Sechs Theoreme zum Zusammenhang von Terror und Kino

Am 11. September 2001 waren die Bilder der brennenden und dann zusammenbrechenden Twin Towers in einer Endlos-Schleife in den Fernsehapparaten in aller Welt zu sehen, montiert mit Aufnahmen fliehender, entsetzter Menschen und Schwenks über die Stadt mit den Rauchsäulen. Diese Bilder wurden rasch zu „Ikonen“ des beginnenden 21. Jahrhunderts erklärt, zum Film der Jahrtausendwende. Und da erschien vielen Menschen, jenen, die es erlebten ebenso wie jenen, die nur das Medien-Echo erreichte, das Erlebnis der Terror-Katastrophe „wie im Kino“.

Tatsächlich waren ja verblüffende Ähnlichkeiten mit Schlüsselbildern aus den so genannten Katastrophenfilmen unübersehbar, die in Hollywood seit 30 Jahren mit wechselndem Erfolg gedreht werden. Was wirklich geschah im September 2001, das erschien wie eine Montage all dieser Filme: Die Erfüllung einer düsteren Prophezeiung oder einer unbewussten Ahnung.

Aber man konnte das auch einfacher nehmen. Der amerikanische Regisseur Robert Altman meinte bitter, Hollywood hätte es den Terroristen vorgemacht, wie man eine Weltmacht attackiert, während ein deutscher Komponist gar von einem „großartigen Kunstwerk“ sprach, das die Terroristen mit ihrer gewaltsamen Tat inszeniert hätten. Diese Behauptungen mögen überzogen sein, aber deutlicher als in allen Terror-Anschlägen davor und danach trat im Anschlag auf das World Trade Center ein Zusammenhang zutage, der seither nicht nur die Kulturkritik bestimmt: Die modernen Medien und der moderne Terrorismus bedingen einander.

Das raunt sich gern und scheint mehr oder weniger alles zu erklären. Aber es erklärt zunächst einmal fast nichts.

Das erste Theorem: Die Katastrophenphantasie als Bedienungsanleitung

Die klassischen Theorien zum Katastrophenbild reichen von einer Warnung über die gute alte Katharsis und die Erfahrungslust (in der Katastrophe, sagt Susan Sontag, kann ich gefahrlos dem Tod und der Zerstörung begegnen, ausprobieren wie sich in der Zerstörung Lust und Schmerz begegnen) bis schließlich zur verborgenen Untergangslust à la Adorno, der behauptet, dass wer sich die Katastrophe so angelegentlich vorstellt, sie irgend auch will. Das hat natürlich alles etwas für sich und reicht doch nicht hin.

Die profit-orientierte, medialisierte und technologisierte Gesellschaft kann gar nicht anders als ihre kulturellen Codes um das Selbstbildnis als Risikogesellschaft zu errichten. Es gibt keine Katastrophe, die es nicht bereits vorher in Form von Bildern in der populären Kultur gibt. Ganz generell müssen die Bilder einer Risikogesellschaft den Staat anklagen, der keine Sicherheit mehr bieten kann, und sie sind sozusagen automatisch auch „religiös“, weil das Metaphysische eines der drei Sinn-Stiftungen nach dem Katastrophenbild bildet: Die Stärkung des Staates als Sicherheits- und Kontrollfunktion, die Stärkung des gesellschaftlichen, des kulturellen und moralischen Zusammenhangs, und schließlich in Form eines subjektiven Glaubens. Wenn wir nicht beständig unsere Katastrophenphantasien bearbeiten würden, dann würden wir verrückt in einer Risikogesellschaft.

Das zweite Theorem: Der Terrorist als (negativer) Kino-Held. Bilder und Selbstbilder der radikalen Außenseiter

Von „Top-Terroristen“ träumt das Kino gelegentlich seit dem Beginn des Kalten Krieges. Aber wie sich insbesondere an den Schurken und Meta-Schurken in der James Bond-Serie zeigen lässt: Als Zerfallsprodukt des Kalten Krieges scheint der Terrorist weniger ein Verblendeter oder gar religiöser Fanatiker als ein „kalter“ Rationalist, der die Spielregeln des Kapitalismus nicht ablehnt, sondern vielmehr in gnadenloser Konsequenz erfüllt. Vom Goldfinger bei James Bond bis zu Lex Luthor bei Superman Returns: Den Terroristen in amerikanischen Actionfilmen geht es am Ende immer nur um Geld. Dem Kino der kapitalistischen, medialisierten, technologisierten Risikogesellschaft scheint es nicht möglich, sich den Gegner als „Anderen“ zu imaginieren.

