Trauern, träumen und trösten in 3 Dimensionen

oben_250In „Oben“ zeigt Pixar, wie man mit digitalen 3-D-Effekten zu Herzen gehen kann

In den amerikanischen Universalbildmaschinen, Abteilung Großanimation für die ganze Familie, gab es in den neunziger Jahren zwei deutlich geschiedene Schwerpunkte. Da war die traditionelle, und doch stets noch sich erneuernde Fabrikation der grandiosen, handgemachten Zeichentrickfilme mit ihrer einzigartigen Mischung aus Sentimentalität, Komik und Ideologie: Disney. Und da war die junge, in hohem Maß selbstreflexive Schmiede der computergenerierten Animationsfilme, der es gelungen war, den digitalen Wesen Seele und Schicksal zu geben: Pixar. Disney und Pixar produzierten in marktverträglicher Konkurrenz nicht nur technisch und ästhetisch different, sondern auch, sagen wir: ideologisch. Disney-Filmen und ihren Helden gelang es immer wieder, die Schrecken der Welt durch die Geborgenheit der Familie zu überwinden und Verantwortung für die Gemeinschaft zu entwickeln, ohne die Regeln des Spiels in Frage zu stellen. Bei Pixar dagegen ging es immer um die Stärkung des Subjekts: Wo Chaos und Gleichgültigkeit herrscht, da soll Ich werden. Gelogen ist natürlich beides. Schön gelogen, meistens.

Schön gelogen

Früher oder später musste Pixar von Disney geschluckt werden, das geschieht nach den Regeln des Marktes und nach denen des Mythos. Würde Pixars Technologie ganz und gar von Disney-Ideologie aufgesogen, würde diese sich erneuern, würde ein zugleich nivellierter und unwiderstehlicher Meta-Stil entstehen? Nach der Fusion der beiden Unternehmen, der beiden Philosophien auch, begann sich der Pixar-/Disney-Film nicht allein als Hybrid zu entwickeln, vielmehr tobte oft der Konflikt zwischen den beiden Welt-Bildern in jedem einzelnen Film. Und er tut es auch im neuesten Film, „Oben“. Ein besonders schön gelogener Film, nebenbei.

Wie schon in „Wall-E“ gibt es einen ersten Teil, der ganz anders funktioniert als der [ad#oben_1]gewöhnte Action/Emotion/Comedy-Mix des Animationsfilms. Das digitale Superkino kehrt zurück und erzählt ganz ohne Worte und ganz ohne Umschweife vom wirklichen Leben, das unter anderem aus Einsamkeit, Verlust und einem Zorn besteht, der nicht weiß wohin. Nach einem Vorspiel, in dem ein schüchterner Junge mit Abenteuer-Träumen ein Mädchen kennen lernt, das noch viel abenteuerlicher, mutiger und phantasievoller ist, wird sozusagen im Zeitraffer die Lebensgeschichte dieses Paares erzählt. Vom kleinen Glück am Anfang, von den nie zu erfüllenden Träumen und der mehr oder weniger perfekten Einpassung in ein Mittelstandsleben, von dem Schmerz, der die beiden erfüllt, als sich herausstellt, dass sie keine Kinder bekommen können, vom Altwerden (und immer noch nicht die Träume erfüllen können), und dann vom Tod. Die Trauer die in diesem Film-Teil liegt, kommt nicht allein von diesem Abschied. Es ist die Trauer um das nicht gelebte Leben des phantasievollen und mutigen Mädchens vom Anfang. Einerseits, das ist der Disney-Anteil dieser Geschichte: Ein Kleinbürger-Leben zu meistern erfordert so viel Mut, Zärtlichkeit und Phantasie wie das größte Abenteuer. Das stimmt nicht, sagt der Pixar-Anteil dieses Film-Teils, dieses phantasievolle und mutige Mädchen wurde auf dem Altar der Normalität und der Konvention geopfert, es hat nicht werden können, was es hätte werden können, und die Schuld daran liegt bei allen: Bei der Gesellschaft, bei dem Mann, der als Ballonverkäufer im Zoo Genügsamkeit pflegte, und bei uns, den Zuschauern, die vom Kino immer wieder die Bestätigung unserer Phantasielosigkeit erwarten. Eine große Schuld jedenfalls steht über dem weiteren Geschehen, das sich nun zugleich nach einer konventionelleren Dramaturgie und nach den Maßgaben der Effekte entwickelt, nicht allein des wohltuend genau und sparsam eingesetzten 3-dimensionalen Teiles.

Das fliegende Haus

Das alte, windschiefe Haus des alten Mannes befindet sich mittlerweile als letztes in einer Gegend, die nach ganz anderen Mustern gentrifiziert wird. Das ist, einerseits, die modernisierungs fürchtende Nostalgie der Disney-Bilder, und es ist aber zugleich ein Pixar-Moment der Wahrheit: Der alte Mann ist nicht nur nach dem Bild von Spencer Tracy modelliert, der je älter er wurde, je weniger Teil der ihn umgebenden Welt war, er erinnert auch an den Jean Gabin aus „Le Chat“ (nach Simenon), der stoisch seinen Ehekrieg in einem Einfamilienhaus durchführt, während Abriss und Neubau ringsumher seine Welt vernichten, auch er: über den Tod der Frau hinaus. Als Carl aber schließlich in ein Altenheim gebracht werden soll, fliegt er einfach mit seinem Haus davon, das er an Tausende seiner Luftballons gehängt hat. Das fliegende Haus, das erinnert natürlich an die Filme von Hayao Miyazaki, „Das wandelnde Schloss“ insbesondere, und Peter Docter, Autor und Regisseur von „Oben“, ist fair genug, seine Bewunderung für die Arbeit des japanischen Meisters deutlich zu bekennen. So durchkreuzt ein weiterer Diskurs die Beziehung zwischen den Disney- und den Pixar-Elementen, nämlich der zwischen dem amerikanischen und dem japanischen Traum.

