Die Katastrophe zum Kuscheln

Katastrophenphantasien wie „Die Sturmflut“ haben das Potenzial von politischen Strategien

Es war ein nationales Medienereignis, mindestens: Der Zweiteiler zur Hamburger Flutwelle des Jahres 1962. 70 Drehtage, über acht Millionen Euro Budget, davon 1,2 Millionen Euro allein für Spezialeffekte. Mit Jan Josef Liefers, Nadja Uhl und Benno Führmann in den Hauptrollen! Mit Stars auch in den Nebenrollen, darunter Götz George, Heiner Lauterbach, Elmar Wepper, Gaby Dohm, Jutta Speidel – alles was für Emotion und Rollenmodell, und was für die Wiederkehr des ewig Gleichen im deutschen Fernsehen steht. Die perfekte Verbindung deutscher Verbindlichkeit mit der universalen Formel der medialen Katastrophenphantasie.

Von Katastrophen, realen und befürchteten, muss erzählt werden, auch mit den Mitteln der populären Kultur, weil es Katastrophen gibt. Wie den Tod, wie den Krieg, wie das Verbrechen und wie untreue Geliebte. Zur „Katastrophenphantasie“ gibt es Theoreme des Destruktiven und solche des Konstruktiven. Die destruktivste wohl stammt von Theodor W. Adorno. Nach ihr verhält es sich so, dass jemand, der so angelegentlich von Katastrophen träumt, diese sich in Wahrheit irgend auch wünscht. Zum leicht gemäßigten Destruktivismus tendiert Susan Sontag in ihrem berühmten Essay, den mehr Menschen zitiert als je gelesen haben. Bei ihr geht es „um die Ästhetik der Destruktion, um die seltsame Schönheit der rächenden Verwüstung, der Schaffung eines Chaos“, aber auch darum, dass man Tod, Schmerz und Vernichtung spielen kann, folgenlos für Körper und Seele. Und damit ist auch schon die Tür geöffnet zu den konstruktiveren Betrachtungen. Die eine besagt, dass stärker als unsere Lust an Zerstörung und Freude am Unglück, das andere betrifft, die Hoffnung auf Bewährung, der Wunsch danach sei, die Chance für Heldentum im Schrecken zu sehen. Erst in der Katastrophe erweise sich der Wert des Einzelnen und der Wert dessen, was Gemeinschaft ausmacht: Solidarität, Opfermut, Heimat.

Hollywood, wo „Katastrophenphantasie“ nicht erfunden, wohl aber perfektioniert wurde, verstand sich auf solche Dramaturgie: Wo Schiffe untergingen, weiße Haie die Strände unsicher machten, Erdbeben, Flutwellen und Feuersbrünste wüteten, da wuchs das Rettende auch. Es hatte die Gestalt eines Tatmenschen, um den sich ein trutziges kleines Kollektiv zu bilden pflegte, und es formte sich zu einem erlösenden Bild der familiären Geborgenheit. Womit wir beim vierten Theorem zur Katastrophenphantasie sind. Es überschreitet Vernichtungslust und Heldensehnsucht und reicht ins Transzendentale: Die Katastrophe ist nicht nur Gelegenheit zur Bewährung und Besinnung auf gute alte Werte. Die Katastrophe ist auch mehr oder weniger göttliche Prüfung, an ihrem Ende steht die Erlösung, gefasst ins Bild der negativen Erhabenheit: Feuer, Erde, Wasser, Luft – in all ihrer Gewalt sind sie am Ende immer auch schön, weil ihre schreckliche Poesie der Grausamkeit dem Aufklärer die Suppe versalzt.

Von der Katastrophe muss erzählt werden, damit man nicht an ihr verrückt wird, damit man Sinn im Sinnlosen findet, und mehr noch muss von Katastrophen erzählt werden, weil sich nichts so wunderbar für die Verbindung von Nervenkitzel, Wohligkeit, Erschauern und Propaganda eignet. Und damit sind wir in der Gegenwart dieses kleinen, unsympathischen Landes namens Deutschland, dessen Regierung unter der nicht mehr ganz neuen Kanzlerin Angela Merkel einen Ausbeutungs- und Entwertungskrieg gegen die eigene Bevölkerung führt, während sich alle irgendwie weich und geborgen fühlen. Kuscheln und Katastrophe gehört zusammen in der Propagandawolke, in der zu leben wir uns angewöhnt haben.

