Empfindsame Kraftkerle, unterwegs zwischen Selbstmord & Klassik


# 1

So wie es ist, kann es nicht weiter gehen, aber so geht es weiter. Ein Leben nach der Regel ist das Leben nicht wert, und ein Leben gegen die Regel kostet oft das Leben. In der Pubertät ahnt man das, und in der Literatur, die man als Pubertät der deutschen Klassik angesehen hat, und die den Namen „Sturm und Drang“ erhielt, hat man heftige Worte dafür gefunden. Von den großen Autoren des Sturm und Drang blieb indes nur einer „forever punk“ (und ging daran zugrunde): Jakob Michael Reinhold Lenz. 1773 schimpfte er’s heraus.

„Wir werden geboren – unsere Eltern geben uns Brot und Kleid – unsere Lehrer drücken in unser Hirn Worte, Sprachen, Wissenschaften – irgendein artiges Mädchen drückt in unser Herz den Wunsch, es eigen zu besitzen, es in unsere Arme als unser Eigentum zu schließen, wenn sich nicht gar ein tierisch Bedürfnis mit hineinmischt – es entsteht eine Lücke in der Republik wo wir hineinpassen – unsere Freunde, Verwandte, Gönner setzen an und stoßen uns glücklich hinein – wir drehen uns eine Zeitlang in diesem Platz herum wie die andern Räder und stoßen und treiben – bis wir wenn’s noch so ordentlich geht abgestumpft sind und zuletzt wieder einem neuen Rade Platz machen müssen – das ist, meine Herren, ohne Ruhm zu melden unsere Biographie – und was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzüglich künstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufe nennen besser oder schlimmer hineinpasst“.

Anpassen, funktionieren, tüchtig sein, wieder verschwinden. So ist es vernünftig, aber das darf so nicht alles gewesen sein, und so bleibt nur: handeln. Irgendwas tun, um sich zu spüren. But what can a poor boy do, cept play in a Rock’n’Roll Band?

# 2

„Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst“, schreibt die Liebende in Goethes Briefroman „Werthers Leiden“, und sie weiß, warum sie anfügt: „Sag das nicht weiter, es gibt Leute, die mir’s verübeln würden“.

Ein Aufbegehren, das seine Grenzen erkennt, das sein eigenes Scheitern schon vor Augen hat. Sturm und Drang, immer wieder, als zyklische Begleitung der bürgerlichen Gesellschaft. Aber hier, am Wellenkamm der Aufklärung, wird es für gerade mal eineinhalb Jahrzehnte ein (vages) Programm für die Geschichte. Rotzfreche Verletzlichkeit.

# 3

Wie jede noch so avantgardistische Bewegung hat auch der „Sturm und Drang“ seine Vorbilder und Helden. Shakespeare war ein wichtiger Bezugspunkt, dieses „Lieblings-Genie der mütterlichen Natur“ (Heinrich Wilhelm von Gerstenberg); die kräftige Sprache des Volksliedes. Was entstehen soll, ist, kurz gesagt, eine Literatur, die Ich sagt, die aus der Sinnlichkeit und der Körperlichkeit schöpft. Dazu gibt es die Vorstellungen vom „Originalgenie“, vom „Kraftkerl“ und „Selbsthelfer“, einer der nicht den Traditionen und Autoritäten, nicht den Regeln und den Lehrern folgt, sondern seinen inneren Instinkten und Überzeugungen. Erfahrung, Liebe, die authentische Sprache von Angst und Begehren: Sex & Drugs & Rock’n’Roll.