Es geht in Richtung „Paradise Falls“, was schon verdächtig klingt, nach einem grandiosen Wasserfall im Amazonas einerseits, und nach dem Fall des Paradieses andererseits. Unfreiwillig hat Carl bei seiner Reise einen blinden Passagier, den Pfadfinder Russell, dem in seiner Sammlung von Auszeichnungen noch die für die gute Tat gegenüber einem Senioren fehlt. Russell ist nur einerseits die notwendige Besetzung für eine boy/hero-Beziehung, andrerseits ist er ein echter Nervtöter (und, weil die Kultur und Seelengeschichte weitergeht, eben nicht einfach das Kind, das der Held einmal war oder das er sich gewünscht hätte). Ein Junge mit Mandelaugen, mit einem Gewichtsproblem, mit einem Vater-Problem und ganz sicher mit einem Boy Scout-Problem hat Russel so wenig Ahnung, wie man das macht, etwas Gutes tun, wie man es macht, man selber werden. Der alte Mann hat natürlich keine Lust, noch einmal so etwas wie ein Vater zu werden. (Wäre nicht auch das ein Verrat an der toten Frau?). Aber andrerseits lässt sich der Junge auch nicht darin beirren. Das fliegende Haus behält nicht lange seine traumhafte Schwerelosigkeit, bald muss es der alte Mann mühsam hinter sich her schleppen, um an den Traumort zu gelangen.

Ich, sagt die Pixar/Disney-Einheit

Dieses starke Bild beschreibt auch den großen Unterschied zwischen Peter Docters Weltsicht und der von Hayao Miyazaki: In den japanischen Traumfilmen kommen bei den fliegenden Architekturen immer noch seltsame Verwandlungen von alt zu jung, männlich zu weiblich, reich zu arm und umgekehrt vor. Auch das Ich ist hier eine luftige Angelegenheit. „Oben“ bleibt, was die Phantasie vom Verlassen nicht nur des topographischen, sondern auch des Subjekt-Gefängnisses, sozusagen auf dem Boden.

Dort an dem Traumort den man auch lesen kann als „Paradise false“, natürlich, kann das Abenteuer nur warten. Zuerst treffen sie auf einen bunten Laufvogel, der den Namen Kevin erhält, dann einem Hund, der zwar sprechen kann, aber deswegen nicht besonders intelligent ist. (Klar, auch das haben wir verstanden.) Dieser Hund namens Dug ist der kleine Trottel einer ganzen Horde von Hunden, die im Auftrag eines mysteriösen Abenteurers unterwegs sind. Es ist niemand anders als Charles Muntz, das Idol von Carls und Ellies Kindheit und Held ihrer gemeinsamen Träume. Der muss nun entzaubert werden: Der lange Verschollene ist nichts anderes als ein besessener Jäger, einer, den die Abkehr von den Menschen böse gemacht hat, oder war es doch umgekehrt? Jedenfalls hat Charles Muntz nur ein Ziel, nämlich den Wundervogel zu fangen. Und Carl muss sich für das Leben und gegen die Bewahrung der alten Träume entscheiden.

Dass unser greiser Held als Feind eben jenen Abenteurer bekämpfen muss, der im Zentrum der Phantasien der Liebe und der Kindheit stand, wird eher oberflächlich behandelt. Vielleicht, weil sonst auch der Salzstangen-Freudianer auf dem Tiefengrund der Story die groteske Umkehrung erkennen würde: Mit dem Traum soll da auch die Schuld gegenüber der Frau beglichen werden. Wie das geschieht, das ist, höflich gesagt: ambivalent. So oder so, halb Pixar, halb Disney, sehen wir dem Leben zu, wie es über den Tod triumphiert, und so soll es ja auch sein. Und so ist das Ende wieder purer Disney-Kitsch. Der alte Mann übernimmt sozusagen auch theatralisch-öffentlich seine Vater-Rolle und wird gleichzeitig noch einmal Kind. Ich, sagt die Pixar/Disney-Einheit, ist die Familie, die ich mir suche.

Pixar macht in „Oben“ mit dem 3-D-Effekt das, was es mit der Digitalisierung bei „Toy Story“ gemacht hat: Der Effekt wird so sehr in die Narration integriert, dass man ihn nicht mehr als etwas Neues und Fremdes empfindet. Fast möchte man sagen, dass „dezent“ damit umgegangen wird. Das Dreidimensionale ist nicht das, worauf der Film hinaus will, sondern eine notwendige Erweiterung der Erzählung, und wie „Oben“ eine sehr genaue Innen/Außen-Dramaturgie, eine sehr poetische Exploration der Farbe blau ist, so ist auch der 3-D-Effekt ein dezidiertes Stilmittel: Wo der Film die Zweidimensionalität überwindet, da überwinden auch die Figuren ihre Zweidimensionalität. So wird dieser Effekt nicht mehr überwältigend sondern befreiend empfunden, mehr noch: In einem Film wie „Oben“ hat der 3-D-Effekt einen utopischen Charakter. Er ist keine Attraktion mehr, sondern wird zum Wesen des Filmischen. Und deshalb hat Pixar wohl nach der Digitalisierung auch die Dreidimensionalität nicht bloß auf der Leinwand, sondern auch in unseren Herzen etabliert. Als Paradigma einer großen, notwendigen Tröstung.

 

Autor: Georg Seeßlen

 

Text: veröffentlicht in DIE ZEIT, 17.09.2009 Nr. 39

Bild: Walt Disney Pictures/Pixar Animation Studios