Über den sozialdemokratischen »Glauben an den Menschen« und Onkel Bräsigs Konzept der Selbstvernichtung der SPD.

Wo ist denn da noch ein Unterschied?« höre ich die Leute fragen. Früher, ja früher waren Sozialdemokraten noch Sozialdemokraten; Opa wusste da einiges zu erzählen. Dazu eine Anekdote, egal, ob sie aus dem Leben oder aus der Legende gegriffen ist. »Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende«, bestimmt der Zeitungsmacher in John Fords Film »Der Mann, der Liberty Valance erschoss«.
Also: In der Frühzeit der Bundesrepublik trafen sich Konrad Adenauer und Carlo Schmidt zu einem informellen Gespräch, was damals eine große Sache gewesen sein muss. Und am Ende bekannte Adenauer: »Politisch sind wir gar nicht so weit auseinander. Der Unterschied ist nur: Sie glauben an die Menschen. Ich nicht.«

Das ist zugleich hinreichender Grund und Verdammung der deutschen Sozialdemokratie. Nicht dass jeder einzelne Sozialdemokrat »an die Menschen glauben« würde, aber es ist eine vage Verpflichtung. Es ist die innere Legitimation für eine Partei, deren einzige Erfolge in der Nachkriegsgeschichte durch Akte des Selbstverrats ermöglicht wurden. Was den politischen Diskurs anbelangt, ist die SPD die Praxis des eigenen Gegenteils. Die Kraft, die macht, was sie verhindern sollte, und verhindert, was sie machen sollte. Also sehr nützlich für die Stabilität des Ganzen. Im Herzen aber, da glaubt die Sozialdemokratie an die Menschen.

Freilich ist daraus auch eine gewisse Mythologie der Kränkung entstanden. Die Partei macht die Drecksarbeit, und die anderen profitieren davon. Hat nicht der dicke König Kohl 16 Jahre lang kaum etwas anderes gemacht, als die eigene Macht zu festigen und ein bisschen Bimbes in Plastiktüten zu verteilen? Dann haben Schröder und Fischer Reformen angeleiert, dem Volk allerlei zugemutet, die Konzerne gemästet und die Wandlung vom Fürsorge- zum Überwachungsstaat eingeleitet. Und wer erntet die Früchte? Eben. Und an die Menschen, die das mit sich machen lassen und die das machen, an die soll man glauben. Es geht darum, zynisch auf die Wahrheit zu reagieren (Wir sind die Trottel des Systems und fühlen uns meistens gut dabei) und zugleich an die Menschen zu glauben. Das eine geht nicht ohne das andere, und das eine geht nicht mit dem anderen. Das macht krank.

Vielleicht ist der Selbstverrat, diese ständigen Bauchweh-Entscheidungen – wenn man so will: gastritische Politik -, seinerseits ein Mythos. Vielleicht gibt es überhaupt nichts zu verraten. Vielmehr konstruiert sich die jeweilige Klientel durch den Mythos des Verrats eine jeweils »gute alte« SPD, bei der alles besser gewesen sein soll. (Zur heutigen SPD müssen wir schon deswegen halten, weil nicht nur die anderen noch schlimmer sind, sondern auch die SPD von morgen noch schlimmer sein wird als die von heute.)

In Wahrheit war die Sozialdemokratische Partei Zeit ihrer Geschichte das Projekt, Menschen durch eine Form der Selbstvernichtsung, des endlos halb vollzogenen diskursiven und programmatischen Suizids, an die Macht zu bringen.

Ein »echter Sozialdemokrat« ist also entweder a) ein Widerspruch in sich selbst; b) ein Mensch, der in einer besseren Vergangenheit lebt, und das heißt, wie alle solche Nostalgiker in einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat; oder c) jener wohlleibig bärtige Mann, der in der Broschürenhölle zwischen Kaffeeautomat und Telefon des gläsernen SPD-Büros jeder deutschen Kleinstadt sitzt und hofft, nicht gestört zu werden. Im Glauben an die Menschen und überhaupt.

