Anmerkungen zu dem Verhältnis von Arbeit und moderner Kunst

Der Bruch der Moderne geht durch das Bild: Der moderne Maler zeigt die Welt mit neuen Mitteln, aber er zeigt nur wenig von ihrer Modernität. Umgekehrt aber geht der Kitsch mit den alten Mitteln auf die Modernen Zeiten los. So zeigt die moderne Kunst den Körper und die Welt im Fundamentalen und übersieht dabei das Ökonomische und Technische in seiner Zeit, während sich der Kitsch die Technologie zum Fetisch und die Arbeit zum Idyll macht. Nur zwei Mal im zwanzigsten Jahrhundert war es Programm der Kunst, mit den modernen Mitteln auch die moderne Wirklichkeit zu sehen. Einmal in der Kunst der Sowjetunion in und nach der Revolution und vor dem stalinistischen Terror-Kitsch, das andere Mal im Futurismus, den mehr als eine Wahlverwandtschaft etwa mit dem italienischen Faschismus verband (während sich der deutsche Nationalsozialismus die technologische Bewegung mit radikal vormodernen Mitteln einschrieb). Während die sowjetische Revolutionskunst den arbeitenden Menschen als Subjekt der Geschichte zu zeigen versuchte, löste ihn der Futurismus im Rausch von Form, Bewegung und Technologie auf. Zwei sehr, sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage: Was ist das Schöne an der Arbeit?

Lange zuvor hatte die Kunst – vor allem, wo sie sich auf die eine oder andere Weise dem Prinzip des „Realismus“ verschrieben hatte – die Frage nach dem Schrecken der Arbeit beantwortet. Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sieht die Kunst auch die neue Form der Arbeit, zwischen Bestellung des Landes durch das Volk und Repräsentanz der Herrschaft: die kollektivierte Arbeit zur Herstellung von Waren, die Arbeit des Menschen mit der Maschine und die Arbeit des Menschen als Maschine. Nicht dass sich die neugierige Bildproduktion nicht vorher schon mit Webstühlen, Baugerüsten oder Manufakturen auseinandergesetzt hätte, aber das geschah vorwiegend mit einem enzyklopädisch kalten Blick. Die Kunst konnte Arbeit erst darstellen, als sie den Arbeiter als ihr menschliches Subjekt und vorwiegend als ihr Opfer zu sehen gelernt hatte.

Und damit, natürlich, begannen auch schon die Probleme. Zu dieser Zeit nämlich war die europäische Kunst dabei, ihre politische Ökonomie vergleichsweise radikal zu verbürgerlichen. Sie war ein entscheidendes Mittel der Distinktion, nicht nur nach oben, gegen die Repräsentationsform des Adels, sondern auch nach unten, gegen etwas Diffuses, Unbekanntes, eine neue Klasse, deren Blut, Schweiß und Tränen Reichtum und Distinktion des Bürgertums erst ermöglichte. Einerseits also mussten sozusagen die neue Arbeit und der neue Arbeiter mit den Mitteln eines bürgerlichen Bildercodes  dargestellt werden, andererseits war die neue, industrielle Arbeit von vorneherein mit Elend, Entfremdung, Ausbeutung und Kampf verbunden. Kunst, die Arbeit und ihre Bedingungen zur Kenntnis nimmt, ist gleichsam automatisch dissident, es sei denn, sie folgt den bürgerlichen Prinzipien von Allegorisierung, Heroisierung, Idylle oder Exotik. So tritt neben die Frage, ob es eine Hoffnung auf die Abbildung von „Schönheit“ der Arbeit gibt, eine andere: Wie kann das Bild die Distanz zur Arbeit überwinden?

Leichter scheint es erst einmal, die Lage der arbeitenden Klasse in ihrer Zeit zu zeigen (um den Preis, die Arbeit als Lebenserfahrung aus dem Blick zu verlieren). Der Arbeiter als Rebell, wie in dem berühmten Bild von Giuseppe Pellizza da Volpedo, der 1901 Il Quarto Stato, den vierten Stand in erdigen Farben im heroischen Marsch auf den Betrachter zu zeigt, ersteht als bürgerlicher Mythos. Von den „Leiden und der Schönheit“ der Arbeiter schwärmte Pellizza da Volpedo und zeigte die gebückten Gestalten der Ausgebeuteten, vor der Brücke, die zwischen den Habenden und den Nicht-Habenden nur die Waren überqueren lässt. Es ist der humanistische Realismus, der eine Erzählung der Arbeiterklasse beginnt, gegen das Verschwinden in der Leitkultur, deren Projekt immer wieder die nachhaltige Ausblendung der Arbeit scheint, bis zum Fernsehprogramm von gestern abend.