Eine Leuchtgestalt für die neue Kunst war Johann Gottlieb Herder, schon mit seiner Preisschrift „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1770), dann mit programmatischen Schriften wie „Von deutscher Art und Kunst“ (1773) und „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774), nicht zuletzt durch seine Schriften über Shakespeare und über den schottischen Dichter, der sich hinter einem gewissen „Ossian“ verbarg: John McPherson war der zunächst unbekannte Verfasser der insulären Geschichten, die die Natur und die nordische Mythologie verherrlichten, in markig-urwüchsiger Sprache, literarisches Growling. Matthias Claudius in seinem Bekenntnis zu Ossian:

„Ich lass die Henne und das Ey/Verlaß mich auf Mutter Natur/Ihr abgebrochner roher Schrey/Trifft tiefer als die feinste Melodey/Und fehlt nie seinen Mann;/Des zeugt mein Vetter Ossian“.

McPherson machte seinem Publikum weis, dass dieser geheimnisvolle Ossian die Erzählungen geschrieben habe, aber das Spiel war zum Durchschauen durchaus gedacht.
Schönes role playing. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg gehörte zu den Dichtern, die „Ossians” Werk verehrten. Sein „Gedicht eines Skalden” schrieb er in der Folge dieses Werkes, ein finster wogendes, apokalyptisches Splatter Movie in Versform.

Sie sind gefallen, die Götter, gefallen! 
Laßt Erd und Himmel wiederhallen!
Sie sind gefallen! gefallen! gefallen!
Hrymur fuhr, auf sieben Donner-Wagen
Vom Aufgang herunter getragen!
Da wälzte sich der Ocean!
Da wälzte Jormungandur in Blut
Mit schreckenvoller Wuth
Sich auf der Wogen schäumender Bahn!
Der Adler tönt‘, und zerriß die Leiche!
Und Naglfahr scheitert, das Gebäu der Eiche!
Woher der Untergang der Asen?
Wer hat die Alfen wie Spreu hinweggeblasen?
Vom Krachen heult die Riesenwelt!
Des Himmels Trümmer sind ein Waffenfeld!

MacPhersons und seiner Nachahmer sagenhafte Dichtungen zeichneten sich neben der Kraftmeierei durch eine ziemlich neue Betonung des Rhythmischen aus. Die Sprache stampft und wippt. In den Jahren des Sturm und Drang befreite sich die Lyrik fast noch mehr als die Theatersprache und der ur-bürgerliche Roman von formalen Vorschriften. Freie Rhythmen, unerhörte Breaks, Wortschöpfungen, grammatische Großzügigkeit: die Sprache entwickelte sich vom objektiven Maß zum subjektiven, natürlichen Geschehen, das Atmen spürt man darin, die Sprache nimmt körperliche Bewegung auf, und sie enthält mehr Sex & Crime als die Worte preisgeben.

Im (fiktiven) Mittelalter fand man im Sturm und Drang eine ideale Welt für anarchische, gut aussehende Kraftkerle, die den Untergang der großen Weltordnungen als Chance nutzten. Auch diese Literatur, die sich andernorts wie nie zuvor auf das Gegenwärtige und auf das Individuelle stürzte, brauchte ein Traumreich. Es war möglichst weit entfernt vom Wahn der Aufklärung, auch noch die entlegensten Winkel der Wahrnehmung rationalistisch zu durchforsten.

Das versteht man immer wieder neu. Sturm S Drang, komplett mit Runen-Symbol in der Mitte, ist eine Heavy Metal/Hard Rock-Band aus Vaasa (Finnland); sie wurde 2004 gegründet, als sich André Linman und Henrik Kurkiala auf dem Heimweg von einem Judas Priest-Konzert befanden. Kurkialas Vater schlug den Bandnamen vor, der sich auf die Epoche der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts ebenso bezieht wie auf ein Empfinden, deren Ursprung man in Finnland wohl in Deutschland vermutet. Die ersten Proben fanden im Keller von Schlagzeuger Carl Fahllunds Elternhaus statt; man könnte wohl von einer einigermaßen glücklichen Staffelübergabe von Bildungsbürgertum und Pop-Mythologie sprechen. Für das jugendliche Alter der Band-Mitglieder ist der musikalische wie kommerzielle Erfolg von Sturm S Drang nicht unbeachtlich. Man versteht das eben, wie gesagt, stets aufs Neue.

