Heiner Geißler hat geschlichtet. Über die wundersame Verwandlung eines unsinnigen Projekts, die jesuitische Rettung der Demokratie und einen Versuch medialer Konsensbildung.

Carl Schmitt, der Hausgott der Konservativen, hat einmal zackig erklärt: Politik ist nichts anderes als die Unterscheidung von Freunden und Feinden. Ob er damit Recht hat oder nicht – bei seiner Klientel findet der Satz Anwendung hinter den Fassaden. Eine demokratische Ableitung und ein großer Schritt zur Humanisierung des barbarischen Freund-Feind-Diskurses wäre eine politische Grammatik anhand dreier Fragen: Wer ist aus welchen Gründen wofür? Wer ist aus welchen Gründen dagegen? Und was ist, wenn man beides gegenüberstellt, eine demokratische Lösung?

Mehrheitsentscheidung, Kompromiss, Delegation, Debatte oder Aussetzen der Entscheidung; die Möglichkeiten sind ja beschränkter, als man sich wünschen würde. Beinahe unbeschränkt dagegen sind die Mittel, die schlichten Fragen zu vernebeln und zu verdrängen, Freund und Feind, mit anderen Worten, unsichtbar zu machen. Es ist eine jesuitische Politik der Entpolitisierung, die sich beim Kampf der wirtschaftlichen gegen die menschlichen Interessen bewährt hat.

Die zweite, die ökonomische Ableitung bei einem Konflikt wie dem um »Stuttgart 21« ist nicht viel weniger schlicht: Wer wird bei einer Entscheidung den Nutzen, wer den Schaden haben? Und gibt es eine Möglichkeit, Gewinn und Verlust ein bisschen gerechter zu verteilen? Auch die Ausweitung der politischen Grammatik ist klar: Welche Mittel stehen den Kontrahenten zur Verfügung, welche werden sie anwenden? Welche werden als legal, legitim und angemessen erachtet? Welche Allianzen werden sich bilden? Wie reagiert die Gesellschaft? Und welche Diskurse werden nach der »politischen Entscheidung« übrig bleiben, wie wird »erklärt«, was da zustande gekommen ist, nämlich dass wieder einmal die mit dem Geld und mit der Macht gewonnen haben?

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Eine politische Schmierenkomödie

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Der Traum der Demokratie sah so aus, dass der Staat als Moderator in diesem Konflikt vor allem darauf drängen würde, die Interessen jener zu schützen, die von der ökonomischen Macht bedrängt und unterdrückt werden, und dass Nutzen und Nachteil gerecht zu verteilen seine vornehmste Aufgabe im Inneren sei. Der postdemokratische Staat hat sich aus dieser Verantwortung mit einer schlichten Gleichung gestohlen: Das Gemeinwohl ist identisch mit der Prosperität der Wirtschaft. Damit ist klar, dass ein Projekt wie »Stuttgart 21«, das der ökonomischen Effizienz und dem »Wachstum«, kurz: dem Fortschritt, dienen soll, auch im Sinne des Gemeinwohls ist. Gegner des wirtschaftlichen Fortschritts dürfen daher als Fortschrittsfeinde, also Feinde des Gemeinwohls, also des Staates angesehen werden.

Die Auseinandersetzung um »Stuttgart 21« wurde von einem regionalen Geschehen zum politischen Schlüsselbild der postdemokratischen Verhältnisse, weil die Parteien wieder sichtbar wurden, erst einmal sozusagen aus Versehen. Weil, um in der barbarischen Sprache der Konservativen zu sprechen, für beide Seiten der »Feind« wieder ein Gesicht erhielt. Was bleibt – aus den Gesichtern von Ministerpräsidenten und Bahnchefs und ihrer Entourage zu lesen, und aus ihren Worten –, ist der Unwille und die Unfähigkeit, den demokratischen und ökonomischen »Feind« zu respektieren. Er muss, so sieht und hört man ihnen an, zum Schweigen gebracht werden. Koste es, was es wolle.