Zwanzig Jahre zuvor hatte Vincent van Gogh seinen Mann am Webstuhl oder sein auf dem Feld arbeitendes Paar noch in stoischer Gleichmut gezeigt; Pellizza da Volpedos Arbeiter dagegen sind bereits am Rand der Verzweiflung; nur ihre Erhebung kann sie retten, nur in der Revolte, nicht in der Arbeit steckt ihr Stolz. Zur gleichen Zeit sehen in den USA die Fotografen schon in die Sweat Shops und Ghetto-Ökonomien. Eine Form der organisierten Armut in endloser Arbeit entsteht, das genaue Gegenbild zu den fröhlichen Arbeitern auf den Baugerüsten der Hochhäuser, die bald darauf ein „offizielles“ Bild der Arbeit abgeben sollten. Der vierte Stand als Subjekt des Fortschritts, stolz, schön und glücklich. Als nationales Symbol wie als muskulöser Hammerschwinger bei der „Arbeit für Amerika“ wie in Dean Comwells heroisch-expressivem Gemälde aus dem Jahr 1918. Oder doch als betrogenes Relikt dieses Fortschritts. In der bürgerlichen Kunst ist „Arbeit“ ein Synonym für „Körper“, und damit ein Element von Verdrängung und Wiederentdeckung. Der Körper des Arbeiters ist ein Objekt des Begehrens (bis in die Coca Cola-Reklame), er ist ein Bild der Furcht und eines des Elends. Stolz und stark auf der einen, erschöpft und missbraucht auf der anderen Seite: Es gibt, so will es scheinen, für den Arbeiter kein harmonisches Körper-Bild. Die Arbeit leidet, auch in der „realistischen“ Kunst, an einem Übermaß an Inszenierung, um „schön“ zu sein.

Edward Munch zeigt 1915 die Heimkehr der Arbeiter als Marsch der Erschöpften; anders als bei Pellizza da Volpedo ist in ihnen kein Zorn mehr, eine große Leere stattdessen. Das Kollektiv, bei dem italienischen Realisten noch die eigene Kraft des vierten Standes, ist in der bürgerlichen Kunst vom Arbeiterelend zum Beiwerk der Verdammung geworden. Die Gleichförmigkeit der Arbeit färbt auf eine Gleichförmigkeit der Subjekte ab. So ist es vornehmliche Absicht bürgerlich-realistischer Kunst, den einzelnen in der Masse zu retten. Nur die Kinder, die in den Fabriken um ihr Leben schuften, zu sehen zum Beispiel in den Fotografien von Lewis Hine der Jahre zwischen 1910 und 1920, verraten noch etwas von der Individualität und zugleich davon, wie sie in der Arbeit verloren geht. Arbeit tötet; der heroische Arbeiter indessen ist einer, der dem Tod trotzt, mit dem Presslufthammer oder der Spitzhacke.

Aber was Arbeit eigentlich ist, können alle diese Bilder nicht zeigen. Sie zeigen stattdessen den vierten Stand als stolzes Subjekt der Modernisierung oder als ihr kollektives Opfer. Leichter fällt es dem Film zu dieser Zeit, zumindest den Anteil der Groteske zu zeigen, bei der körperlichen, proletarischen Arbeit, wie es Charlie Chaplin tut, bei der kleinstbürgerlichen Arbeit, verkaufen, bedienen, bewachen, wie es Laurel & Hardy tun. Der Kunst bleibt nur, wie Otto Dix in Arbeiter John (1920) und anderen Portraits von Proletariern und Arbeitslosen der Wirtschaftskrise, das Subjekt zu retten, das nicht stirbt in der lebensfeindlichsten Welt, sich aber auch nicht mehr eingliedern lässt in einen Mythos der Modernisierung durch Arbeit.