Wenn also der rechte Teil der Mitte dadurch charakterisiert ist, dass man dort nicht an die Menschen glaubt, sondern zum Beispiel an den Markt, an die Dynamik der Gier oder meinethalben an die Regulationskraft von Systemen, vor allem aber jeweils an sich selbst, dann scheint die linke Hälfte mit ihrem Konzept des Glaubens an die Menschen wie geschaffen für das Krisenmanagement. Sowohl bei Helmut Schmidt als auch bei Gerhard Schröder entpuppte sich der Glauben an die Menschen als das perfekte Angebot in Krisensituationen und Gefährdungsszenarien. Bei Sturmflut, Krieg und Bürgerkriegsgefahr nutzt dieser Glaube ungemein, weil es hier nur die kollektive Phantasie von der Rettung des einzelnen gibt.

An die Menschen glaubt man gern, wenn man an sonst nichts anderes mehr glauben kann. An Götter oder Profit kann man sonst immer glauben. Wenn die Gefahr vorüber ist, ist dieser Glaube freilich genau so peinlich wie vorher. Ganz davon abgesehen, dass sich in aller Regel etwa das Versprechen von »schneller und unbürokra­tischer Hilfe« als Auftakt für Behördenwillkür und Korruption erweist und am Ende wie durch ein Wunder die Reichen einmal mehr reicher und die Armen ärmer geworden sind.

Doch der Glaube an die Menschen, selbst wenn er nur eine Art verpflichtender Mythos ist, wird nicht erwidert. Denn die meisten Menschen glauben keineswegs an die Menschen. Sie sind ja nicht blöd. Ein Nachmittag deutsches Fernsehen genügt, um sogar zu erkennen, dass die Kultur, in der wir leben, auf der ständigen Versicherung basiert, dass an den Menschen nicht zu glauben ist.

Aber was bedeutet eigentlich, an den Menschen zu glauben? Offensichtlich erst einmal, dass man auf ein ursprünglich Gutes im Menschen vertraut, sonst müsste man diesen Glauben ja nicht mit solch moralischer Emphase vortragen oder sich wie Adenauer mit staatsphilosophischer Großgeste davon distanzieren. An den Menschen zu glauben, heißt für den Sozialdemokraten, die Menschen für sozialdemokratischer zu halten als sich selbst. Zweitens müsste man dem Menschen die Kraft zutrauen, nach der einen oder anderen Atempause immer wieder Geschichte zu machen, sich die Welt zur eigenen Sache zu machen, durch eine Arbeit, zu der man notfalls gezwungen werden muss. Man glaubt, genauer gesagt, an den arbeitenden Menschen. Und drittens natürlich beinhaltet dieser Glaube einen laizistischen, ja anti-metaphysischen Aspekt: Nicht die Götter noch die Geschichte, sondern das mensch­liche Subjekt ist das Maß, das allerdings durch den Glauben wieder irrationalisiert wird. Also ist der Glaube an den Menschen ein Widerspruch in sich und damit echt sozialdemokratisch. Das immerhin macht die Sache flexibel und den Selbst­verrat zur Praxis.

Die erste Falle des Glaubens an den Menschen ist diese Positionierung. Entweder geht das Subjekt an diesem Glauben zugrunde (wie der klassische sich aufopfernde, unermüdliche und unerschütterliche Sozialdemokrat aus dem Ortsverein der sicherste Kandidat für den Herzinfarkt ist). Oder aber der Mensch muss so gemacht werden, dass man an ihn glau­ben kann (was wahlweise zu einer radikalen Verkennung oder zu einer Art glaubensvollem Stalinismus führt).

Oskar Lafontaine, der zum Selbstverrat (und vielleicht auch zum sicheren Herzinfarkt) nicht bereit war, erscheint daher als »Verräter« in der sozialdemokratischen Legende, die besagt, dass man, um an den Menschen glauben zu können, sich immer den Verhältnissen anpassen muss. Die nächste Falle also: Das sozialdemokratische Herz will an den Menschen glauben, aber auf keinen Fall »populistisch« sein.

Der Glaube an die Menschen ist in mehrerlei Hinsicht ein prekäres politisch-emotionales Zentrum. Er verbindet nämlich nicht nur Subjekt und Objekt dieses Glaubens, sondern trennt es auch. Wer an die Menschen glaubt, erwartet etwas von ihnen, und das Ganze läuft auf eine Art gegenseitiger Erpressung hinaus. Ich für mein Menschen-Teil jedenfalls möchte nicht, dass jemand an mich glaubt. Und schon gar kein Sozialdemokrat!

