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VORNEWEG

Um die Suche nach einer zeitgemäßen linken Utopie (vereinfacht gesagt: etwas zwischen „Zielvorstellung“ und „Traum“) zu beginnen, muss erst die Frage beantwortet werden, ob die Begriffe „links“ und „rechts“ überhaupt noch in dem Maße Gültigkeit haben wie einst. Die rasche Antwort, die man in berechtigtem Zorn gegen die Ideologen der anderen Seite findet: Natürlich sind links und rechts noch gültige Begriffe, ihre Abschaffung durch die Apologeten von Postmoderne und Postpolitik ein Trick, das auf Systemüberwindung oder ähnlich Erschröckliches gerichtetes Denken auszugrenzen, die Konflikte zu verwässern und einen Konsens zu erzeugen, der sich nach seiner Herstellung in aller Regel unverblümt als „rechts“ zu erkennen gibt.

Ganz so einfach aber ist es nicht, zumal wenn wir das Antithetische von links und rechts sowohl ausschließlich als auch hinreichend betrachten. Das hieße: Was rechts ist kann nicht gleichzeitig links sein, und es hieße: Eine politische Aussage kann man vollständig erklären durch ihr Rechts- oder Linkssein. Eine solche Doktrin zu unterschreiben fiele uns schon schwerer, nach leidvollen historischen Erfahrungen zumal. Ihre stillschweigende Anerkennung führte zu eben jener Spaltungs- und Zerfallserscheinung der Linken, in der beständig weniger um das „richtige“ als um das „wirkliche“ Linkssein gekämpft wird. Unter den Bedingungen der Vollständigkeitsdoktrin wäre von zwei einander widersprechenden linken Gedanken „automatisch“ einer in Wahrheit rechts (und oft genug verhalten sich Linke in ihren Debatten auch entsprechend). Und unter der Ausschließlichkeitsdoktrin wäre jegliche künstlerische Ambiguität, jedes experimentelle und transzendentale Denken, jedes Sinnieren über Gödelsche und andere Unvollständigkeitssätze entweder strikt verboten (auch was das anbelangt gibt’s ziemlich miese Erfahrungen) oder aber nur als entpolitisierte bzw. politisch „eingehegte“ Freiraum-Aktivität denkbar. Zum Utopischen indes gehört ein Über-sich-hinausdenken, weshalb man sich gern eine radikale, keineswegs aber eine fundamentale oder gar fundamentalistische Linke erhoffen mag (somewhere over the rainbow).

Es gilt also nicht allein einen Weg zwischen Doktrin und Wischi-Waschi zu finden, sondern auch an die Stelle des Ausschließenden und Hinreichenden ein dialektisches Denken, die Produktivität des Widersprüchlichen zu setzen, die Zukunft wieder offen zu machen. Das heißt: Im Wesentlichen besteht der Widerspruch zwischen links und rechts schärfer denn je, und es ist keine Lösung, nicht einmal eine Entscheidung in politischen Detailfragen denkbar, die nicht diesen Widerspruch widerspiegelt. Zur gleichen Zeit aber gibt es Phänomene oder Diskurszonen, die mit dem Widerspruch von rechts und links allein nicht vollständig beschrieben werden können, und es gibt Ideen und Phantasien, in denen der Rechts / Links-Widerspruch im kindlich-barbarischen Spiel wie in der wissenschaftlich-reflexiven Semantik ungeklärt, offen und womöglich transzendiert sind, Ideen und Phantasien, die weniger Werkzeug als Material sind. (Ist es nicht eine linke Paradoxie, zu glauben, alle Welt ließe sich in Instrumente zu ihrer Veränderung verwandeln?)

Die linke Utopie beginnt also als Zielvorstellung mit der erneuten Schärfung der Wahrnehmung, Reflexion und Bearbeitung des Links / Rechts-Widerspruchs (man kann darunter im Großen und Ganzen auch eine Repolitisierung der postpolitischen Kultur verstehen). Als Traum dagegen enthält sie zweifellos „kindliche“ Vorstellungen vom ganzen Menschen und seinem Glück und avancierte Vorstellungen vom Menschen als kluges und selbstbestimmtes Wesen unter seinesgleichen (Träume vom Noch-nicht und vom Nicht-mehr des Klassenkampfs).

Die Kunst besteht darin, die Ziele nicht im Traum zu verlieren, und den Traum nicht in den Zielen.