Wie macht man das? Erstes Mittel: Man ignoriert ihn. Das funktioniert dann nicht mehr, wenn in den Medien eine Legende zu diesen Fortschrittsfeinden entsteht, eine Erzählung von einem »bürgerlichen Aufstand«, von braven Akademikern, Rentnern und Schülern, von ordentlich gewaschenen, gut deutschen, gar besser verdienenden Rebellen; kurzum eine bislang ungewohnte Dissidenz, sozial gesehen eher der Gewinnerfraktion zugehörig und damit einigermaßen unantastbar. Das zweite Mittel: die Denunziation des Gegners. Die Bild-Zeitung spricht von »Revoluzzer-Opas«, die FAZ beklagt die Unfähigkeit solcher Kleingeisterrebellen zum »großen Denken«.

Der Denunziation des Feindes müssen drittens die Taten folgen. Das nach wie vor probate Mittel: Gewalt. Die »Demonstration von Härte«, die unten mit Wasserwerfern und Pfefferspray geführt wird, wiederholt sich in den Schnittpunkten von Macht und Ökonomie mit einer schlichten Rhetorik: Widerspruch ist zwecklos, was nutzen Argumente und »Leute« gegen eine Macht, die Tatsachen schaffen kann. Und wer nicht mitmacht, der soll sich dann nicht wundern, dass ihm vom Profit auch kein Krümel zukommt. Der Bürger als Feind soll verunsichert, verunglimpft und im Zweifelsfall auch verprügelt werden.

Aber all das, was sich so oft bewährt hat, fast täglich in jeder Provinz – die Mischung aus Brutalität, Korruption und Bigotterie, die wir »Lokalpolitik« nennen –, und im Großen ohnehin, das funktionierte diesmal nicht wirklich. Und einer der entscheidenden Gründe dafür war wohl, dass das Gesicht der Macht zu deutlich seine »Weltlichkeit« ausdrückte, Raff- und Machtgier, und zugleich wohl auch die intellektuelle Unfähigkeit, dem eigenen Vorhaben nicht nur eine menschliche Legende, sondern auch einen Anschein wenigstens der ökonomischen und technischen Vernunft zu verleihen. So blieb die auch für einen Bürger alter Schule unerträgliche Aussage: Es ist Unsinn, es ist hässlich, es ist gewaltsam – aber es bringt Geld. Das muss reichen.

Selbstverständlich reicht das nicht. Wenn also weder Ignoranz noch Propaganda noch Gewalt genügen, den Gegner zum Schweigen zu bringen, muss man sich etwas anderes einfallen lassen. Man kann das »Diplomatie« nennen, vor allem aber geht es um ein öffentliches Schauspiel. Denn nun kommt es nicht mehr allein darauf an, den Feind zum Verschwinden oder wenigstens zum Schweigen zu bringen, sondern auf die öffentliche Darstellung seiner Bekehrung. Und zu eben diesem Schauspiel benötigt auch der demokratische Fürst seine jesuitische Geheimwaffe. Eine Kraft, die am Ende nicht den Körper, sondern die Seele des Feindes unterwerfen will und die in aller Regel nicht anstelle der Schergen und Folterknechte auftritt, sondern dann, wenn diese ihr Handwerk verrichten. Eine Kraft wie Heiner Geißler.

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Es ist Unsinn, es ist hässlich,

es ist gewaltsam – aber es bringt Geld.

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Der ist ein jesuitisch »erzogener« Mensch, entscheidend für die politische Kultur ist sein vollständig »jesuitisches« Verhältnis zur Macht. Erinnern wir uns an den Schwur der Jesuiten; ihr Ziel soll es sein, »ketzerische, protestantische oder freiheitliche Lehren auf rechtmäßige Art und Weise oder auch anders auszurotten und alle von ihnen beanspruchte Macht zu zerstören«. Die beiden Kernaussagen jesuitischer Macht gegenüber dem »Feind« lauten also: Es sind auch andere als rechtmäßige Mittel erlaubt, und es gilt, nicht nur seine Macht nachhaltig zu zerstören, sondern auch deren Beanspruchung zu unterbinden. Natürlich leistet sich der demokratische Fürst nur einen Jesuitismus light, indes scheint ebenso klar, dass nahezu jede Partei sich ihren jesuitischen Manager leistet, also jemanden, der für ein höheres Ziel bereit ist, jedes Mittel, rechtmäßig oder nicht, offen oder verdeckt, einzusetzen.