Für die Erzählung der Katastrophe in der populären Kultur gibt es eine Reihe von Konventionen. Da ist zum einen das Prinzip des „homerischen Dialogs“. Mitten in etwas, das einem eigentlich die Sprache verschlagen sollte, wird ein konstanter Text erzeugt: Was immer an Schrecken die Welt parat hat, die Menschen in der Katastrophenphantasie beginnen schon manisch darüber zu reden. Damit ist das Tröstende in die Katastrophe selber eingeschrieben.

Durch eine Dramaturgie der Zeichen wird, zum Zweiten, dem katastrophischen Geschehen das Sinnlos-Plötzliche genommen. Es gab immer schon Zeichen, und Wesen die sie lesen konnten. Aber auf uns hört ja keiner. An geistiger Schlichtheit übertraf Die Sturmflut dabei mühelos die Hollywood-Vorbilder: Die Vorwarnung kommt hier in einer Szene, wo ein Hund auf einer isländischen Wetterstation die Wurstscheibe verschmäht und den wissenden Himmel voller Todesboten-Vögel anbellt. Und schon mit dieser ersten Szene haben wir das Prinzip dieses deutschen Katastrophenbildes verstanden, das sowohl eines der Erzähltechnik als auch ein politisches ist: Nennen wir es vorderhand Überdeutlichkeit, ein Erzählen, das blind seiner Absicht folgt.

Das dritte Rezept in der Katastrophenphantasie könnte man als das Prinzip der bekannten Gesichter bezeichnen. Schon im Katastrophenfilm aus Hollywood in den siebziger Jahren wurde eine beeindruckende Riege aktueller, vor allem aber ehemaliger Stars aufgeboten, um alle Modelle zwischen Versagen und Bewährung, Opfer, Strafe und Rettung durchzuspielen. Nach dem selben Prinzip funktioniert nun auch das deutsche Event-Fernsehen. All die Stars und Ex-Stars bringen eigene Geschichten und Modelle ein, die Katastrophe bricht einerseits über das Hamburg des Jahres 1962 herein, andrerseits über einen Fernsehkosmos. Die Würde des Opfers und die Gnade der Erlösung betrifft neben einer historisierten Fiktion auch den Bedeutungshimmel unserer Fernsehträume. Das Medium erlöst sich in seiner Katastrophenphantasie immer auch selbst.

Das vierte Rezept ist die Grundierung der Katastrophe durch eine Reihe von Soap-Opera-Vernetzungen: Wie letzthin in Die Luftbrücke, wie bald in Dresden so geht es auch in Die Sturmflut darum, Familien zusammenzubringen. Die Welt geht unter, damit sich eine Familie versöhnen kann. Übrigens ist es kein Wunder, dass auch auf der Soap Opera-Ebene die Sache vor allem auf die Männer bezogen ist; die Frauen sind die ersten Opfer und werden weiter Opfer sein, um das Entscheidende schließlich zu sagen: „Du bist so tapfer, vergiss alles andere.“ Tapfer sein und vergessen. Das ist das Versöhnungsgebot in der Katastrophenphantasie.

Prinzip Nummer Fünf, mit der Soap Opera-Dramaturgie verbunden, ist die Auflösung der Geschichte in Einzelschicksale, die sich alle auf einer Skala von richtigem oder falschem Verhalten, von böse und gut einordnen lassen. Damit wird die Katastrophe zum Melodrama: die heftigste Art eines Schicksals, das Tugend durch Terror erzeugt.

Wenn Krise immer beides zugleich ist, nämlich Ende und Anfang, so scheint in der Katastrophenphantasie auf den ersten Blick das Positive privatisiert und das Negative vergesellschaftet. Aber die Sache ist beim genaueren Hinsehen komplizierter. Jede Katastrophe, vom Untergang von Atlantis bis zum Anschlag auf die Twin Towers redefiniert gesellschaftliche Macht. Das Opfer (Sei tapfer und vergiss!) im Volk und die Tatkraft der Führung ergeben das Bild eines populistischen Bündnisses. „Ich werde nicht ein einziges Menschenleben aufs Spiel setzen, indem ich Zeit verliere mit Debatten über Zuständigkeit“, sagt die gute Autorität Helmut Schmidt in diesem Nationalepos als Katastrophentraum. Auch das kommt gerade recht, wo doch der Einsatz der Bundeswehr im Inneren bei Fußball-Events und das fürsorgliche Abschießen von Flugzeugen zur Debatte steht. Man kann es drehen und wenden wie man will, bis in die einzelnen Sequenzen hinein ist Die Sturmflut auch Propaganda für die Militarisierung der Gesellschaft im Allgemeinen, die Militarisierung des Blicks im Besonderen.