# 4

Sturm und Drang war vermutlich die erste Jugendbewegung in Deutschland; keiner ihrer Vertreter war nennenswert älter als zwanzig Jahre. Ihren Namen bekam diese Bewegung, die vielleicht weniger eine Bewegung als ein Gefühl war, von einem Theaterstück von Friedrich Maximilian Klinger aus dem Jahr 1776. Ursprünglich hieß es „Wirrwarr“ (eigentlich der passendere Titel), dann wurde es von dem Genie-Besessenen Christoph Kaufmann in „Sturm und Drang“ umbenannt. Kaum ein Stück ist so unbekannt geblieben und hat einen so bekannten Slogan erzeugt, sieht man einmal von Ian Durys „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“ ab, das die wenigsten kennen, die den Slogan zitieren. Die Bewegung des Sturm und Drang brachte keine konsistente Theorie hervor, es gibt kein Manifest, nicht einmal zu einer eigenen Zeitschrift hat es gereicht (allenfalls die „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ dienten für nicht ganz ein Jahr – 1772 – als publizistische Anlaufstelle, der Verleger Nicolai monierte dann, dass das Unternehmen nicht publikumswirksam genug sei, und aus war es.) Zeitweise war Straßburg wohl so etwas wie ein Sammelpunkt, hier trafen sich Herder, Goethe und Lenz. Persönliche Freundschaft, logisch, war wichtig für die Künstler des Sturm und Drang. Freundschaft ist eine großartige Sache. Hat aber auch so ihre Probleme, wie wir wissen.

Obwohl zum Beispiel Wieland in den Männern um Goethe, Herder, Schiller und Lenz nichts anderes sah als eine „Sekte“, gab es kaum Organisation (und „Verschwörung“ schon gar nicht); höchstens dem Göttinger Hainbund war etwas Sektiererhaftes zueigen, aber das war wohl eher ein schwärmerischer Wanderverein, der sich locker auf Sturm und Drang-Idole bezog als eine Hardcore-Fraktion der Bewegung.

Zurück zu Herder, immer mal wieder. Für die jungen Dichter war er, sagen wir mal, der große Philosoph der Differenz und der Identität; die Kulturen, die Sprachen, die Kunstwerke und die Individuen, sie haben ihren Wert in sich und durch ihre Unterschiedlichkeit. Unterscheidung, nicht Harmonie ist das Ziel. Und nichts ist vorgeschrieben, da alles im Werden ist. Geschichte und Sprache, das sind nicht mehr die großen Schicksalsmaschinen, sie sind eigentümlich Natur. Ein Akt der dauernden Behauptung und der Revolte. Es gibt dafür nicht das einzige dogmatische Modell, keinen endgültigen Text. Ziemlich unerhört, was Herder behauptete: „Auch die Bibel ist nur Poesie, aber auch die Poesie ist Bibel“. Da sind wir schon auf dem Weg zur Kunstreligion, oder zur Pop-Kultur, wie man es nimmt.

Der Mensch hat  im Gegensatz zum Tier stets mehr als eine Aufgabe zu verrichten; Herder hat es in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ so schlicht wie schön ausgedrückt: „Seine Seelenkräfte sind über die Welt verbreitet“.

Sturm und Drang ist eine Art, mit dieser Sache ernst zu machen, auch wenn man am Anfang gar nicht genau weiß, auf was man sich da einlässt, wenn man seine Seelenkräfte in der Welt verbreiten will. Außerdem haben alle was dagegen, die Familie, die Schule, der Staat, die Kirche, die Gesellschaft, die Polizei. Wer seine Seelenkräfte in die Welt breiten will, ist ein Rebell, ob man es will oder nicht.

