Philipp Röslers Nachtgebet

 Thatchers Erben wollen den Staat ohne Gesellschaft

„There is no such thing as society“. Margaret Thatcher wird gern mit dem Satz zitiert, so etwas wie eine Gesellschaft gebe es gar nicht, sondern es gebe nur Individuen, deren Familien und Gruppen, die sich um Interessen bildeten (vermutlich um sich mit schwindendem Interesse wieder aufzulösen). Der Satz hat nachhaltig gewirkt, egal ob es ein authentischer Maggie Thatcher-Satz war oder aus ihrer Entourage stammte. Denn Politik gemacht hat sie auf jeden Fall eben so als gebe es keine Gesellschaft, und als sie einst auf den Tisch schlug und forderte „I want my money back“, da war es eben „ihr“ Geld, und nicht das Geld einer britischen Gesellschaft, die es in ihrem sozialen Zerfall verdammt gut gebrauchen hätte können.

Maggie Thatchers Nachfolger hüben wie drüben hüteten sich, den „Es gibt keine Gesellschaft“-Satz so schneidig zu wiederholen, der wie der böse Kern von Neoliberalismus, Sozialabbau und Entsolidarisierung wirken mochte. Niemand war so ehrlich wie Frau Thatcher. Plötzlich aber taucht dieser Satz an allen Ecken und Enden wieder auf, und Dr. Philipp Rösler – Bundesvorsitzender der FDP und Bundesminister für Wirtschaft und Technologie – lässt ihn bei jeder Gelegenheit durchschimmern und macht den Eindruck, er würde ihn jeden Abend vor dem Schlafengehen herbeten: Es gibt keine Gesellschaft, es gibt keine Gesellschaft, es gibt… Der Satz „Das regelt der Markt“ ist auch nichts anderes als eine verkleidete Variante des Satzes „Es gibt keine Gesellschaft“. Die britischen Konservativen schwafeln derzeit lieber von einer „big society“, aber sie meinen im Grunde auch nur eine sanftere Form der Abschaffung der Gesellschaft, nämlich in „verbundene Individuen“. Die Praxis der „big society“ ist eine weitere Kürzung der Sozialleistungen und eine weitere Entpflichtung der Ökonomie von Rücksichten auf die arbeitenden Menschen. Die taktische Bedeutung der Aussage, es gebe keine Gesellschaft, ist fast idiotisch klar: Wenn es keine Gesellschaft gibt, gibt es auch keine commons, nichts, was uns allen gehört, nichts, was uns alle verpflichtet, nicht einmal etwas, was uns alles angeht (jedenfalls jenseits des Marktgeschehens). Denn Gesellschaft stände der radikalen Privatisierung der Welt im Weg. Ohne Gesellschaft kein soziales Verhalten und keine sozialen Verpflichtungen.

In drastischerem Kontext taucht der Satz wieder in der Fiktion auf. In Petros Markaris’ Kriminalroman zur Krise in Griechenland, „Faule Kredite“, kommt ein, allerdings holländischer Bankmensch vor, der exakt diese Vorstellung, dass es eine Gesellschaft in Wahrheit nicht gebe, vehement vertritt (und dafür prompt umgebracht wird). Er geht, wir vermuten: wie Maggie Thatcher, davon aus, dass Gesellschaft eigentlich ein kommunistisches Hirngespinst ist: „Europa hat die ‚Gesellschaft’ erst nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt – und das auch nur unter dem Eindruck des Kommunismus. Da die Ostblockstaaten ständig über die ‚Gesellschaft’ geredet haben, hat auch der Westen den Begriff übernommen, um die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern“. Und: „Es gibt keine Gesellschaften, Herr Galanopoulos, es gibt nur einzelne Gruppierungen: Unternehmer, die ihre Interessen verteidigen, und Arbeitnehmer, die – vertreten durch Gewerkschaften und andere Organisationen – genau das Gleiche tun. Es gibt nur Interessengruppen, der Begriff Gesellschaft ist eine Erfindung“. Nun, wie gesagt, Herr De Moor wurde in diesem Roman umgebracht, womöglich nicht allein wegen seiner Aussage, sondern auch wegen der arroganten Selbstgefälligkeit, die er dabei an den Tag legte.

