Zum Großen und Ganzen des Diskurses über die Zumutbarkeiten des jeweils neuesten Kapitalismus für den Menschen gehört auch die Verwunderung darüber, dass das „Empört Euch“ bei den Bürgern in der ökonomischen und sozialen Mitte viel mehr Gehör zu finden scheint als bei den viel direkteren Verlierern von Neoliberalismus und Sozialabbau. Fast schwang in dieser Beobachtung, dass Revolten eher moralisch als sozial bedingt scheinen, so etwas wie ein Bedauern mit: Als fehle dem Aufstand der „Wutbürger“ jene letzte „Authentizität“, die nur durch echtes Elend oder wenigstens konkret biographisches Interesse erzeugt wird. Das „Prekariat“ als letzte Zerfallserscheinung einer Gesellschaft, die sich zu Tode flexibilisiert, meldete sich gelegentlich zu Wort, und offenbarte vor allem seine Heteronomie. Die „neue Unterschicht“ dagegen blieb stumm. Saßen wohl vor ihren Fernsehern, holten sich Dick- und Doofmacher aus den Discountläden, haderten mit dem Schicksal, ohne eigene Schuld, ohne politische Kraft darin zu entdecken, und die Kids überlegten nur, ob sie in die kriminelle oder in die Nazi-Gang gingen, im Gameboy verschwinden, sich ins Koma saufen oder als Ghettokid neue Ghettokids machen sollten, oder? Der unsichtbare Bürgerkrieg erschöpft sich in der Organisation gewöhnlicher Kriminalität, in kulturellem Abscheu und in No-Go-Areas, die von neoliberalen Verwaltungen gern akzeptiert werden, weil man dabei an Polizei, Schulen, Kindergärten etc. sparen kann. Die Aufgabe der neuen Unterschicht ist es, im allgemeinen unsichtbar zu bleiben und im besonderen Angst und Abscheu bei den „guten Bürgern“ zu erzeugen: So könnt ihr auch enden, wenn ihr euch nicht anstrengt!

Nun also „explodiert“ auch in Europa einmal das Ghetto. Doch statt eines Aufstandes sehen wir ein sonderbares Durcheinander von Hooliganismus, Terror, Kriminalität, eine hedonistische Masse wendet sich blitzrasch vom ersten Anlass der Empörung, dem Übergriff der Polizei, ab und einer Destruktions- und Plünderorgie zu, eine ziemlich unfassbare Gleichgültigkeit gegenüber dem Mitmenschen und seinen Lebensgrundlagen inbegriffen. Diese „Revolte“, so scheint es, will nichts ändern, drückt nur aus, was ohnehin, in weniger sichtbarem Ausmaß, Tag für Tag im Ghetto passiert, zerstört vor allem die eigene Hood, provoziert mit dumpfer Gewalt eine auch nicht weniger dumpfe Gegengewalt und macht, mit einem Wort, alles nur noch schlimmer. Nein, diese Art der Erhebung ist kein guter Aufstand. Sie ist ein Schock, und sie ist, was zu erwarten war.

