Auftritt der Hofnarren

Kritik ist aus der Mode gekommen. TV-gängige Politikertalks oder Shitstorms können sie nicht ersetzen

The Critic, 1817 Buchillustration von Allen Robert Branston

Wir wollen einen kritischen Artikel von Ihnen haben, sagte der Redakteur. Dann gab er ihn mir zurück: Aber doch nicht sooo kritisch! Lieber eine Kritik, die die Leute mögen: „Wir müssen umdenken!, das liest man gern. Aber wer oder was uns daran hindert – ach, das ist gleich politisch einseitig. Man darf die Leute doch nicht verschrecken.“ Kritik ist eine Frage des Maßes, und offenbar haben verschiedene Menschen ziemlich verschiedene Vorstellungen davon, was das richtige Maß von Kritik ist.

Inzwischen ist der Artikel erschienen. Und es erhebt sich Kritik. Nicht mehr von der einen Seite, der der Autorität, sondern vielstimmig, teilweise anonym oder maskiert, im Internet, man nennt das heute so drastisch wie oft treffend „Shitstorm“. Einen Shitstorm erntet in der Regel, wer die festen Überzeugungen ­einer Szene oder eines Milieus angreift: Red Bull kein großartiges Lebensgefühl, sondern ein gewaltiger Konsumschwindel! Steve Jobs kein Heiliger des elektronischen Zeitalters! Lady Gaga völlig falsch interpretiert! Das bringt die Fans in Rage. So eine Art von Kritik, zu der niemand stehen muss, gegen die man sich nicht wehren kann, so eine Kritik kann ich nicht vertragen. Und ich nehme mir vor, solche Kritik (an der Kritik) nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Aber ich weiß schon jetzt, dass ich es auf Dauer nicht durchhalten werde.

Für Klappentexte eignen sich nur: „Super!“, „Meisterwerk!“, „Ganz großes Kino!“

Auch ein Firmenvertreter meldet sich zu Wort. Wer ich denn sei, diese Kritik zu veröffentlichen, was ich mir einbilde, wer mir das Recht gebe. Und natürlich beweist der Kritisierte, dass der Kritiker nicht die geringste Ahnung hat, dass die Kritik unfair, persönlich und überhaupt „daneben“ sei. In der Kulturszene bedeutet Kritik eben nicht mehr allein intellektuelle Auseinandersetzung, sondern bestimmt mit über den Marktwert eines Produktes oder eines Produzenten. Da positive Kritiken, also gute Beurteilungen, immer stärker bei Vermarktungsstrategien von Verlagen, Studios, Labels oder Sender eingesetzt werden, sind ­negative Kritiken geschäftsschädigend. Für Anzeige und Klappentext eignen sich nur Kritiken wie „super“, „Meisterwerk“, „ganz großes Kino“. Der Kritiker, höhnt der Kritisierte, sei in Wahrheit ja nur neidisch. Einer, der „niedermachen“ müsse, was ihm aus Gründen von Talent und Charakter verwehrt sei.

Nein, Kritiker ist kein leichter Beruf, eine Leidenschaft ohne Schmerz ist das Kritisieren nicht. Bei alldem kommt es nicht nur darauf an, wie einzelne Menschen mit Kritik umgehen, sondern wie es eine Gesellschaft tut. Wenn sie fehlt, die Kritik, dann stimmt etwas in einer Demokratie nicht. Kritik in der Demokratie, heißt es da schnell, sei eigentlich schon Kritik an der Demokratie. So verbietet man sich „radikale“ Kritik, also eine Kritik, die an die Wurzeln geht. Dafür erlaubt man sich immer mehr Oberflächenkritik, am liebsten gleich als Stilkritik. Wir kritisieren nicht mehr die verkorkste Politik eines Regierenden, sondern seinen verkorksten Fernsehauftritt. Wie hat er sich bei Anne Will oder Frank Plasberg inszeniert?

Jede Kritik ist eine Zumutung – man muss sie widerlegen oder sich selbst ändern

Alles, was politische, ökonomische, kulturelle und schließlich ganz persönliche Macht anstrebt, kann Kritik nicht ausstehen. Kritik kann in der Tat nicht bloß anstrengen, sondern auch verletzen. Wer kritisiert wird, fühlt sich gekränkt, egal welche soziale Maske er aufsetzt. Und jemand, der von sich selbst behauptet, er könne gut mit Kritik umgehen, sagt nie die volle Wahrheit. Denn jede Kritik ist eine Zumutung. Man muss sie entweder widerlegen oder man muss sich ändern. Das Verhalten, das Denken, das Wahrnehmen.

Es ist ein ausgesprochen natürliches Verhalten, möglichst wenig Kritik an sich heranzulassen. Man kann sie ignorieren, man kann sie sich verbitten, durch Tausend Mittel der kleinen, alltäglichen Korruption vom Halse halten. Umschmeichelte Menschen vergessen gern einmal die Kritik, von gut bezahlten ganz abge­sehen. Man kann auch Systeme entwickeln, die Kritik zu unterbinden, so etwas wie Zensur. Man kann für Ablenkung sorgen. Dafür, dass alles so lustig, bunt und spannend ist, dass man nicht mehr auf dumme, also kritische Gedanken kommt.