# 5

Dann ist es gleich besser, man will es auch. Auf jeden Fall verbreitete man seine Seele erst einmal in die Sprache und durch sie in die Welt: Sturm und Drang ist eine Art, mit der Sprache umzugehen, sie aus den Vor-Schriften zu befreien. Der Jive ist wichtiger als das Maß. Es geht um eine Subjekt-Revolte; indem man, zum Beispiel, das Versmaß, die traditionelle Einheit von Person, Raum und Zeit auf dem Theater, den moralischen Auftrag für die Literatur abschafft, erobert man Platz für das Individuum, das schreibende wie das geschriebene (ohnehin einander näher als zuvor: soviel Autobiographie war nie).

Versucht man indes Ideologie oder Partei hinter der ästhetischen Revolte des Subjekts zu suchen, gerät man rasch in einen gehörigen Nebel. Die Auflehnung gegen die Tradition führt in einen pantheistischen Kosmos, die einigermaßen präzise Kritik an der Tyrannei der Fürsten und den Privilegien des Adels in nationale Schwärmereien, und das Scheitern der Liebe an Standesdünkeln und Patriarchenmacht ist mehr Bühne für männliches Selbstmitleid als für weibliche Emanzipation. Und noch heute mag man in Besinnungsaufsätzen abwägen, ob Sturm und Drang eher eine Ablehnung oder doch eine Fortsetzung der Aufklärung war, ob man den Terror des Rationalismus attackierte, um dem Gefühl wieder seine Stellung zu verschaffen (eine Literatur des Herzens war das doch allemal) oder ob man konsequent das Licht der Aufklärung nach den Verhältnissen und den Mechanismen auch in die Labyrinthe des Subjekts tragen wollte. Vermutlich liegt es erst einmal in der Natur der Sache, dass die Revolte des Individuums sich zwar an einer großen Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Freiheit, nicht aber einem geschlossenen politischen Weltbild festmacht. (1968 sah man das anders, aber vielleicht auch nicht mit ganzem Herzen.)

# 6

Zweifellos ist Sturm und Drang dennoch eine politische Bewegung, auch wenn es kein politisches Ziel und schon gar keine politische Tat gab. Die meisten Vertreter dieses Aufbruchs kamen aus einer vergleichsweise neuen Schicht, aus dem Kleinbürgertum, wo man weder durch Familientradition noch durch Besitz seinen Wert zu bemessen lernte, sondern einzig und allein durch die eigene Leistung. Die Kränkung war dieser Klasse eingeschrieben; keiner von den Literaten des Sturm und Drang konnte von seiner Kunst leben, alle mussten mehr oder weniger erniedrigende Anstellungen erdulden, als Lehrer, Bibliothekare, Subalterne; viele entflohen beengten und engstirnigen Elternhäusern, Pfarrern, Juristen, kleinen Beamten; das Scheitern der Liebesgeschichten an den Standesunterschieden erlebten sie am eigenen Leibe, die große Willkür der Fürsten ebenso, wie natürlich auch die kleine der Bürokraten. Es war nicht der Umsturz, den sie im Sinne hatten, sondern Dinge, die man später mit Begriffen wie „Freiraum“, „Selbstentfaltung“ oder „Lebensqualität“ bezeichnen würde (ohne sie indes woanders als im Fernsehprogramm zu verwirklichen). Der Platz, den ihnen die restaurative Gesellschaft zuweisen wollte, war ihnen einfach zu beengt. Die Literatur war zugleich Medium der Revolte und der Flucht, kein Wunder, dass es so leicht fiel, in der Klassik die Frechheiten des Sturm und Drang wieder zurück zu nehmen; bei Goethe und Schiller, wenn auch sehr verschiedene Art, wurde diese Zurücknahme der Frechheiten sogar wieder Thema. (Man kann ja einmal den „Faust“ als Auseinandersetzung des gesetzten Autors mit dem literarischen und vitalen Rotzlöffel lesen, der er mal war.)