Der Selbstmordattentäter, wie wir ihn uns mittlerweile vorstellen, hat stattdessen mit zwei anderen Kino-Gestalten größere Ähnlichkeit, nämlich einmal mit dem Amokläufer, den wir uns im übrigen ja in der populären Kultur ganz ähnlich vorstellen wie den (arabischen) Terroristen, nämlich mit der Waffe am Körper, in einem „heiligen“ Anfall, ohne Hierarchie in der Wahl der Opfer und rauschhaft auf das eigene Ende zustrebend. Der andere Typus ist der Söldner, der „soldier of fortune“, der seine privaten Kriege führt, jenseits der Staaten und der Systeme. Erbt der Terrorist also vom einen die rauschhafte Tat, eine Ästhetik der Gewalt, so übernimmt er vom anderen die Rationalität der Planung, den Charakter eines freien Spieles.

Wir haben im eigenen Land noch eine andere Fährte: Die Terroristen der RAF, insofern sie Aussagen über ihre eigene Biografie machten, beschrieben zum einen in merkwürdiger Übereinstimmung, dass sie das Leben im Untergrund empfanden, als seien sie selbst Kino-Helden. Filme spielten zum zweiten eine wichtige Rolle in ihrer Vorstellungswelt, und zwar Filme, die einer nihilistischem Kult der Gewalt huldigten, vor allem Italo-Western oder Filme wie Bonnie & Clyde. Eine dritte Fährte schließlich führt zu dem Umstand, dass viele der späteren Terroristen einen direkten Bezug zur Filmherstellung, als Schauspieler, Kameraleute oder Regisseure hatten. Die Analogie von Film und Leben gehörte gleichsam zum Kult.

Wenn also der terroristische Anschlag selber ein Déjà-Vu gegenüber der medialen Katastrophenphantasie auslöst, so gibt es andrerseits eine Konstruktion des terroristischen Subjekts aus einer kinematographischen Trainingslage heraus. Es gibt in dieser Vorstellung nur noch zwei Formen der Existenz: Das schießende Subjekt und das explodierende Subjekt. Der Trick des Terroristen ist es, sich in einer Welt der schießenden Subjekte die Rolle des explodierenden Subjekts zu wählen.

Wir haben es uns angewöhnt, uns den Terroristen als einen Menschen vorzustellen, der durch halbwegs vernünftige Motivationen zu seiner unvernünftigen Tat heran geführt wird: Die Armut und Zurückweisung einer Kultur, Ausgrenzung und Kränkung. Wie aber, wenn die Ur-Sache der terroristischen Tat für den Terroristen nichts anderes als diese Tat selber wäre? Wenn ihn nicht die Begründung, sondern die Form seiner Handlung verführte? Wenn er gar kein Zeichen für oder gegen etwas setzen wollte, sondern selber Zeichen sein will? Die Analogie von Kino und Terror liefert hier eine Fährte. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Das dritte Theorem: Die Terror-Katastrophe als cineastischer Effekt

Wir haben es gehört, hören es immer wieder, die Erinnerung, man habe die Katastrophe erlebt „wie im Kino“. Diese Assoziation ist ganz gewiss nicht neu. Nur zum Beispiel erinnert sich der Schriftsteller György Dalos, wie er als Kind die Ereignisse des Aufstands in Ungarn erlebte: „Für uns Kinder war der Aufstand wie ein Film“. Diese emotionale Gleichung gilt es zu differenzieren. Denn „wie ein Film“ kann dreierlei bedeuten:

Erstens: Man erlebt ein historisches Ereignis in Form von Bildern, die man aus Kino-Filmen kennt. Das Bild der brennenden Twin Towers also erscheint einem wie ein direktes Zitat aus dem Film Flammendes Inferno. Zweitens: Man erlebt ein reales Ereignis, das gleichsam von Effekten überfüllt ist, in der selben Art, wie man einen Kino-Film erlebt, nämlich in einer besonderen Mischung aus Involviertheit und Distanzierung. Drittens: Man erlebt ein reales Geschehen in einer kinematografischen Dramaturgie, also in Form von Bild-Zerlegungen und Auslassungen, von „Einstellungen“ und „Schnitten“, von Rückblenden, flash forwards und so weiter.