Was unterdessen zu interessieren beginnt, ist die Maschine an sich. In den dreißiger Jahren zeigen etwa die Gemälde von Petr Vil´iams oder Fritz Lang in Metropolis, die Fotografien von Alexander Rodcenko oder die seriellen Collagen von Alice Lex-Nerlinger auf unterschiedlichste Weisen Symbiosen und Kämpfe von Mensch und Maschine. Im schlimmsten Falle sieht der Bürger der Arbeit des Proletariers im Kampf mit der Maschine mit der gleichen lüsternen Neugier zu wie der Kolonialist der Arbeit des Kolonialisierten im Kampf mit der Natur. Es entsteht die Diktatur der Zeit, von der Chaplin in Modern Times erzählt. Der Arbeiter soll nun nicht mehr bis zur Erschöpfung seines Körpers vor der Maschine tätig sein, sondern in der Fabrik Teil der Zeit-Maschine werden (und bei Chaplin wird er anschließend buchstäblich von der Maschine gefressen). Erneut macht auch die Kunst die Spannung zwischen dem Mythos der Verwandlung von Körper-Arbeit in Maschinen-Fortschritt und der Ausbeutung und Erschöpfung überdeutlich; in der großen Wirtschaftskrise ist das Elend des vierten Standes das wahre Zeit-Bild. Ebenso radikal wie die Träume der Bewegung durch Arbeit sind nun die Bilder des vollkommenen Stillstandes (wie in den Fotos von Walker Evans aus dem Alabama des Jahres 1936). Die Krise des Systems offenbart sich am Arbeiter, der nicht arbeitet, und am Bürger, der in völliger Einsamkeit in seinem Büro die Welt verliert wie in Gemälden von Edward Hopper. Der Arbeiter-Körper, so scheint es, ist „schön“ nur in der Bewegung, schon nach dem Schließen des Fabriktores kann er von der (bürgerlichen) Kunst nur noch als „elend“, als vollständig fremd in der Welt gesehen werden. Die Zeit der Maschinen und die Zeit der Menschen brechen auseinander. Und für die Beziehung zwischen Maschine und Mensch schafft erst der Krieg wieder seine schrecklichen Bilder. Auch, was die Kunst anbelangt.

Der Wiederaufbau, hier wie dort, steht im Zeichen der neuen Bürgerlichkeit. Fernand Legers Bilder der Arbeiter auf den Baugerüsten haben schon einen merkwürdigen Ton der Nostalgie. Es ist ein Arbeiter der Träume entstanden, wie auch in Otto Nagels Bildnis eines jungen Maurers vor dem neu entstandenen Gebäude. In diesem Bild des Jahres 1953 suchen der mythische Arbeiter und das konkrete Subjekt noch eine Einheit. Dann werden die Akzente neu verteilt. Die Arbeiterklasse geht ins Paradies des Kapitalismus, das Elend der Arbeit findet anderswo statt: In den Baracken der Arbeitsmigration, in den Ländern der „Dritten Welt“, wo nichts so billig ist wie menschliche Arbeitskraft, im Süden der Industriewelten. In den Zentren der Gewinner dagegen ist die Arbeit nur noch ein notwendiges Anhängsel der Freizeitgesellschaft; der lachende Arbeiter ist eine Ikone des „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“. Und auf der anderen Seite des „eisernen Vorhangs“ verliert die Arbeit ihre Geschichte, Frank Beyer zeigte in seinem Film Spur der Steine nicht nur das heillose Auseinanderbrechen von Arbeit und Bürokratie, sondern auch die Bindung der Arbeit an Bewegung. Glückliche Arbeit enthält ein Element der Anarchie (was okay wäre in einem Sozialismus mit menschlichem Gesicht). Die Zimmerleute in diesem Film ähneln erstaunlich den Arbeitern auf den Bildern Pellizza da Volpedos. Die Bewegung hat kein Ziel mehr, das im Bild selber zu finden wäre. Die Dialektik zwischen Bewegung und Stillstand in der Arbeit hat einen neuen Status erreicht. Spätestens in den achtziger Jahren ist der vierte Stand eliminiert, und die Kunst hat erneut Subjekt und Motiv verloren. Das Bild zerfällt: Da ist die menschenleere Fabrik oder die groteske Massenfertigung in Hallen, in denen Hühnerbeine verpackt oder Drähte verlötet werden wie in den Fotos von Edward Burtynsky aus den neunziger Jahren: die Bewegung der Arbeit erzeugt einen Meta-Effekt vollkommenen Stillstands und das arbeitende Subjekt ist buchstäblich unter Uniformen und Masken verschwunden. Dafür robben, wie in der Installation von Momoyo Torimitsu Inside Track aus dem Jahr 2004 die Protagonisten der New Economy, die Weißkragen-Manager auf den Gängen der Büroetagen. Auch ihre Bewegung ist kurz vor dem Stillstand, die Kraft auch dieser letzten Klasse, die von „Arbeit“ spricht, ist erschöpft. Die Maschinen arbeiten, und manche von ihnen, in der Kunst wie im Leben, produzieren nur sich selbst, und die Menschen bleiben allein zurück, entweder als nutzlose Wesen ohne Arbeit und Ziel oder eingesperrt in endlose Arbeitswaben, die keine Kommunikation mehr erlauben. Nicht der Mensch hat Arbeit, die Arbeit hat den Menschen. Deswegen hat die Kunst sehr, sehr selten eine Schönheit von Arbeit zeigen können, ohne zugleich ein Grauen der Arbeit zu zeigen.

Autor: Georg Seesslen