 

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„Der Kapitalismus“ erscheint gerade einer Mehrzahl von Menschen, auch und gerade unter seinen Kritikern, als unbesiegbar und mehr oder weniger ewig, da gleichsam mit der „Natur des Menschen“ verschmolzen. Der Sieg des Kapitalismus auf der ganzen Linie, wie man so sagt, wird demnach weniger ökonomisch oder politisch als vielmehr anthropologisch begründet. Der Mensch, so scheint es, ist durch den Kapitalismus geboren und für ihn gezeugt. Mensch hat keinen Kapitalismus, Mensch ist Kapitalismus.

Diese Verschiebung hat alle Züge eines Mythos. Der aus der Religion geborene Kapitalismus will wieder Religion werden. Auf die Frage warum er ist, antwortet er: Weil ich schon immer bin und immer sein werde. Er hat sich seiner Rationalität entzogen, auf die er eine Zeit durchaus stolz sein konnte. Von einem Motor der Geschichte (niemand vergisst, bei aller gerechten Empörung über seine Verbrechen, die zivilisatorischen Leistungen des Kapitalismus) will er zur Geschichte selber bzw. zu einem Posthistoire des rasenden Stillstands werden. Seiner Mythisierung, im Übrigen kommt es durchaus recht, dass die Frage: Was ist das eigentlich, der Kapitalismus?, einfach und eindeutig gar nicht zu beantworten ist. Es ist, um das Mindeste zu sagen, eines jener Systeme, die sich verändern, während (und sogar weil) sie beobachtet werden. Und es ist offensichtlich eines jener Systeme, die ihren eigenen Bauplan, ihre eigene Erklärung weder enthalten noch erzeugen können. Der Kapitalismus versteht sich selbst nicht, das ist ein wesentlicher Aspekt seiner Paranoia.

Derzeit spricht man vom „Turbokapitalismus“, von der „Marktradikalität“, vom Finanzmarktkapitalismus oder vom „Neoliberalismus“, allesamt eher hilflose Versuche ein nicht zu übersehendes Neues in der Entwicklung des Systems zu beschreiben. Ob es sich nun um eine neue Qualität handelt oder nur um eine interne Umbaumaßnahme als Reaktion auf gewisse weltgeschichtliche Entwicklungen, einer Mehrheit der Menschen scheint nur zu klar, dass dieser Kapitalismus in eine neue Phase, oder in die Phase einer neuen Totalität eingetreten ist.

Diese Totalität beflügelt die Kritik, denn sie offenbart den Mangel des Kapitalismus als Religion, nämlich die ethische Handlungsanweisung und die Regulation von Verzicht, Gemeinschaft und Erzählung. Es handelt sich mithin eher um eine negative Religion, also eine, die um Kult und Opfer konzentriert ist, und der Gott des Kapitalismus scheint ein verkappter Kriegsgott. Sie beflügelt die Kritik auch insofern, als sie das Projekt Geschichte in Frage stellt als große Metapher vom Menschen, der auf dem Weg zu sich selbst ist. So wie die negative Religion „das Böse“ beschwört, beschwört der Kapitalismus als Religion die Entfremdung nicht als Kollateralschaden, sondern als eigentliches Wesen seiner Kulte und seines Schuld / Schulden-Managements. Betrachten wir die öffentlichen Diskurse und das Medienrauschen, so wird rasch deutlich, dass jene, die sich diesem mehr oder weniger neuen Kapitalismus bedingungslos verschreiben, die ihn ohne Wenn und Aber praktizieren, nicht sonderlich beliebt sind. Die Kultur dieses verschärften und offen aggressiven Kapitalismus distanziert sich von ihm (bzw. seinen „Exzessen“), was beileibe kein sonderlich neues Phänomen in unseren Gesellschaften ist, die es stets verstanden, kapitalistische Praxen mit antikapitalistischen Ethik-Vorstellungen zu verbinden. Der Mehrheit in unserer Gesellschaft ist durchaus bewusst, dass es sich zumindest bei diesem Kapitalismus um etwas Böses handelt, etwas, vor dem man Schutz braucht und für das man zugleich nach Absolution verlangt. Gleichwohl scheint „das Leben“ nach einer für jeden einzelnen verschärften Praktizierung dieses Bösen zu verlangen. In diesem Dilemma kann man nicht paranoid werden, man muss es sein. (Noch einmal begreifen wir Angela Merkel und Joachim Gauck als mythopoetische Projektionen, als Schutz und Absolution.)