Aber was war denn, Herr De Moor, vor der Übernahme der Gesellschaft von den Kommunisten in die mehr oder weniger sozialdemokratisierten Länder vor der neoliberalen Wende? Da war „das Volk“, da war „die Nation“, da war Religion und Kultur, und da war auch „die Rasse“. Der Abschied von der Gesellschaft als Zusammenhalt ist offensichtlich begleitet von der Restauration dieser anderen, unsympathischeren aber vielleicht marktkonformeren Vorstellungen von Kollektiven; während wir also immer weniger Gesellschaft sind, dürfen wir uns dafür immer mehr Volkstümlichkeit, Nationalismus, kulturelle Arroganz und, wenn auch in kontrolliertem Maße, Rassismus leisten. Die Antwort auf den Verlust des Sozialen ist die Nationalfahne am Auto; die Antwort auf das Verschwinden von Gesellschaft ist der lautstarke Genuss völkischen Beisammenseins.

Wollen die Radikalen des Neoliberalismus nun eigentlich die Gesellschaft, als Praxis, als Vorstellung, als Wert abschaffen, damit sie sich in Ruhe ihren Interessen widmen können? Oder sind sie nur einfach zynisch und offen genug, ihren Opfern auch noch die letzte Hoffnung auf eine Gemeinschaft zu nehmen, in der es neben der Freiheit des einzelnen auch noch eine Verpflichtung auf Gerechtigkeit und eine Stimmung der Solidarität geben könnte? Für den Rest gibt es Oktoberfeste, Weltmeisterschaften und royal scandals. Nutzen sie nur das Verschwinden des Gesellschaftlichen oder haben sie es sich zum Programm erhoben?

Gesellschaft, so will es scheinen, ist zunächst einmal das, was zwischen den beiden Polen des Liberalismus, dem politischen und dem ökonomischen, zu vermitteln hätte, das menschliche Fleisch zwischen zwei mehr oder weniger rationalistischen Konstruktionen. Von links her wäre also die Gesellschaft das, was die Menschen gegen die Zumutungen der Ökonomie und ihrer Herrscher bewahren könnte, von rechts dagegen jenes, was die Ökonomie und ihren Genuss (einschließlich Sex & Drugs & Rock’n’Roll) gegen die Zumutungen gegen gängelnde Politik (einschließlich moralischer Zensur) schützt. Es gibt die Gesellschaft der Arbeitenden und die Gesellschaft der Konsumierenden, danach vielleicht (wenigstens als Gespenst) eine Gesellschaft im Umbruch oder eine Spaßgesellschaft.

Ausgehandelt muss demnach werden, wie viel Gesellschaft der jeweilige Souverän zulässt und wie viel Gesellschaft seine „Untertanen“ sich erkämpfen.

Die Gesellschaft, so viel steht fest, ist nichts Gegebenes. Bei Georg Simmel immerhin kann man nachlesen, dass es keinen Begriff der Gesellschaft vor ihrer Geschichte gibt. Alles was Gesellschaft ausmacht, ist geworden und kann auch wieder anders werden.  Aber kann es deswegen ein menschliches Leben ohne Gesellschaft geben? „Gesellschaften sind nicht einheitlich. Sie sind keine sozialen Systeme (ob geschlossen oder offen); und sie sind keine Gesamtheiten. Eine in einem geographischen oder sozialen Raum völlig für sich stehende, nach außen hin abgeschlossene Gesellschaft wird sich nicht finden lassen. Und weil es kein System, keine Gesamtheit gibt, kann es auch keine ‚Subsysteme’, ‚Dimensionen’ oder ‚Ebenen’ einer solchen Gesamtheit geben. Weil es kein Ganzes gibt, können soziale Beziehungen nicht ‚letzten Endes’ oder in ‚letzter Instanz’ auf irgendeine systemische Eigenart, ein Merkmal dieses nicht existenten Ganzen reduziert werden. Weil es eine sich begrenzende Gesamtheit nicht gibt, werden die Einzelnen in ihrem Verhalten nicht von der ‚Sozialstruktur als Ganzer’ bestimmt; zwischen ‚sozialem Handeln’ und ‚sozialer Struktur’ zu unterscheiden, macht deshalb wenig Sinn.“ So heißt es in Michael Manns dreibändiger „Geschichte der Macht“.

