(geschrieben im Juni 2011)

Der Mann, der Italien ruinierte:

Eine Analyse des Phänomens Silvio Berlusconi und der Versuch, die Post­demokratie zu verstehen.
Ein Literaturbericht 

Silvio Berlusconi, das ist auf der einen Seite schlicht der Mann, der Italien ruinierte, und das nicht nur in Gestalt des „Burlesquoni“, des bösen Kaspers der Korruption und des schlechten Geschmacks, nicht nur als Karikatur eines vermeintlichen „Nationalcharakters“, der nun einmal Anmaßung, Schadenfreude, Heuchelei und Schamlosigkeit hinter der bella figura geschickt zu verbergen wisse, und schließlich nicht nur als Gespenst des Immobilien-, Unterhaltungs- und Finanzkapitalismus ohne Grenzen. Sondern auch als immens geschickter Protagonist einer Bewegung zur Umformung der repräsentativen Demokratie in eine mediale, präsidiale und „privatisierte“ Postdemokratie. Nicht nur Italien ist ein anderes Land geworden durch ihn und die Seinen, auch das europäische Projekt der aufgeklärten, rechtsstaatlichen und parlamentarischen Grundordnung als work in progress ist durch seine Politik tief gestört worden.

So also wird es Zeit, das einzig Gute an Silvio Berlusconi zu nutzen, nämlich die strategische, taktische und rhetorische Offenheit, mit der er die Mikro- wie die Makrophysik der Macht beherrschte und bediente, um eine neue Form der postdemokratischen Regierung zu etablieren, für die man noch keinen anderen Begriff gefunden hat als eben „Berlusconismus“. Und so „italienisch“ auch ein Silvio B. sein mag, so exportierbar und national variierbar ist der Berlusconismus. Ihn zu verstehen bedeutet nicht nur zu verstehen, was in Italien hoffentlich bald war, sondern auch das, was hierzulande kommen kann und kommen will. Dabei mögen ein paar Bücher hilfreich sein.

Beppe Severgninis Überleben mit Berlusconi ist eine insgesamt brauchbare, wenn auch gelegentlich etwas verspielte Zusammenfassung, unerlässlich als Ausgangspunkt für jede Beschäftigung mit der Polyphonie des Berlusconismus, der Vielfalt seiner Quellen, seiner Ausdrucksweisen und seiner Zielsetzungen. Wenn man sich fragt, wie das übers Land kam, ist Friederike Hausmanns Kleine Geschichte Italiens – Von 1943 bis zur Ära nach Berlusconi ausgesprochen hilfreich. Der Berlusconismus und die neue Republik haben ihre Ursachen noch in der ersten Republik, in den „Geburtsfehlern“ der Nation und in den Konstruktionsfehlern seiner Verwaltung. Paul Ginsborg geht in Berlusconi – Politisches Modell der Zukunft oder italienischer Sonderweg? weit über aktuellen Biografismus und blitzrasche Analogien hinaus. Hier kann man den Aufstieg des Mailänder Bauunternehmers als politisches Lehrstück verstehen – und sich die Frage nach der „Aufhaltsambarkeit“ dieses Aufstiegs stellen sowie jene nach den „vielfältigen Folgen für die Demokratie in der ganzen Welt“ (Ginsborg). Naturgemäß assoziativer und persönlicher, dabei nicht minder aufschlussreich ist Andrea Camilleris Essay Was ist ein Italiener?, den Peter Kammerer mit für uns notwendigen und weiterführenden Kommentaren und Anmerkungen versehen hat. Hier erscheint der „authentische Emporkömmling“ als der große Versucher, der „gewisse Verhaltensweisen ans Licht bringt, die im Italiener zwar vorhanden waren, die aber auf Grund eines Minimums an Respekt für die Regeln des Zusammenlebens bis dato nicht zum Vorschein kamen“. So erscheint dieser mediale Super-Italiener als ein großes Anderes, das gleichsam in verschlüsselter Form die „Erlaubnis“ zur Kriminalität und Korruption des Alltags gibt.

Unangenehme Wahrheiten

Das aufregendste Buch, wenn auch zunächst einmal die etwas schwieriger erscheinende Lektüre ist wohl Giuliana Parottos Silvio Berlusconi – Der doppelte Körper des Politikers, das erhellend und jenseits aller Klischees erklärt, wie der postdemokratische Politiker als Verkörperung und insbesondere in einer sexuellen und gleichzeitig religiösen Metaphorik funktioniert. Spätestens hier wird auch dem Skeptiker klar, dass Berlusconi kein italienisches Phänomen ist, sondern ein Symptom eines politischen und gesellschaftlichen Diskurswechsels.