Eine weitere Paradoxie liegt in einem, religionsgeschichtlich (aber auch aus dem Drogenhandel) ebenfalls nicht ganz unbekannten Phänomen: Je mehr man von ihm profitieren will, desto weniger darf man an ihn glauben. Macht im Kapitalismus als Religion wird von Menschen ausgeübt, die ihn zugleich repräsentieren und transzendieren. Seine oligarchische Herrscherklasse ist nicht nur individuell sondern fundamental und strukturell betrügerisch. Der simple Trick, dass sie Regeln und „Werte“ aufstellen, an die sie sich selbst nicht halten, und sich die Politik selber erschaffen, die beides ermöglicht (die „Indoktrination“ ihrer Opfer und die Wege ihrer Bereicherung), lässt sie in den Augen einer entmachteten und selbstdestruktiven Kritik als „allmächtig“ erscheinen, ihr Feld aber zugleich als „schmutzig“. Es gehört zum Wesen des neuen Kapitalismus, dass sich in ihm Regierung (eine politische Klasse, die eng mit der ökonomischen Oligarchie verknüpft ist) und „Volk“ gegenseitig tief verachten und sich gegenseitig zugleich, wie sagt man so schön: „anschleimen“.

Der verbreitete Glaube an seine „Natürlichkeit“, seine Unbesiegbarkeit, und seine grenzenlose Fähigkeit der Anpassung ist eine der wichtigsten Waffen des Kapitalismus in der Zeit, da er immerhin seine moralische und rationale Legitimierung weitgehend verloren hat. (Zwar war immer der Widerspruch zwischen allgemeiner Moralvorstellung, dem Diskurs und der kapitalistischen Praxis überall spürbar, der stets einfachste „Lösungsansatz“ war der Antisemitismus. Antisemitismus ist die zugleich paranoide und hoch rationalisierte Antwort auf das Dilemma, kapitalistisch – also böse – handeln und nichtkapitalistisch – also „gut“ – (von sich) denken zu können. Der Antisemitismus hat möglicherweise noch andere Wurzeln, doch es gibt definitiv eine Entstehungsgeschichte aus dem Kapitalismus heraus.)

Als „Weltreligion“ ist sein Einfluss zwar nahezu unbegrenzt, gleichzeitig aber verliert er seine Verbindlichkeit. An das wahre Göttliche des Kapitalismus, den „freien Markt“ (dem wir, bei genauem Hinsehen, eine christliche Dreieinigkeit ansehen), müssen nur noch die größten Toren glauben, umso freudiger stimmt man in die Gebete für ihn ein und lauscht den Predigern, nicht nur, weil man damit seine Opfer ruhigstellt, sondern durchaus auch als kollektives Erleben, als Selbstberauschung. Die Vergebung der Schuld, für die man die „Religion“ erst entwickelt hat, und für die man deren Regeln verraten musste, funktioniert nur, wenn man „hinter sich“ das Ideengebäude wieder errichtet, das man vor sich zum Einsturz brachte. Je weniger der Kapitalismus als soziale Architektur funktioniert, desto mehr muss er als Religion funktionieren. Und je weniger er als Religion funktioniert, desto mehr muss er als Kult funktionieren. Entertainment ist das System der Zerfallskulte des Kapitalismus als Religion.

In alledem wird wohl eines deutlich: Der Weg zu einer Veränderung der ökonomisch-politischen Basis wird kulturell länger. Gramscis Gedanken sind aktueller denn je. Die Voraussetzung für jede linke Politik (jenseits gewisser lokaler Ereignisse, die Interesse und Verzweiflung zu einer gemeinsamen Aktion bündelt, in der oft in der Tat schwer ist, das Linke und das Rechte zu unterscheiden) ist eine neue Aufklärung.

 

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Die Entwicklung des Kapitals verlangt nach einer „verrückten“ Gleichzeitigkeit von Freiheit und Kontrolle. Die Freiheit wird so total (in Form einer „negativen Freiheit“ von der Politik, als Al Capone-Freiheit, sich ohne Einmischung des Staates und der Gesellschaft seinen Geschäften zu widmen, und sich als Konsument mit genau dem Blödsinn einzudecken, mit dem man sich eine „Identität“ in der Kultur der Entfremdungen basteln zu können glaubt) wie die Kontrolle, die in die letzten Nischen des „Privaten“ dringt. Die negative Freiheit ist das Material einer neuen Diktatur, insofern Staaten und Gesellschaften mit den Mächtigsten unter den ökonomischen Oligarchien verschmelzen. Der Mikro-Anarchismus jener, die glauben, Freiheit sei durch Markenwahl, mehr oder weniger kontrollierte Regressionsräusche, und Verschärfung des alltäglichen Konkurrenzkampfes zu realisieren, erzeugt und legitimiert den Makro-Anarchismus der Konzerne und ihrer politischen Diener.