# 7

Ein Begleitprojekt der Subjekt-Revolte war das „Zurück zur Natur“, das man von Rousseau übernahm, und hej, auch das kommt uns für den weiteren Verlauf der ästhetisch-politischen Revolten bekannt vor. Weniger um die Erhabenheit geht es, schon gar nicht ums Idyll, sondern um die Entfesselung der Leidenschaften. „Folg deinem Feuer, du kommst weiter damit als mit Regeln“ verlangt Louis-Sébastian Mercier, der mit seiner Schrift zum Theater großen Einfluss auf die jungen deutschen Dichter nimmt. Und darum wird es bei allen bürgerlichen, ästhetischen Subjekt-Revolten gehen: Das eigene Feuer entdecken und ihm folgen. Aber wohin? Die Natur ist nämlich nicht nur schön und auch nicht besonders unschuldig; vielleicht ist sie, wie Werther das empfindet (übrigens nicht ohne beängstigt zu taumeln): „ein ewig verschlingendes, ewig wiederkehrendes Ungeheuer“. Jedenfalls nicht gerade ein gemütliches Zuhause. Man mochte das Volk und man mochte die Natur, aber Landkommunen-Literatur war Sturm und Drang bestimmt nicht.

# 8

Gottfried August Bürger

Inmitten, vielleicht aus den Widersprüchen des Sturm und Drang selbst gebildet, entsteht das Komische (Bürgers „Münchhausen“) und das Phantastische (Bürgers Ballade „Lenore“): Man findet in diesem einen Weg, die Zensur zu umgehen und in jenem einen Fluchtpunkt für das, was die Gegenwart einem Menschen verweigert. So ist für Goethe der Goetz ein „roher, wohlmeinender Selbsthelfer in wilder anarchischer Zeit“. Wenn man abrückt vom großen ICH im Hier und Jetzt, verliert sich auch die große Gefahr in jeder Sturm und Drang-Pose, das egozentrische Pathos (denn natürlich hatten die Erz-Aufklärer und Skeptiker leichtes Spiel, wenn es darum ging, sich über die Stürmer und Dränger lustig zu machen, die so offensichtlich von sich selbst und ihrem Geniekult berauscht waren wie sie weit davon entfernt waren, die Revolte aus der Kunst in die Geschichte zu übertragen).

In Verteidigung des Fantastischen und des Komischen gegen die „Regelpoetik“ der Aufklärung erklärte Justus Möser in „Harlekin“ (1977): „Wenn die Absicht eines Verfassers ist, alle Regeln zu verletzen, und er thut es auf eine glückliche Art: so ist sein Werk einig und vollkommen“. It’s only Rock’n’Roll, but I like it! Bei der Willkür des Fürsten aber hört der Spaß auf, das Volk soll sich gefälligst nicht alles gefallen lassen:

„Wer bist du, Fürst, daß ohne Scheu
Zerrollen mich dein Wagenrad,
Zerschlagen darf dein Roß?

Wer bist du, Fürst, daß in mein Fleisch
Dein Freund, dein Jagdhund, ungebläut
Darf Klau und Rachen hau’n?

Wer bist du, daß durch Saat und Forst,
Das Hurra deiner Jagd mich treibt,
Entatmet, wie das Wild? –

Die Saat, so deine Jagd zertritt,
Was Roß, und Hund, und Du verschlingst,
Das Brot, du Fürst, ist mein.“

Das dichtete Gottfried August Bürger 1773 gegen die tyrannischen Fürsten und ihr Gottesgnadentum. Bürger, der noch weiter ernst machen wollte mit der Revolte, scheiterte nicht nur an den Verhältnissen und an sich selbst, sondern auch an seinen Freunden. Freundschaft, wie gesagt…