Für viele Beobachter, sogar in Italien selbst, mehr noch aber auf unserer Seite der Alpen, schien Berlusconi eine vorübergehende Entgleisung, eine absurde Episode in einer an absurden Episoden und bizarren Figuren nicht eben armen politischen Geschichte. Die zähe Dauer dieser Herrschaft und die nachhaltige Spaltung der Gesellschaft in ein Berlusconi-Lager und ein Anti-Berlusconi-Lager, deren Vertreter ganz einfach miteinander nicht mehr sprechen können, überraschte Freund und Feind: Skandale, Verfehlungen, Peinlichkeiten, Sottisen, tausend Dinge, die überall anderswo das politische Aus bedeutet hätten, schienen dem populistischen und, nun ja, charismatischen Politiker nichts anzuhaben. Vielleicht sogar im Gegenteil.

So festigte sich der Eindruck, gegen einen wie Berlusconi könne man letztlich nichts machen. Parlamentarische Kontrolle? Wird durch ein für ihn günstiges Wahlrecht und den Postenschacher und wenn es sein muss auch mit einigermaßen offenem Stimmenkauf unterlaufen. Kritische Öffentlichkeit? Wie soll sie entstehen, wenn einerseits Berlusconi so viele Schlüsselmedien selber gehören und das Niveau überall auf kreischend-hysterische Titten-, Geld- und Skandalshows heruntergefahren ist und den kritischen Medien per Steuer- und Marktregelung die Luft abgedreht werden kann? Eine linke oder wenigstens redlich-demokratische Gegenfigur? Einen „vernünftigen Populisten“ gibt es nicht, sagt Friederike Hausmann, jede Gegenfigur zu Berlusconi hätte nur eines zu bieten gehabt: unangenehme Wahrheiten. Mit jedem Tag der Berlusconi-Herrschaft aber wären diese unangenehmen Wahrheiten unerträglicher geworden. Das System Berlusconi funktionierte also einigermaßen perfekt; er hatte nur drei Dinge wirklich zu fürchten: ein Anschwellen des zivilgesellschaftlichen Widerstands über das Maß, das er in seinen Medien zum Verschwinden bringen konnte; einen Angriff der unabhängigen Justiz auf seine kriminellen Verstrickungen, seine Korruptionsspiele und seine Sex-Skandale; und vor allem hatte er sich selber zu fürchten: Für Silvio B. gibt es an Berlusconi nur einen Skandal, nämlich, dass man sich zwar liften und kosmetisch verjüngen lassen kann, aber immer noch nicht unsterblich wird.

Weg der großen Umwandlung

Berlusconi ist ein Vertreter der postdemokratischen Allianzen. Sein eigenes politisches Ziel ist nicht verborgen: Eine negative „Liberalität“, die die Menschen, die es zu etwas bringen wollen beziehungsweise die es zu etwas gebracht haben, möglichst wenig durch Gesetz, Moral und Kritik behindert. Der Unterschied zwischen Berlusconi und einem FDP-Politiker besteht darin, dass Berlusconi keine „Klasse“ der Besserverdienenden, sondern die verbreitete Sehnsucht nach dem Besserverdienen anspricht: Es ist egal, wo man herkommt – und wo das Geld und die anderen Mittel herkommen – Hauptsache man kommt nach oben.

Als Problem erweist sich bislang die Abschaffung oder wenigstens präsidiale Zähmung der unabhängigen Justiz, die in der Tat in Italien anders funktioniert als etwa in Deutschland, nämlich als eine vollkommen eigenständige politische Kraft. Man mag als kritischer Zeitgenosse Berlusconi endlich den entscheidenden Prozess an den Hals wünschen (und den einen oder anderen mutigen Staatsanwalt bewundern), sich mit der Justiz zu identifizieren, fällt dagegen schwer, und gänzlich unmöglich ist es, in diesem schwerfälligen und widersinnigen Apparat ein Instrument zur Erneuerung der Politik zu sehen.