Wer an den Menschen glaubt, kann zwar sehr beleidigt sein (Ist Ihnen das schon aufgefallen, wie viele SPD-Menschen so erscheinen, als sei das Beleidigtsein ihr Grundzustand?), aber nicht wirklich streiten (Er kann sich selber nicht als »Gegenüber« sehen). Ist der Glaube an die Menschen gestört, so muss der sozial­demokratische Mensch sich selber auf möglichst eindringliche Weise zum Verschwinden bringen. Denn Beleidigtsein bedeutet nicht etwa, nicht genau so weiterzumachen wie immer. Weitergemacht wird ja. Nur eben unter Verhinderung von Bewusst­sein. Der Glaube an den Menschen ist der Ersatz für Bewusstsein, bei seinem Verlust müssen heftige Bewusstseinsattacken abgewehrt werden (oder es wird Zeit für den ersten Herzinfarkt).

Der ideale Sozialdemokrat freilich bringt sich und seine Partei zuvor strategisch zum Verschwinden. Man muss da sein und doch nicht da sein, auf jeden Fall den Glauben an die Men­schen bis zu einem neuerlichen Krisenereignis bewahren. Das Projekt der Selbstvernichtsung war allenfalls unter Rudolf Scharping dermaßen ausgeprägt, wie es sich unter Kurt Beck ankündigt: Da will jemand beim Verschwinden nicht gestört werden.

Der (mehr oder weniger) Liebende und sein Objekt sind sich darin einigermaßen einig. Das erklären die Umfragen sehr eindeutig: Ein Gutteil der Deutschen zieht es vor, diesen Politiker namens Kurt Beck lieber nicht zu kennen. Wer ihn dennoch zur Kenntnis nimmt, findet ihn recht unerträglich. Um also ganz bei sich und damit vielleicht doch auch wieder ein »echter Sozialdemokrat« zu bleiben, muss Beck unsichtbar bleiben und doch irgendwie da sein. Wie aber macht man das?

Es gibt ein berühmtes Beispiel dafür: Ein Kerl namens Zelig, den Woody Allen nicht völlig frei erfunden hat. Dieser Zelig schafft es immer wieder, sich seiner sozialen Umgebung so perfekt anzupassen, dass er wie ein selbstverständliches Element ihres Bildes wirkt. Es gibt für diesen Menschen keine Grenzen, weil er so flüssig ist, dass er jede Form annehmen kann. Er tut das allerdings mit keinem anderen Impuls als dem, dazuzugehören; ansonsten ist er weder subversiv noch gar ein Verschwörer, er verschafft sich nicht einmal nennenswerte Vorteile. Zelig will nur bedingungslos dabei sein. Also ist er überall vorhanden, aber nirgendwo sichtbar.

Kurt Beck will Zelig werden. Gleichsam präsent im Verschwinden. Er meldet sich immer zu Wort, wenn alles gesagt ist, und dann sagt er, was sich von selber sagt. Man hört ihn überall reden, aber nirgendwo einen Diskurs eröffnen. Er drängt in jedes Bild, ohne es nennenswert zu verändern. Bei seinen Fernsehauftritten sieht man ihm an, wie sehr er sich danach sehnt, die Harmonie des Schwach­sinns nicht zu stören – wenn er dennoch nervt, dann wegen dieses verkrampften Bemühens, nicht zu stören. Ein Zwei-Stunden-Desaster zwischen Langeweile und Peinlichkeit beim absoluten Tiefpunkt, nämlich dem eigenen Auftreten zwischen Rate-mal und Trallalla, als »klasse Sendung« zu bemurmeln, ist eben das entscheidende Quäntchen zu viel. Zeligs Geheimnis war die große Selbstverständlichkeit, ihm ging es nicht um Anpassung, sondern um Verschmelzung. Auch Beck ist immer und überall, aber er stört auch immer und überall. Weil er bei allem Chamäleonspiel offen an der SPD-Krankheit leidet. Er will an die Menschen glauben. Die sollen ihn dafür lieben. Tun sie aber nicht.

Niemand mag Onkel Bräsig, aber man gewöhnt sich an ihn. Er ist nicht Teil des Bildes, wie Zelig, sondern ein Fleck darauf, den zu entfernen sich nicht lohnt. Kurt Beck ist der echteste Sozialdemokrat, den es derzeit in Deutschland gibt.

Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in jungle world Nr. 18, 05/2007