Gesellschaft, so scheint es, verschwimmt um so mehr, je fester man sie in den Blick zu nehmen versucht. Sie ist längst zu einem Mythos geworden, der eher aus Gewohnheit denn mit kritischem Bewusstsein zitiert wird. Der hässliche Satz muss ernst genommen werden; es nutzt nichts, empört zu reagieren, dass einem etwas genommen werden soll, von dem man nicht wirklich weiß, was es ist. Wenn also Gesellschaft gar kein System, nicht einmal ein offenes System ist, sondern nur eine Vielzahl miteinander korrespondierender Ereignisse, wenn man Gesellschaft nie „hat“, sondern sie allenfalls geschieht, wäre es dann nicht an der Zeit, Maggie Thatcher und dem seligen Herrn De Moor recht zu geben und sich von einer Illusion befreien? Lockt nicht die große Freiheit jenseits der Vorstellung von Gesellschaft?

Jene Gesellschaft, die zugleich zwischen den Machtzentren der Politik und der Ökonomie vermittelt und ihnen den Sinn geben sollte, war immer zugleich ein Gefängnis (und war nicht „die Gesellschaft“ Schuld an Serienkillern, Sexualneurosen und überhöhten Bierpreisen?) und eine Verpflichtung. Denn für wen sollte man noch Politik machen, wenn nicht für eine Gesellschaft, für eine Hoffnung auf Gemeinschaft? Für sich selbst? Oder für die eigene Interessengruppe? Für geheime oder offene Auftraggeber? Und für wen könnte man produzieren, handeln und spekulieren, wenn nicht für die Gesellschaft? Und warum sollten sich Regierung und Ökonomie gegenseitig kontrollieren, statt sich einer fundamentalen Komplizenschaft zu ergeben, wenn es keine Gesellschaft gibt, in deren Auftrag und für deren Wohl sie es tun? Es gibt keine Gesellschaft, das heißt auch: Es gibt keine Demokratie. Das heißt auch: Es gibt keine Moral.

Ohne Gesellschaft also hätten wir nur unentwegt „atomisierte“ Einzelne und Gruppen, die sich in einem Konkurrenzkampf und einer Komplizenschaft zwischen Staat und Ökonomie den vorteilhaftesten Platz suchen würden. Die Gesellschaft – oder was immer man sich unter einer Beziehung von vielen Menschen vorstellen mag, die eben nicht ausschließlich aus Macht und Profit besteht – ist demnach vom Rang eines Grundes – wir machen doch alles nur für euch, durften lange Zeit Staat und Ökonomie sagen, wir tun alles, damit es euch besser geht, und weil es eben nicht jedem Einzelnen besser gehen kann, und schon gar nicht allen Einzelnen, meinen wir ein ideales Kollektiv, dem wir den Namen „Gesellschaft“ gegeben haben – in den Rang eines Hindernisses und schließlich in den Rang eines Opfers geraten: Gesellschaft hält nur den Fortschritt auf. Das Nicht-System Gesellschaft muss weichen, wenn sich das Nicht-System Finanzmarkt voll entwickeln soll.

Gesellschaft, darin wenigstens sind sich neoliberale Ideologie und kritische Wissenschaft einig, ist keine trostreiche, irgendwie natürliche Einrichtung des zivilisierten Menschen, in die er sich zurückziehen könnte, wenn es Politik und Ökonomie gar zu bunt treiben, genau so wenig wie Gesellschaft eine Garantie für moralische Standards, für Kräfte des Ausgleichs und der Selbstheilung ist. Und Gesellschaft ist keine Ausrede, kein Sündenbock und keine Spielwiese. Gesellschaft ist kein Medium, kein Resonanzraum, kein historisches Kontinuum. Gesellschaft ist, was alle, die vielen Ichs, das Wir und das Man, wollen können und können wollen, das es ist.

Anders gesagt: Die Antwort auf das Dogma des Neoliberalismus „Es gibt keine Gesellschaft“ ist eine soziale Neuerfindung.

Wenn also Gesellschaft nur ein Euphemismus für Vernetzungen der Macht ist, der den Verlierern suggeriert, sie seien trotz allem Teil von „irgend etwas“, so steht dem Satz „Es gibt keine Gesellschaft“ ein anderer gegenüber: „Es gibt eine Vorstellung von Gesellschaft“, den wir möglicherweise noch einmal reduzieren können: „Es gibt eine Hoffnung auf Gesellschaft“.  Gesellschaft ist nichts was ist, und nichts was wir haben, Gesellschaft ist, was wir denken, sprechen, bilden und tun. Und was wir träumen.

Georg Seeßlen, z. T. in taz 10.10.2012