Was wir erleben ist eine öffentliche Delegitimierung von ökonomischer und politischer Macht. Dieser Kapitalismus zwingt seine Opfer zum Zynismus. Das verbreitetste Symptom psychosozialer Erkrankung neben dem „Burnout“, der mehr oder weniger totalen Erschöpfung im Konkurrenzkampf (einschließlich einer offensichtlich ereignishaft auftretenden Entleerung der Sinn-Konstruktionen in einer Menschenseele), ist die Selbstverleugnung, die Unterdrückung des Wissens um das „Böse“ und das „Unvernünftige“ des Systems, dem man, so oder so, dient und unterworfen ist. Neben der strukturellen Paranoia drückt die populäre Kultur unserer Gesellschaft auch diese unterdrückte neurotische Energie aus. In ihr entsteht das Bild eines Antikapitalismus, der von sich selbst nichts weiß, und der in beständigem Widerstreit mit der kapitalistischen Propaganda entwickelt wird. Die Kulte des Kapitalismus „verstehen“ ihren Gegenstand zwar nicht, aber sie träumen und alpträumen ihn. Es gilt, diese Traumarbeit aufzunehmen, die Spuren zu verfolgen zu den Hilferufen und Widerständen in den Semantiken des Untergrunds, die sich der kapitalistischen Landnahme zugleich andienen und entziehen. Das Kampffeld Fabrik wird immer unsichtbarer, das Kampffeld Seele immer deutlicher.

Ein Schlüssel zur Utopie: Ein linkes Verstehen der Seele.

 

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Die Legitimierung des Kapitalismus ist sein Erfolg. Das ist insofern nicht allzu schwer, als er selbst definiert, was „Erfolg“ ist. Nämlich seine innere und äußere Landnahme, das Ersticken, sogar das Aneignen der Alternativen, sein Wachstum, seine Beschleunigung, seine Totalisierung, die Verwandlung der Welt in seinem Sinne.

Für einen kleinen Augenblick leisten wir uns radikale Naivität: Setzte man „Glück“ an die Stelle von „Erfolg“, dann hätte der Kapitalismus auf ganzer Linie versagt. Der Kapitalismus stürzt die Menschen ins Unglück mit nichts als dem Versprechen, man könne davonkommen und fein heraus sein, wenn man sich nur anstrengt und keine Skrupel kennt, und man lebe in den Müllbergen seiner Überflussproduktion immer noch besser als in den Regionen der Noch-nicht-vollständigen-Landnahme.

Der Kapitalismus des Jahres 2014 hat sich seiner letzten moralischen Mäntel entledigt, er kann gar nicht anders als sich vollständig nackt zu offenbaren (was ihm noch einmal durchaus einen Schub an „Faszination“ verleiht).

Die Kritik am Kapitalismus darf nicht auf dessen Projektionen von „Erfolg“ und „Effizienz“ hereinfallen. Sie muss das Glück vermitteln, wieder ins Offene zu denken. Entscheidend ist zunächst nicht, ob das kritische Denken den Kapitalismus bezwingen kann. Entscheidend ist zuallererst, dass der Kapitalismus das kritische Denken nicht bezwingen kann. Jedes kritische Denken, das sich vom Kapitalismus nicht bezwingen lässt, ist Modell, Signal, Hoffnung und Widerstand. Es produziert Erfahrung der Ohnmacht nur, wenn wir der Logik des Kapitalismus selber folgen; sieht man davon ab, produziert es Stolz und Würde.

Der Kapitalismus ist ein System, das (bislang) fortwährend mit seiner eigenen Rationalisierung beschäftigt war und dabei zugleich immer irrationaler wurde.