Ein guter Aufstand hat ein Ziel und einen Diskurs. Ein schlechter Aufstand bricht aus oder entzündet sich. Ein guter Aufstand benennt den Gegner und sucht nach Allianzen. Ein schlechter Aufstand kommt übers „Wir zeigen es denen“ nicht hinaus und schreckt in seiner blinden Zerstörungswut noch die letzten aller möglichen Verbündeten nachhaltig ab. Ein guter Aufstand setzt Zeichen und formt Begriffe. Ein schlechter Aufstand bleibt nur als Symptom haften, und spricht von unkurierbarer Krankheit. Ein guter Aufstand formt in seinem Protagonisten Selbstbewusstsein, ein schlechter Aufstand erzeugt Rausch und Katzenjammer. Die Protagonisten des guten Aufstands sind moralische Vorbilder, die Protagonisten des schlechten Aufstands Alphatiere des Mobs. Der gute Aufstand will etwas erhalten, sei es ein Bauwerk, sei es ein Stück Natur, sei es eine Form von Gerechtigkeit. Der schlechte Aufstand macht noch das wenige kaputt, was es nicht schon vorher war. Ein guter Aufstand hat Adressaten, ein schlechter Aufstand hat Opfer. Ein guter Aufstand hat eine Theorie, oder wenigstens eine Erzählung. Ein schlechter Aufstand produziert Effekte und Reflexe. Im guten Aufstand formt sich eine innere Demokratie, im schlechten Aufstand radikalisiert sich das Recht des Stärkeren und des Skrupelloseren. In einem guten Aufstand geht es um Ideen und um Ideale, in einem schlechten Aufstand geht es um Randale, Flachbildfernseher und Schnaps. Der gute Aufstand will Gehör finden, der schlechte Aufstand will übertönen; der gute Aufstand will Erkenntnis vermitteln, der schlechte Aufstand Angst und Schrecken verbreiten; der gute Aufstand schärft Diskurs und Profil im Verlauf seiner Bewegung, der schlechte Aufstand beginnt amorph und wird immer noch chaotischer. Im guten Aufstand organisiert man sich selbst, im schlechten Aufstand berauscht die Desorganisation. Der gute Aufstand hält Stand, der schlechte Aufstand bricht unter Gegengewalt sogleich wieder zusammen. Im guten Aufstand gibt es Märtyrer, im schlechten Aufstand gibt es kriminelle und wahnsinnige Taten, die endgültig jede „anarchistische Romantik“ zerstören.

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Es ist ein zweifellos terroristischer Selbstgenuss:

für ein paar Nächte Angst und Schrecken verbreitet zu haben

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So einfach ist das? Da ist der heroische, solidarische und kluge Aufstand der mittelständischen Jugend in der Arabellion, in Israel, und, in kleinerem Maßstab und glücklicherweise ohne allzu viel Opfer und Heldentum auch hierzulande. Und da ist der feige, materialistische und dumpfe Aufstand der Verwahrlosten. Da ist der gerechte Kampf einer Jugend, der man die Zukunft verweigern will, und da ist die sinnlose Brutalität von Kids, die nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen haben als den schnellen Kick. Gewiss, so viel werden noch die empörtesten Kommentatoren zugeben müssen: Die tieferen Ursachen für die „guten“ wie für die „schlimmen“ Aufstände (und wenn die Grenzen einmal nicht mehr so eindeutig sind, wissen wir, wer die Definitionsmacht hat, sie zu ziehen), sind miteinander verwoben. Wie die alten Diktaturen so übertreibt es auch der neue Kapitalismus bei der Erzeugung von „überflüssigen Menschen“, Menschen, die keine Zukunft aber sehr viel Energie haben. Und so wie der bürgerliche Aufstand vor allem seine Bürgerlichkeit ausdrückt, drückt der Unterschicht-Riot seine Deplaziertheit aus. Dass man den eigenen Lebensort zerstört, so wie der Bürger und die Bürgerin einen Lebensort gegen Bagger und Profit schützen wollen, ist nur konsequent, denn so wenig man Zukunft hat, so wenig hat man hier „Heimat“. Die Stadt ist längst keine soziale Struktur mehr, sondern ein flexibles Netz für die Immobilienspekulation und die Immobilienpolitik: Verwahrlosung und Gentrifizierung von Quartieren folgen in ökonomischen Zyklen aufeinander, und das Herunterkommen von Wohngegenden und Straßen sowie ihren Bewohnern ist gesellschaftlich so gewollt wie der Mangel an und in Schulen, Infrastruktur, Polizei und Sozialarbeit. Jeder, der gute wie der schlechte Aufruhr, ist eine Reaktion auf Unerträgliches, auf Erfahrungen von Ohnmacht, Demütigung und Ignoranz. Und die Protagonisten der Revolte setzen ein, was sie haben, und drücken aus, was sie sind. Für die Gegenseite indes, hier ein Diktator, dort eine Partei, hier ein Wirtschaften und dort eine urbane Ordnung, und für ihre Propagandisten ist jeder Aufstand ein schlechter Aufstand. Ihre Propaganda besteht darin, das Bild des schlechten Aufstands zu erzeugen. Und der schlechte Aufstand wird Teil der Propaganda.