Wer etwas erlebt „wie im Kino“ beschreibt offensichtlich nichts anderes als einen Widerspruch zwischen Erleben und Verarbeiten auf der einen Seite, Erinnern und Imaginieren auf der anderen. Ein Baustein, ganz bestimmt kein Fundament für eine Theorie von Terror und Bild.

Das vierte Theorem: Von Übersprungshandlungen zur Trauerarbeit

Spätestens im Jahr 2005 begann man sich Gedanken zu machen über die Form eines filmischen Gedenkens. Das erste Objekt war bezeichnenderweise nicht der Angriff auf das World Trade Center, sondern die Geschichte des „vierten Flugzeugs“. Der Flug United 93, unterwegs nach Washington, endete mit dem Absturz nahe der kleinen Stadt Shanksville in Pennsylvania, nachdem es zwischen den Entführern und den Passagieren zu einem Kampf gekommen war. Alle 33 Passagiere, sieben Crewmitglieder und die vier Entführer kamen ums Leben. Heute befindet sich nur eine kleine, provisorische Gedenkstätte am Ort des tragischen Geschehens; eine kleine Marmorplatte und eine amerikanische Fahne erinnern die Besucher an einen Heldenakt, dessen genaue Umstände nie ganz geklärt wurden, so dass auch das Erinnern umstritten blieb.

Paul Greengrass´ United 93 kam die Aufgabe zu, ein angemessenes und, wenn das möglich ist, ein versöhnendes Bild dieses Aspekts der nationalen Katastrophe zu schaffen. Der Film schildert den Versuch der Passagiere des Flugs United 93, die Entführer und Attentäter auf dem Anflug nach Washington zu überwältigen und den Absturz der Maschine über Pennsylvania.

Der (britische) Regisseur traf sich bei den Vorbereitungen mit den Angehörigen der Opfer und war zunächst erstaunt über die Auseinandersetzungen zwischen ihnen darum, wer denn nun den größten Anteil am heldenhaften Opfer vorzuweisen habe. Greengrass entschloss sich daher zu einer etwas ungewöhnlichen Geste: Der Film sollte gleichsam einen kollektiven Helden zeigen. Es sollte nicht wie im traditionellen Katastrophenfilm um die typischen amerikanischen Heroen gehen, die Tatmenschen und geborenen Führer, die die anderen allenfalls mitreißen, sondern um vierzig gleichwertige Menschen, die sich zum gemeinsamen Widerstand gegen den Terror entschließen. Das ist eine ungewöhnliche Perspektive in der Erzählweise des Mainstream-Kinos. Und sie ist konsequenterweise mit einem durchaus skeptischen Blick auf die politische und militärische Führung des Landes verbunden.

Das fünfte Theorem: Ein Trümmerfilm als ausgeschlagenes Versöhnungsangebot

Der 9/11-Film der 9/11-Filme aber sollte World Trade Center von Oliver Stone werden. Von Anfang an klar: „mehr als ein Film“. Eine ästhetische, moralische Geste zur nationalen Versöhnung. Auch er konzentriert sich auf eine subjektive Erfahrung. Ganz deutlich hat der Regisseur es gesagt: Es gibt die „kollektive Erinnerung“, aber es gibt auch „die Wahrheit dieser einzelnen Menschen“. Das „aber“ stammt von ihm. Die kollektive Erinnerung steht offensichtlich in Widerspruch zum einzelnen Erleben.

Stone erzählt, nach den Erinnerungen der Betroffenen, eine einfache Geschichte, nämlich die zweier Polizisten im Einsatz im World Trade Center, die verschüttet und nach qualvollen Stunden aus den Trümmern gerettet werden, während ihre Ehefrauen und Familien zwischen Hoffen und Bangen leiden müssen. Viel mehr ist nicht zu sehen als dieses Insistieren auf dem subjektiven Erleben einfacher Menschen in einer katastrophalen Situation.

Das Unterfangen, dem Geschehen die menschliche Seite zu zeigen, ist zunächst einmal erfreulich und führt doch in eine furchtbare Maskerade der Indifferenz. Das „Unpolitische“ ist immer das Politische, das sich mit einem Hang zur Tücke realisiert. Während sich Greengrass auf eine existentielle Ausnahmesituation konzentriert und damit Menschen vielleicht wirklich so etwas wie ein filmisches Denkmal erzeugt, entwirft Stone ein ganzes Gesellschaftsbild.