Es steht nicht gut um eine Kultur der Kritik in unserer Gesellschaft. Die Ökonomisierung und Privatisierung macht vor keinem Segment der Kultur halt. Kritik muss „verkauft“ werden. Die Medien, in denen Kritik noch geschehen kann, von der Literatur- über die Filmkritik bis hin zur Gesellschaftskritik, befinden sich in immer weniger Händen und werden von immer weniger Firmen und anderen Instanzen kontrolliert. Weltumspannende Medienkonzerne von Murdoch bis Bertelsmann bestimmen, ­welche Zeitungen gelesen, welche Sendungen gesehen, welche Nachrichten verbreitet, welche Bücher geschrieben, welche Filme gemacht werden. Alternative, unabhängige und eben kritische Medien werden vom Markt gedrängt. Das große Sterben der ­Zeitungen, die einst das maßgebliche Medium für Kritik waren, hat sicher viele Ursachen. Eine davon ist gewiss, dass sie kein Forum mehr sein können für eine Kritik von Rang.

Kinder lernen schon in der Schule, sich gegen Kritik zu immunisieren

Auch die Politik unterläuft viele Formen der klassischen Kritik, indem sie sich mit der Unterhaltung und ihren Medien gemein macht. Wozu sich mit Kritik auseinandersetzen, wenn man doch in einer Talkshow auftreten, bunte Plakate drucken und wohl­klingende Nullsätze auswendig lernen kann? Wären Politiker­reden oder Parlamentsdebatten Formen der angewandten Kritik, so hätten wir hier wohl wenig zu lernen. Und eine politische Talkshow, sei es die kultiviertere bei Jauch oder die derbere bei Raab, vermag vor allem zu zeigen, gegen wie viele Regeln einer streitbaren, aber kultivierten Kritik man in welch kurzer Zeit ver­stoßen kann und dafür mit Studioapplaus bedacht wird.

Kinder lernen schon in der Schule, der Kritik eher aus dem Weg zu gehen, sich gegen die Begegnung mit dem Rotstift zu immunisieren. Nicht alle lernen, wie man so etwas macht: kritisieren mit Maß, mit Bewusstsein, mit konstruktiver Solidarität. Die Unfähigkeit zu Kritik und Selbstkritik zieht sich in die Universitäten weiter (Wie viel eigenständiges Denken steckt in einer Doktorarbeit?) und endet schließlich im öffentlichen Schauspiel unserer Intellektuellen: Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht? Die „Stars“ der Kritik derzeit scheinen einen Krawallfeuilletonismus zu pflegen und, wie nur zum Beispiel Henryk M. Broder, stets zur Stelle zu sein, wo Gelegenheit ist, einander zu beleidigen oder umgekehrt tief belei­digt zu sein. Was nutzt eine Kritik, die in Wahrheit nur dem Revierkampf von Platzhirschen der öffentlichen Meinung dient? Was nutzt der Kritiker als Hofnarr der Unter-haltungsmaschinen? Gelegentlich täte es gut, die Klassiker unserer Zunft zu studieren, einen Karl Kraus, einen Siegfried Kracauer, eine Susan Sontag.

Die Hauptaufgabe der Kritik: das Verborgene zu erkennen

Bevor Kritik ein Unterrichtsgegenstand in den Schulen werden könnte, müsste Klarheit darüber bestehen: Es gibt keine Kultur ohne Kritik. Eine Gesellschaft, in der alles auf Wettbewerb, Gewinnen, Karriere und Besitz bezogen ist, kann mit Kritik nichts anfangen: Da scheint es nur auf eine etwas aufgeblasene Form von Punktevergabe, Rating und Coaching anzukommen. Kritik aber benötigt Zeit und Sorgfalt. Kritik ist erst einmal unbequem. Durchs Unbequeme wird sie nützlich, und, ja, eben auch schön.

Zu viel Kritik am Verschwinden der Kritik? Ich glaube an die Möglichkeiten, dass sie wiedergeboren wird. Es ist ja nicht einmal die Hauptaufgabe der Kritik, etwas zu bewerten; die Hauptauf­gabe der Kritik besteht darin, das Verborgene zu erkennen, von der Oberfläche zum Kern vorzudringen, die Mehrdeutigkeit und den Bedeutungsreichtum der Dinge zu erkennen. Die Haupt­aufgabe der Kritik in unserer Gesellschaft besteht darin, ihr zu helfen, sich selbst zu erkennen. Denn ohne Kritik kann sie nur auf sich selbst hereinfallen. Also auf zur nächsten Auseinander­setzung mit dem Redakteur, zum nächsten „Shitstorm“, zur kritischen Retourkutsche. Um das schönste Versprechen einzulösen, das jede Kritik enthält: dass es nicht so bleibt, wie es ist.

Georg Seeßlen, Chrismon 03/2013

Bild: The Critic, 1817 Buchillustration von Allen Robert Branston; © The Trustees of the British Museum