Er ist nicht ohne Aufklärung zu denken, aber zur gleichen Zeit wurde er ihr schärfster Gegner, das Objekt, an dem sich aufklärerische Kritik, Analyse und Widerstand „die Zähne ausbeißen“ sollten, entweder, weil sich das kritisch Rationalisierte ins Reich der Irrationalität verabschiedete (die Antwort auf jede Krise ist ein neues Medium der Kapitalisierung bzw. eine „Werbekampagne“), oder aber, weil das System seinen schärfsten und hartnäckigsten Analytikern ein „So what“ entgegenhalten konnte.

So wurde Kapitalismuskritik zu einer doppelten Falle. Kreativität und Phantasie werden absorbiert (was wäre denn überhaupt „Kultur“ im Kapitalismus noch, wenn sie nicht unentwegt in innerer Landnahme antikapitalistische Impulse aufsaugte), ausgebeutet und umgebogen. Zugleich aber führt ihre Verbreitung zu einem zweifellos sehr postmodernen Affekt: Das System lässt sich, in seinen Regeln wie in seinen Regelbrüchen, durchschauen, funktioniert aber trotzdem perfekt weiter, weil es sich darauf verlassen zu können glaubt, dass Angst und Begehren stets stärker als Vernunft und Bewusstsein sind. Oder?

Was kritisches Denken zutage fördert, ist zuallererst die fundamentale Dummheit der Apologeten und Propagandisten. Wie lange hält man das aus, dass man von Vollidioten, Schamlosen und Korrupten benutzt und regiert wird? Es ist ein gewaltiges Schauspiel: Der moralische und intellektuelle Verfall der herrschenden Klasse. Das hat zu Beginn ein höchst eigene Form der Faszination, ein Slowburn: Wie weit werden sie es noch treiben? Aber wir beginnen wohl, in eine Phase der Ermattung einzutreten. Die Skandale führen nicht mehr zur Selbstreinigung, sie werden eher als arbiträre Sichtbarmachung der wirklichen Zustände in den aktuellen Macht-Zusammenhängen erfahren. Allenthalben wird klar, dass es nicht mehr um eine Entfremdung zwischen einzelnen Parteien und dem Volk geht, sondern um die Entfremdung zwischen einer „politischen Klasse“ und dem Volk. Der Übergang des kaum begonnenen Projekts der Demokratie zur Postdemokratie mag geschmeidig sein, verborgen ist er nicht. Wir können es leugnen, verdrängen, übermalen, die Abschaffung der Demokratie durch die Ökonomie ist beschlossene Sache und an ihre Wiederherstellung oder Verteidigung denkt ernsthaft niemand in den „oberen Etagen der Macht“.

Die mehr oder weniger schleichende, mehr oder weniger sichtbare Abschaffung der Demokratie lässt genau den Widerspruch in größter Schärfe wieder aufbrechen, den sie zu überwinden versprach: Es gibt auf diese Abschaffung einer politischen Kultur für Konflikt und Konsens nur eine linke oder eine rechte Antwort. Die Ränder radikalisieren sich, sagt die Propaganda. Aber warum tun sie das? Weil die Postdemokratie die Instrumente von Ausgleich, Gerechtigkeit und Teilhabe abschafft. Weil eine Politik, die die Interessen der Ökonomie höher einschätzt als die Interessen der Menschen, diesen politische Entscheidungen aufnötigt, die sie in einer Kultur des Ausgleichs vielleicht nicht hätten fällen müssen. Mit jeder Maßnahme der Postdemokratie gegen das Volk wird für die Menschen die Entscheidung zwischen links und rechts wieder lebens- oder gar überlebenswichtig.

 

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Wenn man auf den Trick der Anthropologisierung und Mythisierung des Kapitalismus nicht hereinfällt, das Unmenschliche und das Beendbare in ihm sichtbar macht, dann gibt es drei „linke Szenarien“:

EINS: Eine Reformation und Re-Zivilisierung des barbarischen und totalitären Kapitalismus nebst ihrer postdemokratischen Agenten. Der Kapitalismus soll in diesem Modell durch eine Art der neuen Sozialdemokratie (die alte ist ja bekanntlich zum Hilfsmotor der Neoliberalisierung verkommen) in seine Schranken gewiesen werden und durch neue Formen der politischen Organisationen (die alten „Parteien“ der Postdemokratisierung sind ja bekanntlich für die Demokratie nicht mehr zu retten) zu mehr sozialer Gerechtigkeit, mehr ökologischer und kultureller Fürsorge und mehr Beachtung von Bürger- und Menschenrechten gezwungen werden. Dieses Modell einer behutsamen, linksliberalen Einhegung des „außer Rand und Band“ geratenen Kapitalismus wird natürlich von einer progressiven und ethisch noch nicht vollkommen blind und taub gewordenen Bürgerschaft bevorzugt, die sich eine friedliche, moderate und widerspruchsfreie Lösung erhoffen.