Eine politische Schmierenkomödie, wie wir sie beim »Schlichterspruch« von Heiner Geißler erleben durften, braucht auch den richtigen Darsteller, da kommt diese jesuitische Allzweckwaffe des postdemokratischen Konservatismus gerade recht. Einst war er der rechte Hetzer, jetzt ist er der ökologische Ketzer seiner Partei – so wird er gerne vorgestellt. In der Eingangsrunde der Talkshow »Hart aber fair« erklärte Geißler freimütig: Nicht er habe sich geändert, sondern die Verhältnisse hätten es.

Die Geißler-Legende vom alten reaktionären Haudegen, der im Alter milde und weise geworden ist, ist ja auch zu schön und tröstlich. Denn etwas Einschneidendes ist sichtbar geworden: Der Konflikt um »Stuttgart 21«, ein Schlüsselbild von noch tieferen und umfassenderen Konflikten, ist mit demokratischen Mitteln gar nicht mehr lösbar. Das Verlangen einer Öffentlichkeit, die sich diesem Menetekel nicht stellen will, ist nicht auf eine Lösung gerichtet, sondern auf eine Versöhnung. Kollektiv beschwiegen werden muss das absehbare Scheitern des Projekts Demokratie, und daher muss das Spektakel ihrer Rettung inszeniert werden, und sei’s noch mit den Mitteln des Kasperletheaters.

Prompt erhält das Spektakel wahrlich traumhafte Einschaltquoten, Aufmerksamkeitswerte, Auflagenzahlen, und es wird gefeiert, als wäre es die Rettung unserer Demokratie in letzter Sekunde oder sogar der Beginn einer Wiedergeburt demokratischer Kultur in diesem unserem Lande. ­Ignatius von Loyola hätte seine Freude an seinem Schüler Heiner Geißler gehabt! Die Schlichtung bietet nämlich nichts anderes an als eben das jesuitische Ziel von Folter und Predigt: die Unterwerfung unter den Willen der Macht, die im Gegenzug ein Heilsversprechen begleitet. Es wird »Gutes getan«, für Behinderte und Bäume zum Beispiel, aber viel wichtiger ist, und die kritische Presse erkennt es sogleich: Ab jetzt soll man wieder miteinander sprechen können, die Demokratie wieder als gemeinsame Messe zelebrieren. Der Bahnhof wird abgerissen, aber das Haus der Gesellschaft bleibt fest. Der soziale Friede des Herrn Geißler sei mit uns!

Geißler ist der Mensch, der es verstanden hat, die Mittel der Macht nach den Verhältnissen auszurichten. Das Jesuitische daran liegt nicht nur in der Kombination von Machtwillen, Inszenierungsgeschick und rhetorischer Gewandtheit, sondern in der vollständigen Unterordnung der Mittel unter die Zwecke. So wird für das Unternehmen sogar ein »Stresstest« versprochen. Am selben Tag, da man den Schlichterspruch auf den politischen Seiten bejubelt, wird im Wirtschaftsteil der FAZ hämisch berichtet, dass sich die Stresstests bei den Banken »als nicht besonders hart herausgestellt« hätten.

Wenn sich ein »Stresstest« für »Stuttgart 21 plus« – Jetzt neu! Baumschonend und demo­kratiekulturell zertifiziert! – also machen lässt, ist damit zu rechnen, dass er sich auch »als nicht besonders hart herausstellt«. Denn um die Genesis einer politischen Entscheidung zu beschreiben, muss man nur erkennen, wer an einer Sache verdient, wer Karriere macht, wer einen Auftrag bekommt. Aber damit sind wir auch wieder genau da, wo wir angefangen haben. Bloß dass wir jetzt eine andere Erzählung haben. Und wer auf die jesuitische Inszenierung des Heiner Geißler nicht hereingefallen ist? Der ist jetzt aber wirklich ein Feind.


Text: Georg Seeßlen

Text erschienen in Jungle World Nr. 49, 9.12.2010