Vom Scherbenhaufen zum Mainstreamstrudel

Eine Meldung machte die Runde in den Netzen: Ein syrischer Flüchtling sei nach langem Warten vor dem Lageso, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin, gestorben. Diese Meldung, die ein Flüchtlingshelfer in die Informationsnetzte einspeiste, erwies sich zunächst durch die Angaben der Polizei und dann durch das Geständnis des Urhebers als frei erfunden. Die Reaktionen auf diesen Fake schwanken zwischen Häme, Mitleid und Beschämung. Die nun also auch! Reicht es denn nicht, wenn uns Pegida und AfD mit schieren Propagandalügen kommen? Und glauben die einen wie die anderen bereitwillig jede Lüge, wenn es nur zum Weltbild und in die Strategien der Hysterisierung passt?

Vielleicht lohnt ein Blick auf die Veränderungen im Umgang mit Nachrichten, Informationen, politischen Erzählungen, die sich in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren vollzogen haben. Technisch gesehen sind diese Veränderungen geprägt durch die Konkurrenz zwischen den alten und den neuen Medien der Informations- und Meinungsverbreitung. Das „konservative“ Bild dazu: Der einst für den Stand von Demokratie und Aufklärung mit entscheidende Qualitätsjournalismus, einem darstellbaren und auch lehrbaren ethischen Code verpflichtet (weshalb eben doch ein Unterschied zwischen der FAZ und der Bildzeitung bestand), wird bedrängt von einer enthemmten, verrohten und verblödeten Dauerhetze aus dem Internet. Das „progressistische“ Bild dazu: Das Monopol der professionellen „Meinungsmacher“ und Welterklärer ist gebrochen durch einen freien Fluss der Informationen von unten; viel weniger als früher kann unter den Informationstechnik gekehrt werden.

Aus der wenngleich labyrinthischen Architektur der Informationsgesellschaft wurde auf diese Weise der Wellenschlag eines Informationsmeeres. Wo man sich früher zu verlaufen drohte, da meint man nun zu ertrinken in Informationen. Man verschluckt sich leicht, und immer schwerer wird es, den Kopf über Wasser zu halten.

Aber etwas sonderbares geschieht nebenbei: Man konnte zunächst meinen, aus der so enorm gestiegenen Anzahl von Informationsquellen, -strömen und -wellen würde eine Vervielfachung der möglichen Meinungen, Weltsichten und Erklärungsmodelle entstehen. Die Hyperinformationsgesellschaft würde vielleicht durch ihre heftige Unübersichtlichkeit den Menschen mehr Anstrengungen abverlangen als die, ja auch schon nicht gerade unangestrengte Informationsgesellschaft, dafür aber eine vorher nie geahnte Vielfalt, Reflexion und Differenzierung bieten. Man würde von der Basis mit Wirklichkeitspartikeln versorgt, die immer wieder korrigierend in die traditionellen Meinungsmaschinen eingreifen könnten. 

Tatsächlich aber geschah das genaue Gegenteil. Alte und neue Medien verbanden sich zu gewaltigen informationellen und narrativen Mainstream-Bewegungen. Immer weniger Meinungen treffen mit freilich immer weiter ausdifferenzierten Mitteln aufeinander. Selbst in der äußeren Form ist nicht zu übersehen: Alles wird immer gleicher. Und auch die „alten“ Medien, die Zeitungen, Nachrichtenmagazine und „seriösen“ Funk- und Fernsehprogramme erkrankten an den neuen Verflüssigungs-, Mainstreaming- und Hysterisierungstendenzen. Die Information wechselte nicht nur ihre Medien, sie wechselte auch ihr Wesen.

Eine Hyperinformationsgesellschaft nämlich entsteht nicht allein durch eine absurd gestiegene Menge von Informationen und eine nicht minder absurd gesteigerte Geschwindigkeit – immer warten wir auf den Moment, der in der fiktiven Welt der Finanztransaktionen längst eingetreten ist, nämlich dass die Nachricht schneller ist als das ihr zugrunde liegende Ereignis, genauer gesagt: Die Fähigkeit, eine Nachricht zu produzieren ist bereits das Ereignis selber. Wir können auch nicht mehr wissen, ob die Ereignisse, zum Beispiel spezielle Terrorakte des IS, nur stattfinden, weil man ihre Wirksamkeit als Nachricht kalkuliert. Eine Nachricht berichtet von einer barbarischen Enthauptung, die es möglicherweise ohne die Nachrichtenproduktion gar nicht gäbe.

