischen Begriffen und Ideen, sondern zwischen Bildern und Erzählungen. Aber Postdemokratie hin oder her – muss nicht dennoch gewählt werden?

Die drei „alten“ Parteien, CDU, SPD und FDP haben sich wohl mehr oder weniger bedingungslos den postdemokratischen Strömungen überlassen. Keine von ihnen ist willens oder in der Lage, auch nur das Tempo der Postdemokratisierung zu drosseln. Die beiden vergleichsweise neuen Parteien, die Grünen und die Linken richten ihr Hauptaugenmerk eher auf die Diskurse der Fürsorge (Umwelt beziehungsweise soziale Gerechtigkeit), Freiheit und Demokratie als umfassendes Gesellschaftsmodell spielen in diesem Zusammenhang auch bei ihnen eher eine zweitrangige Rolle. Man ist bereit, das eigene Diskursfeld zu „demokratisieren“ Ökologische Basisdemokratie, Gender-Emanzipation, Stärkung der Verbraucher-Rechte, Mitbestimmung am Arbeitsplatz und vieles mehr. Aber man ist nicht in der Lage, das System als ganzes zu überprüfen. Von einem Neustart für das Projekt Demokratie ist man weit entfernt.

Vielleicht müssten wir ihn aber auch erst einmal verlangen.


Autor: Georg Seeßlen

Text: erschienen in der Freitag, 24.09.2009