# 9

Gewiss kann man nicht sagen, dass sich die Kraftkerle des Sturm und Drang übermäßig um die Gleichstellung der Frauen in ihren Reihen gekümmert hätten. Aber da ist, knapp ein viertel Jahrhundert später, doch eine kleine Ehrenrettung angesagt. Denn einerseits ist das weibliche Gesicht des Sturm und Drang erst hinterher so nachhaltig verdrängt wurden, dass nicht einmal die hippste Bühne auf die Idee kommt, zum Beispiel Sophie Albrechts Stück „Theresgen“ aus dem Jahr 1781 aufzuführen (wir könnten uns wundern!), und andrerseits gibt es da tatsächlich, was man so „ein neues Frauenbild“ nennt. Weder werden die wirklichen Leiden, die Unterdrückung und geistige Enteignung der Frauen, ihre moralische Erpressung und ihre sexuelle Zurichtung verschwiegen, noch bleibt der Kampf um ein eigenes Selbsthelfer-Sein verborgen:

Aus den „Soldaten“ von Lenz:

Wesener: Weil er dir ein paar Schmeicheleien und so und so – Einer ist so gut wie der andere, lehr du mich die jungen Milizen nit kennen. Da laufen sie in alle Aubergen und in alle Kaffeehäuser, und erzählen sich, und eh‘ man sich’s versieht, wips ist ein armes Mädel in der Leute Mäuler. Ja, und mit der und der Jungfer ist’s auch nicht zum besten bestellt, und die und die kenne ich auch, und die hätt‘ ihn auch gern –

Marie: Papa. (Fängt an zu weinen.) Er ist auch immer so grob.

Wesener (klopft sie auf die Backen): Du mußt mir das so übel nicht nehmen, du bist meine einzige Freude, Narr, darum trag ich auch Sorge für dich.

Marie: Wenn Er mich doch nur wollte für mich selber sorgen lassen. Ich bin doch kein klein Kind mehr.

# 10

Man definierte die Epoche  (ca. 1767 bis 1785) gern als ein „Austoben“ und, was die Großen der literarischen Klassik anbelangt, als „Jugendsünden“. Deswegen ist es vermutlich nicht allzu schwer zu verstehen, wie häufig sich in der Folgezeit gegenüber dem Sturm und Drang Zustimmung und Ablehnung abwechseln. (Natürlich, die „Klassik“ ist immer fein heraus). Ob man vom Sturm und Drang aus auf das Konservative hinaus muss oder das Aufbegehrende der bürgerlichen Kultur begründen kann, kommt vielleicht auch auf die Leserichtung an: Lieber an den Rändern ein paar Entdeckungen machen als einer simplen Generallinie von jugendlicher Revolte zu klassischem Maß folgen. Widersprüchlich sogar (und das wirkt nach bis in die Kunst von heute) blieb stets noch das Problem, ob man zum Originalgenie geboren sein muss (bürgerliches Sendungsbewusstsein), oder ob ein Akt der Selbstermächtigung dazu genügt (demokratisierte Kunst). So hieß es immerhin auch: „In jedem Menschen steckt ein Genie“.

Kult hin, Kult her, die Kraftkerle des Sturm und Drang waren jedenfalls nicht „elitär“. Dies Genie hat noch nichts mit Nietzsche oder Wagner zu tun, es ist das utopische Selbstverständnis eines durchaus bürgerlichen Menschen, der entschlossen ist, nicht nur zu funktionieren, sondern zu leben: „Wer bemerkt, wahrnimmt, schaut, empfindet, denkt, spricht, handelt, bildet, dichtet, singt, schafft, vergleicht, sondert, vereinigt, folgert, ahndet, gibt, nimmt, als wenn’s ihm ein Genius, ein unsichtbares Wesen höherer Art diktiert oder angegeben hätte, der hat Genie, als wenn er selbst ein Wesen höherer Art wäre, ist Genie“. So behauptet es Johann Caspar Lavater, der übrigens zum Schauen, Empfinden und Wahrnehmen Zeit seines Lebens so gut wie nie aus Zürich herausgekommen ist.

Sturm und Drang ist die Literatur von rebellischen jungen Leuten, die sich das Reisen nicht leisten konnten. So ist es eigentlich dann doch nicht sonderlich willkürlich, die Epoche mit einer Reise enden zu lassen, mit der Reise Goethes nach Italien.