Wenn Propaganda vorauseilender Gehorsam ist, dann können wir uns, nach Die Sturmflut und Dresden wohl darauf gefasst machen, mit welchen Argumenten Zuständigkeit, Recht und dann gleich zuviel von dieser lästigen Demokratie beiseite gewischt werden. Dass Michael Degen hier neben seiner korksigen Familiengeschichte auch noch jenen Kaufmannsgeist abgeben muss, der dem tatkräftigen Politiker Schmidt Steine in den Weg der Rettungsaktion (wegen „Geldern, die nicht bewilligt sind“) legt, gehört in die Rubrik der „Überdeutlichkeit“, die dem Genre eigen ist. Eine Rolle, die alles zusammenfasst, was an Feindbild in deutscher Mythologie steckt: Krämerseele, zaudernder Bürokrat, erbärmlicher Zivilist. Er ist so, dass ihn der Tatmensch nicht einmal anschauen mag, wenn er mit ihm spricht, bis ihn die Idee rettet, wie er sich doch noch ins Erlösungswerk einschreiben kann: ein Spendenkonto einrichten.

Was ist noch Rollen-Klischee im endlos laufenden Fernsehfilm, und was schon gezielte Propaganda? Die Grenze, so scheint es, ist in letzter Zeit fließend geworden. In unserer Gesellschaft braucht man Unterhaltung, um nicht verrückt zu werden. Mittlerweile aber scheint im angewandten Merkelianismus auch die Verwandlung von Entertainment in Propaganda beschlossene Sache, anders verstehen wir uns nicht mehr.

Beinahe noch bedeutender als die Erlösung der Familie durch die Katastrophe ist in der deutschen Katastrophenphantasie die Konstruktion des Zusammenhalts. Denn tatsächlich funktioniert Die Sturmflut da wie ein klassischer Kriegsfilm. Im Schnitt zwischen Feldherrenhügel und „infanteristischem“ Erleben der wahren Hölle, im „Ringen“ der Staatsmänner und in den Kämpfen der einfachen Menschen, ganz bildlich-buchstäblich „an vorderster Front“. Wenn man die Hollywood-Katstrophenfilme immer auch lesen konnte als Kritik an einer unfähigen und korrupten Politik, ist die deutsche Katastrophenphantasie gerade auf die Rekonstruktion der politischen Autorität und der militärischen Präsenz aus. So viel gutes Militär sieht man sonst nur in den Werbefilmen des Verteidigungsministeriums.

Die Sturmflut feiert unentwegt und überdeutlich das neue Testament zwischen politischer und militärischer Gewalt einerseits, dem erschrocken fügsamen Volk andrerseits. Aber selbst der militärische Aspekt wiederum wird immer wieder aufgelöst im Familiären; der Hubschrauber-Pilot wirft seinen Helm weg und springt ins Wasser, Blut ist dicker als Befehle, um den Sohn zu retten. Denn noch vor dem Staat muss die Familie geheiligt werden, jene Familie, die man übrigens vierzig Jahre später doch ein bisschen fördern muss, damit sie die Aufgaben des Staates in Fürsorge und Sicherung übernimmt. Der Staat, so sagt diese Metapher, ist für die Ordnung zuständig, die Familie dagegen für die menschlichen Rettungen.

Die Sturmflut ist durch dieses Prinzip der Überdeutlichkeit, der Tautologie immer ganz nahe daran, zur eigenen Parodie zu werden. Und noch ein langer Blick, und noch mal sagen, was schon drei Mal gesagt wurde, und noch einmal ein gefühlsduseliger Musik-Schwall. Es sind allenfalls die formalen Tricks, die digitale Bearbeitung, die Stunts, die Kamera-Kunststücke, die das ganze Unternehmen davor bewahren, in den Fluten der unfreiwilligen Komik zu versinken. Freilich ist, was „unfreiwillige Komik“ sein mag, ja nur noch schwer auszumachen im Reich einer Kanzlerin, die ihr „Programm“ in Form von Werbeslogan-Zitaten zu verkünden liebt.