ZWEI: Die Selbstzerstörung. Die paradoxe Unendlichkeit des Kapitalismus besteht im Überleben seiner Apokalypsen; er kann nur existieren durch Wachstum und Landnahme (nicht zuletzt eben: durch die Zerstörung der Natur), aber jeder Mensch weiß um die Endlichkeit der Ressourcen, was der Kapitalismus der Welt antut, muss immer drastischer und immer sichtbarer werden. Zugleich ist auch der Prozess von Konzentration und Globalisierung, von Deregulierung und Privatisierung nicht „unendlich“ fortzusetzen; so wenig wie die Natur, so wenig wächst auch „Konkurrenz“ unendlich nach. Die mächtigen Player spielen nicht mehr auf dem Markt, sie spielen den Markt. Sie zerstören ihren eigentlichen Grund. Der Kapitalismus verwandelt sich nicht nur in ein virtuelles Spiel mit Märkten, die es gar nicht mehr gibt, sondern auch in einen absurden Super-Sozialismus, das schlimmste aus beiden einst verfeindeten Systeme verknüpft sich zu einem System, das sich beständig gewalttätig zu ordnen versucht und zugleich beständig durch die eigene zwanghafte Korruption wieder chaotisiert. Der Staatskapitalismus, in dem staatliche Eingriffe die Macht der Reichen erhält und erhöht, bedient sich Mitteln, die dem früheren „Staatssozialismus“ als kapitale Sünde angekreidet wurden: Der postdemokratische Staat greift in den Markt ein, nicht um mehr „Gerechtigkeit“ zu ermöglichen, sondern im Gegenteil um die systemrelevante Ungerechtigkeit zu verteidigen (paradoxerweise zum Teil gegen sich selbst). In diesem Untergang des Kapitalismus durch sich selbst bilden sich immer neue Inseln alternativer Lebens- und Wirtschaftsformen, so wäre es das Ideal. Und ein an sich selbst verreckender Kapitalismus hätte den Vorteil, kein revolutionäres Subjekt zu benötigen, welches einerseits irgendwie nicht recht vorhanden ist, und sich andererseits die Hände schmutzig machen und in neue moralische Widersprüche geraten könnte.

DREI: Der Aufstand der Entmachteten. Der offene Zynismus des Kapitalismus unserer Tage erzeugt zwei neue Formen von Gegnern. Auf der einen Seite jene Opfer, die nichts mehr zu verlieren haben und deren einzige Chance eine radikale Veränderung der Machtverhältnisse ist. Auf der anderen Seite Menschen, die, selbst wenn sie nicht in unerträglichem Maß materiell Opfer des Systems sind, das Fortschreiten von Entwürdigung und Entmündigung nicht mehr akzeptieren können. Es bilden sich, mit anderen Worten, Fragmente eines neuen (oder vielleicht doch nicht so neuen) revolutionären Subjektes, das allerdings erst einmal Techniken des Zusammenschlusses entwickeln muss.

Reform, Apokalypse, Revolution – die Alternativen scheinen nicht gerade berückend, aber doch immer noch besser als ein Weiterwurschteln und Weiterkaputtmachen des Kapitalismus. Ihnen stehen indes drei rechte Szenarien gegenüber:

.EINS: Die Konsolidierung des totalen Kapitalismus durch eine neue ökonomisch-politische Weltordnung und eine neue Form des Regierens, die die „neue Klassengesellschaft“ (möglicherweise durch kontrollierte Kriege und Bürgerkriege) festschreiben und die Massen an die Herrschaft einer Oligarchie gewöhnen, deren Leben nichts mehr mit dem „gewöhnlicher Menschen“ zu tun haben und die mit Gewalt einen wachsenden Anteil an „überflüssigen Menschen“, an „Menschenmüll“ im Zaum halten. Es ist dies das Modell einer Stalinisierung und Militarisierung (bzw. Verpolizeilichung) des Kapitalismus, in dem einer Anzahl der Opfer das Davonkommen versprochen wird, wenn sie bereit sind, die Drecksarbeit zu machen. Zwischen den miteinander nicht mehr kompatiblen Welten der Oligarchen und der gewöhnlichen Menschen tritt ein bestalltes Heer der „Sicherheitsleute“ (die Brutalisierung der Polizeieinsätze gegen Demonstranten gegen lukrative Großprojekte ist dafür ebenso Symptom wie die guarded comunities und die rücksichtslose Gentrifizierung von Arealen urbanen Lebens), der Kapitalismus verwandelt sich mithin in diesem Modell in eine Terror- und Gewaltherrschaft aus eigener Kraft.