Der Beginn der „Epoche“ wurde mit dem Erscheinen der Herderschen „Fragmente“ 1767 markiert. Der Sturm und Drang endet schließlich mit dem Wandel Goethes und Schillers zu Klassikern, ausgelöst eben durch Goethes Bildungsreise und Schillers Kant-Studien. Man könnte wohl sagen, sie versuchten sich von einem radikalen Subjekt in eine Institution zu verwandeln. Und sie tun das natürlich auf sehr unterschiedliche Weise. Die Form der Revolte gegen die Enge wird selber zu eng; mehr Welt und mehr Theorie  (und mehr neue Form) wird möglich. Aber nur, weil eben vorher Sturm und Drang war.

# 11

Aus dem Beiheft der CD „Sturm und Drang“ von Robosonic (2009), hübsche Elektronik-Collagen: „Die Einzigartigkeit und das revolutionäre Moment dieser gesamten Platte liegen bei Weitem nicht in der musikalischen Ausdrucksform. Sie ist nur das kafkaeske Vehikel eines Kampfes gegen Opportunismus und Einfältigkeit, der inmitten einer realen Kunstwelt ausgetragen wird. Ein schmaler Grat, der hier von den geheimnisvollen Protagonisten beschritten wird, ein Seiltanz gar. Das Gesamtkonzept bleibt bei oberflächlicher Betrachtung schleierhaft aber trotz verschiedenster Einflüsse und dem gewagten Stilbruch hat Sturm und Drang mindestens eine offensichtlichte Linie: Freiheit, Aktionismus und große Gefühle im Vierviertel-Takt“.

# 12

Sturm und Drang, sagt man, sei eine rein literarische Angelegenheit. Stimmt einerseits. Andrerseits aber waren die Künstler vom Bild besessen, von der Bildhaftigkeit der Sprache bis zur Bildhaftigkeit der Welt. Die Autoren des Sturm und Drang schrieben zwar gerne über sich selbst, mehr oder weniger direkt, aber sie schrieben mindestens genau so gern über das, was sie sahen. Und sie sahen eine Menge, auch wenn sich der Radius ihrer Reisen, schon aus finanziellen Gründen, in engen Grenzen hielt. Und dann gibt es Maler wie Johann Heinrich Füssli oder Daniel Chodowiecki, die im Geist oder durch die Freundschaft mit der Bewegung verbunden waren. Das Weltbild wird nicht zerstört und nicht „gestürmt“, aber es gerät ins Flickern.

# 13

Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, ein Kultbuch des 18. Jahrhunderts, wird zum Schlüssel für die verschiedenen Kulte und kann zugleich nur das Scheitern besiegeln: es wird Mode und Verzweiflung auslösen, wie gewisse Pop-„Götter“ später es vermögen; die radikale Selbstverwirklichung, wenn es sein muss auch im Selbstmord ist entscheidender als die moralische Bildung, Einsicht und Weisheit. Im Sturm und Drang wird erstmals formuliert, dass das Leben und die Verhältnisse unerträglich sein können, und die Selbstermächtigung auch die Selbstzerstörung umfasst.

Mit dem „Werther“ emanzipiert sich immerhin eine neue Gattung, der „bürgerliche“ Roman. Er versucht zu sagen, wie es ist. Er schildert die Versuche eines jungen Mannes, sich in die gute Gesellschaft einzufinden und sein Scheitern. Er scheitert folgerichtig nicht allein an der Stände-Ordnung der Liebe, sondern auch der Ordnung der Arbeit. Er findet keine Chance einer „Gleichstellung“ und Selbstverwirklichung. Der neue Kleinbürger hatte damals so wenig Chancen wie der Prekarianer heute. Der Tod ist weder Lösung noch Versöhnung. Die letzten Sätze von „Die Leiden des jungen Werther“: „Nachts gegen elfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht’s nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.“ No Future.

Text: Georg Seesslen

Text erschienen in BUILD