Die Schilderung der essenziellen Bedrohung der Verschütteten mag überzeugen; die Blut-Schweiß-Tränen-Situation ist universal, und universal ist auch unsere Freude, diese beiden Männer dann doch gerettet zu sehen. Befremdlich dagegen sind die Montage-Teile, die uns Einblick in die Familien der Verschütteten geben. Es ist schlicht eine filmische Form der Norman Rockwell-Americana, die nur zwischenzeitlich als Kitsch abgetan ward. Rockwell zeigte ein Amerika, das äußerlich der Welt trotzte, innerlich aber unerschütterlich blieb. Vom faschistischen Kitsch unterschied sich Rockwell, dass er das mythische Amerika nie in Kategorien idealisierte, sondern immer in der episodischen Wärme von gelebten Augenblicken, und eben dies scheint Stone bei World Trade Center ein wenig missglückt. Die Menschen haben längst das Selbstverständliche aus den Bildern von Rockwell verloren, sie müssen, wie in den Fernsehserien, erst endlos über Gefühle schwätzen, bevor sie sich einbilden könnten, sie hätten welche. Mehr noch aber muss Stones filmischer Rockwellismus dem toughen New Yorker aufstoßen. Das letzte was man jetzt braucht ist noch eine verkitschte Lebenslüge.

Man darf Stones Geste ins Private allerdings nicht per se falsch verstehen. Stones Film ist populistisch, und diese Form des Populismus, ein inbrünstiger Glaube an die Kraft des einfachen Menschen in Amerika, wie sie auch bei Steinbeck oder John Ford zu finden ist, muss dem europäischen Kritiker verdächtig sein, der da immer eine Kraft von rechts sieht. Dabei versucht Stone wohl nichts anderes als das, was er mit Platoon für die Erinnerung an den Vietnamkrieg erzielte: Ein Bild, das so direkt, körperlich und subjektiv ist, dass der Unterschied einer rechten und einer linken Wahrnehmung nicht mehr möglich ist.

Bei World Trade Center will dieses Versöhnungswerk freilich nur zum Teil gelingen. Zwar gibt es wieder diese erstaunliche Aufnahme des „unpolitischen Films“ jenseits der verschiedenen politischen Lager, eine laute Zustimmung von rechts, eine eher verhaltene von links. Aber dass der Film einen Augenblick der Wahrheit getroffen habe, einen Kern der menschlichen Empfindung in der Extremsituation, dass er wirklich zu dem gültigen Denkmal geworden wäre, das mag nun beim besten Willen niemand so recht zu behaupten. Und so hat er, ganz unabhängig von cineastischen Qualitäten, auch seine Versöhnungsaufgabe verfehlt.

Das sechste Theorem: Bild-Welt-Bild

Baudrillard sprach vom „Katastrophenfilm aus Manhattan“, in dem sich „die weiße Magie des Kinos und die schwarze Magie des Terrorismus“ vereinen. Und: „Nicht die Gewalt des Realen ist zuerst da, gefolgt vom Schauder des Bildes, sondern umgekehrt: Zunächst ist das Bild da, dem der Schauder des Realen folgt.“ So kann man die 9/11-Filme der letzten Zeit auch als mühseligen Prozess ansehen, dieses Verhältnis wieder umzukehren. Sie beharren auf dem Primat des Schauders des Realen. Es ist eine der wichtigsten Entscheidungen in Oliver Stones World Trade Center, auf die großen äußeren Bilder nahezu gänzlich zu verzichten um eine konzentrierte Innen-Ansicht der Katastrophe zu erlauben.

Die Terroristen und ihr Ziel finden sich in der beiderseitigen Fixierung auf das Spektakel. Aber dieses Spektakel ist, wie diese kleine Dekonstruktion möglicherweise ein wenig belegt hat, bei weitem nicht so mystisch und mythisch codiert, wie es den ersten Anschein hatte. Das Kino produziert so wenig den Terrorismus, wie der Terrorismus die Welt als Kino missversteht. Vielleicht aber beginnt die Auflösung der Spirale zwischen Terror und Medium, wo man damit anfängt, ihre gemeinsame Sprache zu analysieren. Jenseits der großen Bilder und der großen Worte, die ein Geheimnis daraus machen.

Georg Sesseln, derFreitag 08.06.2009