Die moralische Empörung des bürgerlichen Aufstandes und die Energie der sozialen Revolte sind erst gemeinsam wirklich gefährlich. Doch so weit entfernt voneinander wie derzeit waren sie wohl noch nie. Nicht zuletzt, weil sich ein Bild zu festigen beginnt: Die Unterschicht des Neoliberalismus ist monströs, und sie hat offenbar kaum ein anderes „Klassenbewusstsein“ als den Genuss dieser Monströsität. Für den konservativen Mainstream des europäischen Bürgertums ist die neue Unterschicht unerträglich, weil es sich in ihren Augen nur um „Schmarotzer“ handelt, ein „Anspruchsdenken“ ohne „Leistungsbereitschaft“, eine Unzufriedenheit, die nur wächst, wenn man sie „füttert“, und um das alles herum, das vielleicht ist das neue der Unterschicht im Neoliberalismus, eine ganze eigene Konsum-Kultur: Fernsehprogramme von erlesen schlechtem Geschmack, Überfluss von Nippes aus dem 1-Euro-Laden, Produktlinien der Ghetto-Textilien, das obligatorische Kapuzen-Outfit der Kids, die nur respektiert werden, wenn sie „böse“ sind, und das rülpsende Massenentertainment der Eltern, das Mal-Rat-Herumhängen, spezifische Schnapssorten, eine eigene Sprechweise findet seine mediale Reflexion, sogar so etwas wie einen Unterschicht-Tourismus gibt es. Wenn man alle Kulturwaren für die neue Unterschicht zusammen nimmt, erkennt man eine doppelte Absicht: Ein ökonomisches Segment, das dem Staat hilft, an Sozialleistungen zu sparen (diese neue Unterschicht lebt nicht im Mangel sondern in einem giftigen Überfluss) und das den entsprechenden Konzernen enormen Profit abwirft einerseits, und die Erzeugung eben jener Dumpfheit und Blindheit, die man dann  als Argument gegen das Verlangen einsetzt, aus diesem Ghetto heraus zu kommen. Ist es nicht unerträglich, jemanden nicht aus Hunger, sondern wegen ein paar Markenartikeln aus der Fernsehwerbung rauben, plündern und sogar töten zu sehen, der vielleicht gerade eine Arbeit ausgeschlagen hat, weil er für die paar Kröten keinen Finger krumm machen will? Der Unterschichtler scheint sich dem Ethos des Kapitalismus so radikal zu verweigern wie er sich seinen Versprechungen und Illusionen unterwirft. Ist aber seine Rücksichtslosigkeit beim Haben-Wollen vom Kuchenstück nicht die direkte Spiegelung der Rücksichtslosigkeit des Bankers? Wir wissen jedenfalls: Der moralische Bürger in der Mitte ist von beidem gleich abgestoßen.

Aber noch unerträglicher als für das konservative Bürgertum ist die neue Unterschicht für die kritisch-dissidenten Teile des Bürgertums, die „sozialen Bewegungen“ allzumal. So sind die allgemeine Lähmung und die erruptiven Riots der Unterschicht so wenig anschlussfähig wie diese Unterschicht-Kultur, die sich jedem Faschismus, jeder Pogromstimmung und dann gleich wieder der stumpfesten Regression hingeben lässt, weil sie offensichtlich überdies vollkommen den Werten verfallen sind, deren destruktive Wirkung man gerade bekämpft: Konsumismus, bedingungsloser Materialismus, Oberflächlichkeit, Mangel an Solidarität und Verantwortung, brutale Konkurrenz, darunter all die vor-modernen Plagen Sexismus, Rassismus…  Die Unterschicht im Neoliberalismus ist, bevor man sie als Opfer sieht, in ihrer medialen und öffentlichen Präsenz vor allem Karikatur des Systems. Im schlechten Aufstand plündern die Kids die Läden mit den Markenklamotten, denen der gute Aufstand den moralisch-ästhetischen Kampf angesagt hat. Nichts muss der bürgerliche zivile Ungehorsam daher so fürchten als von Elementen solchen schlechten Aufstands infiziert zu werden. Das „Gute“ am schlechten Aufstand ist es, dass er moralische Geste und soziale Energie unwiderruflich zu spalten verspricht.