Das sechste Prinzip in Katastrophenphantasien der populären Kultur ist schließlich die vorweggenommene Absolution. Auch das kann man gut und gern in die historischen Geschehnisse projizieren. Kurz vor der Schlacht, kurz vor dem Weltuntergang setzt der eine oder andere Mensch dazu an, die Sünden seines Lebens und die Missgeschicke seiner Beziehungen zu beichten, aber da ist immer der Tatmensch, der einen Satz wie diesen sagt: „Du bist eine tapfere Frau, Sue, vergiss das“. Dieser Satz stammt aus John Waynes Alamo, einem Muster der nationalen, historischen Katastrophenphantasie. Ganz ähnliche Sätze aber sprechen auch die Helden von deutschen TV-Events. Unentwegt sind die Menschen in Die Sturmflut damit beschäftigt, einander durch den praktischen Einsatz den Impuls zur Beichte zu nehmen. Da wundert einen nicht mehr, dass der lange, lange Katastrophenzweiteiler mit diesem Dialog endet: „Was habe ich falsch gemacht?“ – „Nichts.“ Das ist gelogen. Und es ist Programm.

Merkelianismus besteht aus einfachen Grundzutaten: Erzeugung eines Nebels von Harmonie, egal wie erkauft, gelogen, geträumt. Darunter: Stärkung der staatlichen Gewalt, Polizei, Überwachung, Militär, Geheimdienst. Darunter: Abbau des Staates als fürsorgendes und beschützendes Instrument der Gemeinschaft, Übereignung des Geschehens an die großen Spieler des Marktes. Darunter (und da schließt sich der Kreis): Erzeugung eines neuen Wir-Gefühls, in dem die Politik des Neoliberalismus als Schicksal angesehen wird, dem gegenüber nur familiäre Wärme und gleichzeitig Härte helfen kann. (Katastrophenfilme sollen uns unter anderem auch das „Jammern“ austreiben.)

Angela Merkel hat diesen Merkelianismus nicht erfunden. Aber sie ist dafür so sehr die Idealbesetzung wie Heike Makatsch die Idealbesetzung in Margarete Steiff ist, Xaver Schwarzenbergers herbe Vorahnung des medialen Merkelianismus über die schwäbische Erfinderin des Teddys mit dem Knopf im Ohr. Hier ist das Prinzip „Nicht jammern, unternehmen, und vergessen“ zum Erzählprinzip selber geworden: Die „verkrüppelte“; vom Geliebten verlassene Unternehmerin lebt nach dem Prinzip des „Vergiss es“, um als „tapfere Frau“ (anstelle der Liebenden) erfolgreich wiedergeboren zu werden.

Ganz neu ist das alles nicht. Schon in den fünfziger Jahren begann die deutsche Pop-Kultur, die Geschichte nach dem Muster der Katastrophenphantasie zu erzählen, insbesondere natürlich die Geschichte von Faschismus und Krieg. Das Modell freilich blieb damals rudimentär. Die Wiederaufbaugesellschaft wollte noch als ganzes funktionieren und sich als Projekt für die Zukunft verstehen. Die radikale Vereinzelung und der radikale Neuanfang war ebenso unmöglich wie die inhärente Propaganda für die Begrenzung des eigenen Systems (von Kapital und Demokratie). Der deutsche Kriegsfilm musste daher immer auch kollektive Entschuldungen vornehmen statt der individuellen. Der Umschlag vollzog sich in den siebziger Jahren. Die (sozialen) Katastrophen wurden nun der Gesellschaft als Lösungsangebote vorgestellt, bis hin in jeden Tatort-Krimi hielt sich der Glaube an eine prinzipielle Rettbarkeit des Systems, auch wenn Derrick und Konsorten gelegentlich am Bösen in dieser Welt zu verzweifeln drohten.

Mit der kleinen Kritik am Rande aber wurde gleichsam die Fehlerhaftigkeit des ganzen Systems verdrängt: Man phantasierte, auch im Pop-Format, kleine Ernüchterung und kleine Verbesserung, aber Katastrophe war nicht denkbar. Die lange Ära Kohl brachte die Eingemeindung aller dissidenten Impulse. Es geht einfach immer so weiter, wenn das nicht Katastrophe genug ist. In der Zeit der rot grünen Herrschaft schließlich durfte es keine Katastrophe geben. Was die soziale Gegenwart anbelangte war ja gerade diese Regierung eine, die nur dazu da schien, Katastrophen zu vermeiden. Einerseits sollte die lange befürchtete Katastrophe durch den Atomkraft-Unfall vermieden werden, und zum anderen wurde die Katastrophe einer deutschen Teilnahme am Irak-Krieg vermieden.