Der Weg Berlusconis also ist im Großen die Umwandlung einer parlamentarischen und rechtsstaatlich kontrollierten repräsentativen Demokratie in ein populistisches, präsidiales und mediales System der postdemokratischen Herrschaft, und auf diesem Weg hat er einige Stationen der Unumkehrbarkeit passiert. Im Kleinen bedeutet das die Herrschaft des Prinzips „Mein Sach gehört mir“, wie Friederike Hausmann das charakterisiert: Es sollen im Betrieb und in der Firma die großen, durch nichts anderes als durch ihren Erfolg legitimierten „Persönlichkeiten“ bestimmen, und auf sie soll alles ausgerichtet sein – überflüssig zu sagen: Im authentischen Berlusconismus ist diese Rolle nur männlich zu besetzen. Man könnte dies eine Art des neuen Führer-Prinzips nennen, das, zumindest nach außen hin, auf die beiden „endgültigen“ Verfestigungen des Faschismus verzichtet: auf die Etablierung eines Terrorsystems und auf die Abschaffung auch der demokratischen Formalien.

Parteien scheinen in diesem Stadium nur noch kurzfristige Markenbezeichnungen. So entstand der neue Politiker der „personenkultigen“ Postdemokratie aus den Medien heraus. Skandalös im Blick einer traditionellen Vorstellung von Gewaltentrennung und checks and balances erscheint es vor allem, dass Berlusconi zugleich als Unternehmer die wichtigen Privatsender besitzt und als Parteivorsitzender und Ministerpräsident (mindestens) über zwei der mehr oder weniger staatlichen Sender der RAI gebietet. Tatsache ist, dass diese Monopolstellung in einem Land wie Italien, das vom gemeinsamen Fernsehen mehr geprägt ist als von der gemeinsamen Sprache, die Sache für die Opposition und die unabhängige Kritik zwar einigermaßen ausweglos macht, nicht aber die Ursache des Phänomens ist, wie der Fall Guttenberg in Deutschland zeigt: Sosehr sich ein populistischer Politiker seine Medien machen kann, so sehr können sich die Medien auch ihren populistischen Politiker machen.

Harlekin und Heiliger

Im Vakuum, das nach dem Zusammenbruch des Parteiensystems mit seiner absurden Balance der Macht entstand, inszenierte sich Berlusconi als „das Neue“. Bemerkenswerterweise konnte Berlusconi dieses Phantasma des „Neuen“ über Jahrzehnte hin aufrechterhalten, nicht obwohl, sondern gerade weil den meisten seiner Anhänger klar genug ist, dass es genau um das Gegenteil geht, nämlich das alte System (der Korruption) mit neuen Mitteln gegen die radikale Reform der mani pulite und der kritischen Zivilgesellschaft zu erhalten. So konnte Berlusconis Un-Partei zum Sammelbecken für die Konservativen, die Nutznießer, die Aufstrebenden und sogar die Unzufriedenen werden. Und wer es noch deftiger haben wollte, der wählte und unterstützte eben seine Partner, die neuen Faschisten und die neuen Rassisten.

Die Polyvalenz dieses Bündnisses entspricht der Polyvalenz ihrer Zentralfigur. Und damit gelangt man zur tiefenpsychologischen Dimension des Berlusconi-Bildes, das konstruiert erscheint wie eine Mischung aus TV-Star, Harlekin und Heiligem: „Die Ambivalenz des Sakralen findet ihren Widerhall im medialen Körper, der als Symbol des ‚Negativen’ das Vorzeichen wechselt.“ (Giuliana Parotto) Das macht, dass das Kriminelle, das Peinliche, das Obszöne – das Schmutzige gar – diesem politischen Körper nichts anhaben kann, sondern ihn im Gegenteil stärkt. Dieser mediale Politiker ist zugleich „heilig“ und „unrein“. In diesem neuen heilig-schmutzigen, medialen Politiker-Körper steckt eine durchaus „diabolische“ Verführung, wie die Autorin schreibt. Er entzieht sich dem kritischen Diskurs und der Aufklärung, dafür spaltet er die Gesellschaft in zwei Lager – in eine emotional berauschte, dem Argument unzugängliche und offensichtlich für die Ideen von Rechtsstaat und Demokratie verlorene Hälfte und in eine empörte, ohnmächtige und an ihrer eigenen und der Hilflosigkeit des kritischen Wortes krankende Hälfte. Diese psychopolitische Diagnose des Berlusconismus ist furchtbar. Aber ohne sie wird man nichts lernen aus dem Leben, der Erscheinung und der Macht des Silvio B.

Georg Seeßlen

Text erschienen in: Freitag, 10.06.2011

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