ZWEI: Die Entwicklung neuer Varianten vom Zusammenspiel faschistischer Regimes mit der Wirtschaft. Die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und vor allem der Grundrechte ist unter den wirtschaftlichen „Führungskräften“ längst beschlossene Sache; Demokratie ist ein Wettbewerbsnachteil, der durch die Einführung eines populistisch angehauchten autoritären und expertokratischen Regierens ausgeglichen werden kann. Politische Kompetenz wird in Gremien verlagert, während den „Massen“ „charismatische“ Führer ebenso präsentiert werden wie wohlfeile Sündenböcke. Rassismus, Antisemitismus, Terror und Folter werden „dosiert“ schmackhaft gemacht. Die Entpolitisierung der Demokratie geht, als Variation von historischen Vor-Bildern, mit der Ästhetisierung der Politik einher. Gewalt-Symbole der Identität werden wieder ins Recht gesetzt, man soll „deutsch“ oder „national“ denken, während die Wirtschaft global agiert. Man soll in den Formen des Krieges denken. Die Ökonomisierung der Politik bedeutet zugleich ihre Militarisierung. Verschiedene Länder (bzw. „Standorte“) entwickeln je eigene Beziehungen von Neofaschismen und Neokapitalismen; es kommt dabei vor allem auf die Disziplinierung der Arbeitskräfte und der „Arbeitslosen“ an. Man wird da neue Formen der Sklaverei entwickeln.

DREI: Eine Herrschaft von „Eliten“, die sich jenseits von Staat und Gesellschaft und aus einem unermesslichen Reichtum und einer unermesslichen Privilegierung entschließen, den Opfern Almosen und „Geschenke“ zu machen (die Rückkehr des „Sozialen“ in privatisierter Form). Multimilliardäre wie Paul Singer plündern ganze Volkswirtschaften aus (überhaupt wird Plünderungsökonomie in diesem Modell eine zentrale Rolle spielen), verpflichten sich aber gleichzeitig, einen Teil ihres Gewinns in soziale Projekte zu stecken, nebenbei auch, damit wir den wahren Gehalt dieser Idee nicht aus den Augen verlieren, werden von Singer Polizei und Militär „unterstützt“; die „Großzügigkeit“ dieser Oligarchie bedeutet nichts anderes als die fürsorgliche Übernahme der staatlichen Kompetenzen durch das Kapital. Anders als im ersten und im zweiten Modell kann sich freilich hier neben der Herrschaft der Oligarchie ein mehr oder weniger bürgerlicher und mehr oder weniger demokratischer Rest-Staat halten, der allerdings ganz im Zeichen der Experten steht. Diese Lieblingsidee reaktionärer Intelligenz scheint für diese von einer gewissen Attraktivität, weil Staat und Ökonomie in diesem Modell Wissenschaft, Publizistik und Kultur auf eine höchst charmante Weise alimentieren werden und den Willfährigen einen Freiraum liefern, in dem sie zugleich selber ein wenig Vermögen anhäufen und ihre schönen Seelen pflegen dürfen.

Ein anderes Szenarium gibt es sowohl in einer linken wie in einer rechten Variante: Es handelt von Menschen, die den Kapitalismus, so wie er ist, einfach nicht mehr mitmachen wollen und sich daher in mehr oder weniger private, fiktionale oder unverbindlich-kulturelle Räume zurückziehen („Schöne Seelen“, die allerdings vor der Beschmutzung durch äußere Wirklichkeit zurückschrecken müssen). In einem digitalisierten „Draußen“ geht dann alles so weiter wie gehabt (das heißt, man wird immer weiter nach Möglichkeiten suchen, sich vor dem endgültigen Kollaps „Zeit zu kaufen“), „drinnen“ dagegen wird eine Politik der kleinen Schritte, des Anti-Alarmismus, der vernünftigen Selbstbegrenzung und so weiter verfolgt. Die Antwort auf die Krisen ist das Weiterwursteln, während man den klassischen Institutionen die Lösung der Probleme nicht mehr zutraut, macht man lieber selber den einen oder anderen Schritt in die richtige Richtung. Pragmatik ist die Lösung: Man kann die einzelnen Probleme nur lösen, wenn man das ganze ausblendet. Es geht um ein Regieren auf Sichtweite („Visionen“ darf es ja schon seit Helmut Schmidt in der deutschen Politik nicht mehr geben). Dieses Modell handelt mehr oder weniger vom Auseinanderbrechen der Staaten und der Gesellschaften, links und rechts ist eine Frage, welcher „Horde“ man sich anschließt, was man bereits jetzt virtuell und digital, in absehbarer Zeit vielleicht auch territorial und körperlich verstehen wird können.