Zwar macht der Merkelianismus politisch gesehen genau da weiter, wo der Schröderismus aufgehört hatte, freilich mit einem signifikanten Unterschied. Dem Schröderismus kann nicht verziehen werden, dass er die Katastrophen dann doch nicht abwehren konnte, der Merkelianismus dagegen funktioniert bereits in der Katastrophe. Wir machen genau so weiter, nicht obwohl, sondern gerade weil die Katastrophe jetzt da ist. Mehr noch: In der Ära der rot-grünen Koalition war das Katastrophische des eigenen Systems geradezu verdrängt worden, denn die Vermeidung der Katastrophe war das Wesen des kulturellen Konsens. In der Ära der großen Koalition wird nicht das Verhindern, sondern das Überleben der Katastrophe propagiert (das ist übrigens eine Erklärung dafür, dass Frau Merkel so viel Zustimmung erhält, obwohl sie eigentlich mehr oder weniger nichts tut, aber dafür andere Dinge tun lässt, die entschieden das Katastrophische des Systems befördern).

Das plötzlich so geballte Auftreten der Katastrophenphantasie in der deutschen Pop-Kultur mag als Symptom erscheinen, als Versuch mit dem Leben, wie es ist, fertig zu werden. Man kann sie aber auch, schlechter gelaunt, als Signal verstehen, also als irgend berechnete und gelenkte Aufforderung. Filme wie Die Luftbrücke, Die Sturmflut, Dresden, nebst den Vorläufern wie Das Wunder von Bern oder Margarete Steiff werden dereinst in den Seminaren kommender Kulturhistoriker als propagandistische Begleitmusik zu einem tiefgreifenden Wandel in den Verhältnissen von Subjekt, Gesellschaft und Staat analysiert werden können.

Denn in Die Sturmflut kann man allen Aspekten der Katastrophenphantasie bei der Arbeit zusehen, jeder Satz und jede Kamera-Einstellung scheint von nichts als von der Absicht zu berichten, dem deutschen Volk aus der Katastrophe ein Wohlgefallen zu bereiten: von der dunklen Schönheit einer apokalyptischen Wasserwelt, über die Bewährung der einzelnen Menschen inmitten der Gefahr wie des entschlossenen Mannes an der Spitze bis zur Gnade von Erkenntnis und Liebe in schwerer Stunde. Die historische Katastrophe wird zum Sinn-Bild für die Gegenwart. Die große Koalition kann sich keine bessere Propaganda wünschen als diese Geschichten, die davon handeln, dass sich die kleinen Leute und die große Politik im Opfer vereinen müssen, um die Flut zu überstehen. Die Sturmflut nach dem Deichbruch. Oder die Flut von Arbeitslosigkeit und Sozialabbau.

Die Sturmflut bedient sozusagen mechanisch alle Elemente der Katastrophenphantasie und lädt sie durch merkelianische Harmonie-Versprechen auf. Der nächste Schritt liegt nahe und wird blitzrasch auch unternommen. Es geht um die Übertragung der Modelle der Katastrophenphantasie auf die Vergangenheit. Immer wieder wird die Frage nach der Tapferkeit gestellt, um „das Andere“ zu vergessen. Das Andere in den Weltkriegen (von denen auch in Die Sturmflut immer wieder die Rede ist), das Andere im Faschismus. Wasser (Die Sturmflut), Feuer (Dresden), Luft (Die Luftbrücke) – fehlt nur noch die Erde um das große Epos von Opfer und Wiedergeburt auf der Ebene des Event-TV zu vollenden. Aus der Katastrophenphantasie ist das neue Deutschland, das Deutschland von Merkelianismus und Großer Koalition wiedergeboren.

Und wahrscheinlich hat am Ende der alte Adorno so unrecht nicht. Die Katastrophe ist zum Mittel der Politik geworden, sie erzeugt politische Macht längst mehr als es Wahlen tun, und mittlerweile sind die Muster der Katastrophenphantasie bereits wieder politische Strategie. Schon bei den ersten Anzeichen der nächsten Katastrophe, um die Vogelgrippe geht es augenblicklich, werden die öffentlichen Rollen besetzt. Und auch tote Vögel sind eine schöne Metapher.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in Freitag 24.02.2006