Nicht minder vorhersehbar sind die Reaktionen in der Mitte. Die Rechte, sie hat schon fleißig begonnen, greift verlässlich zu den bekannten Mitteln. Cameron ruft Nachbarn auf, andere anzuzeigen, wenn sie bei denen neue elektronische Geräte sehen. Dem Vater wird die Wohnung gekündigt, weil sein Sohn sich am Riot beteiligt hat. In der moralischen Empörung der Mainstream-Gesellschaft erkennt der Staat die Chance, schon wieder ein paar Elemente des Rechtsstaates über Bord zu werfen. Schon kursieren in England Internet-Petitionen, in denen Randalierern das Recht auf Sozialhilfe abgesprochen wird, und dem Staat wirft man allenfalls vor, zu wenig Polizisten zu bezahlen. Kurzum: Es wird so etwas wie ein „Bürgerkrieg gegen den Terror“ ausgerufen, und wie im so grandios gescheiterten Krieg gegen den Terror ist auch darin nur eines sicher: Die Produktion neuer Terroristen. Hätten die „Randalierer“ ein ähnliches Ziel wie die Terroristen, die wir als kalte Täter kennen, so hätten sie auch dieses erreicht: Das Sichtbarmachen des Hasses in der Gesellschaft, das Sichtbarmachen des Unterschiedes. Die Stärkung der „Zellen“ bzw. der Gangs. Es ist ein zweifellos terroristischer Selbstgenuss: Der Erfolg der Randale, neben ein paar wahrscheinlich am Ende eher bescheidenen Beutestücken, ist das erhebende Gefühl, für ein paar Nächte Angst und Schrecken verbreitet zu haben, für einmal sichtbar geworden zu sein, und womöglich bleibt man es im Bürgerkrieg gegen den Unterschicht-Terror sogar für eine Weile.

Aber die Reaktion des liberalen Bürgertums ist nicht minder vorhersehbar. Was sind das nur für schreckliche Menschen, die so etwas tun?, fragen die Konservativen, und die Liberalen fragen zurück: Was ist das nur für eine Gesellschaft, die solche schrecklichen Menschen hervorbringt? Und während die Reaktionäre in ihrem Bürgerkrieg gegen den Terror vergeblich versuchen werden, die No-Go-Aeras strukturell zu ummauern, „Anführer“ zu isolieren, Exempel zu statuieren, die Gefängnisse zu füllen, so werden die Sozialliberalen ebenso vergeblich versuchen, pädagogisch-sozialfürsorgliche Inseln im Niemandsland zu errichten, Verständnis statt Gewalt anzubieten, Bildung und Arbeit statt Polizei und Gefängnis zu verlangen, eine weniger brutale Gesellschaft fordern, um weniger brutale Menschen zu erzeugen. Eben diese beiden Reaktionen werden wiederum die heillose Spaltung des Bürgertums im Neoliberalismus aufzeigen: Reform des Sozialstaats oder Bürgerkrieg gegen die überflüssigen Verlierer. Der schlechte Aufstand ändert die Verhältnisse nicht; er zeigt, wie sie sind. Wer will das schon sehen?

 © Georg Seeßlen 

Bilder: 1. Mai Berlin, CC BY-ND  gregorfischer.photography