Es ist unnütz zu sagen: Die linken Modelle haben derzeit weniger Verwirklichungschancen als die rechten, nicht zuletzt deshalb, weil die Postdemokratie in ihren Zerfallsstadien ganz offensichtlich die rechten Alternativen fördert oder gewähren lässt, während sie die linken mit aller ihrer verbliebenen Macht bekämpft. Die Postdemokratie trägt den Keim von neuem Faschismus und Terrorherrschaft bereits in sich. Damit sind die Dinge indes noch lange nicht entschieden. Denn das wiederum weiß sogar die Rechte: Die Linke hat die besseren Angebote für eine post-kapitalistische Zukunft. Sie hat den besseren Traum!

 

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Die linke Aufklärung darf sich von der „coolen Abklärung“ (war immer schon so, ist eh nicht so schlimm, wie es die „Alarmisten“ und „Apokalyptiker“ machen, Kritik ist was für Verlierer…) nicht irre machen lassen. Ebenso, um es in der Sprache des Kapitalismus auszudrücken, wie es eine Entwertung, eine Inflation der Kapitalismuskritik geben kann, kann es auch eine Akkumulation, eine nichtlineare Wertzunahme geben. Kritik ist ein Instrument der Aufklärung und der Selbstvergewisserung. Es kann daher nicht darum gehen, einen Wettbewerb der Kapitalismuskritiken zu entfachen als vielmehr darum, die kritischen Energien zu bündeln.

So wie sich der Kapitalismus durch seine eigene zynische Unbesiegbarkeit und Ewigkeit sichert, verspiegelt er seine Kritiker: Sie verzweifeln an ihrer Erfolglosigkeit. Jeder Kapitalismuskritiker kann dem anderen vorwerfen, ein wohlfeile und „billige“ Art ; ja eine Inflation der Kapitalismuskritik führt nicht nur zum Vorwurf, man schwimme, wie es im Kapitalismus schließlich gang und gäbe sei, auf einer Welle, man mache sich eine Masche zunutze usw., sondern er führt auch, ebenfalls von den kulturellen Märkten hinlänglich bekannt, zu einem Fall der geistigen Profitrate, zum Aufmerksamkeitsverlust, zum Vergessen.
Die Kapitalismuskritik muss selbst zunächst dafür sorgen, nicht-kapitalistisch zu wirken und sich nicht in dessen Verwertungsspiralen zu erschöpfen. Wie macht man das? Zum einen geht es um die Schaffung von neuen Erzählgemeinschaften: Kapitalismuskritik ist kein Wettbewerb, keine Kulturware, kein Ventil und kein Alibi. Sie ist eine konkrete politische Geste, eine kulturelle Forderung, eine humanistische Kampfansage. Zum anderen, erinnert ihr euch?, gibt es eine Ästhetik des Widerstands. Links-Sein hat auch deswegen was für sich, weil es schön ist.

Jede Utopie beginnt mit der Kritik. Jede Zielvorstellung ist Ergebnis von Aufklärung. Jede Politik setzt sich aus Erkenntnis und Interesse zusammen. (Postpolitik, unter anderem, ist Interesse ohne Erkenntnis.) Jeder Traum beginnt mit einer Befreiung (so wie jeder Alptraum die Erkenntnis der Unfreiheit verhüllt).

Und wir? Beginnen unser Tagwerk mit einem kritischen Gedanken. Und mit Captain Beefheart oder Mozart. Und einer Spur von dem, was der olle Brecht die Freundlichkeit genannt hat. Weil es möglicherweise gerade darum geht: Um das Recht, freundlich zu leben.

Georg Seeßlen (Herbst 2014)

zuerst erschienen in Literatur konkret Nr. 39