Eine Hyperinformationsgesellschaft produziert vor allem Hyperinformationen. Diese Hyperinformationen können wir uns einerseits vorstellen als Bündel, Schleifen, Wolken von Informationen, die sich zu einer größeren Information zusammenballen, einer Hyper-Information eben, die nicht als Nachricht oder Analyse, sondern als „Weltbild“ zu verstehen ist. Für die informationelle Moderne war eine Nachrichtenlage typisch, die Hans Magnus Enzensberger vor einem halben Jahrhundert als „Scherbenhaufen“ bezeichnet hat. Die Welt zerbricht in lauter mehr oder weniger unzusammenhängende, kaum noch bewertbare Informationsteile, die nur noch unter großen Mühen zu einer ursprünglichen Form von Wirklichkeit zusammengesetzt werden könnten. Zumeist indes geht es weniger darum, aus den Informationsscherben auf die (verlorene) Wirklichkeit zurück zu schließen, als vielmehr gerade darum, das Zerbrochene, die aufgekratzte Kaputtheit zu genießen.

Der informationelle Scherbenhaufen mochte zwar vom Standpunkt einer linearen Geschichte der Aufklärung durchaus unproduktiv sein, er war indes keineswegs nur verwerflich. Denn es war eben dieser Scherbenhaufen der Nachrichten und Botschaften, der verhinderte, dass aus den Informationen wieder die eine, verbindliche, schließlich dogmatische Welterzählung, kurz gesagt Ideologie wurde.

Aber der Scherbenhaufen war nicht der Endpunkt der Informationsgesellschaft. Es entwickelten sich vielmehr neue Sortiermaschinen. Die Mainstream-Medien machten aus den Scherbenhaufen Mosaike. Noam Chomskys Idee von einer „Manufaktur des Konsenses“ steigerte sich zu einem bizarren Mainstreaming der Hysterisierungen. In der verflüssigten Form werden Informationen rasch zu „sozialen Skulpturen“ gegossen: Ihr Wert liegt nicht in der Wiedergabe des Wirklichen, sondern in der wirklichen Teilhabe ihrer Konsumenten. Und nun sind Nachrichten mit einem mal wieder, was sie in der informationellen Moderne eben nicht sein sollten: Ideologieproduzenten.

Die Hyperinformation schert sich weniger um die Nähe zu einem tatsächlichen Geschehen (das es so oder so immer noch gibt: Vulkane brechen noch wirklich aus; Menschen bringen wirklich noch andere Menschen um) als vielmehr um ihre Erwartetheit. Die Hyperinformation betrifft nur noch am Rande das, was ist, in der Hauptsache dagegen das, was „in der Luft liegt“.

Was nun die Flüchtlingssituation betrifft, so müsste man sich weit weg oder in die Zukunft denken, um zu erkennen, wie sehr die Hyperinformationen derzeit zum größten Teil „objektiv“ aus Null- und Nonsense-Nachrichten besteht. Sie verdichten sich zu drei Erzählsträngen, in die jeweils „reale“ und fiktionale Elemente scheinbar gleichberechtigt mit einfließen. Da ist die „völkische“ Erzählung, welche die Flüchtlinge zu Feinden, zu sozialen „Krankheiten“ erklärt, und, wie die AfD-Vorsitzende Frauke Petry in ihren geilen Gewaltphantasien kein Halten kennt. Dann ist da die Erzählung der deutschen Politik, deren Vertreter sich gegenseitig in den markigen Sprüchen über die Behandlung „integrationsunwilliger“ (Andrea Nahles) oder sonstwie krimineller bzw. „das Gastrecht missbrauchenden“ Migranten übertreffen (und jede der nächsten unsinnigen bis zynischen Vorschläge wird wieder zur „Nachricht“). Und dann ist da eine zivilgesellschaftliche Gegenerzählung, die das Merkelsche „Wir schaffen das“ in eine soziale Praxis umsetzen möchte und zugleich der völkischen, halbfaschistischen Erzählung Kritik und Widerstand entgegen setzt. Jede Information, Phantasie oder Nachricht, fließt in eine dieser hyperinformationellen Erzählungen, ob sie nun ursprünglich so gedacht war oder nicht.

Nun stellt sich heraus, dass es nicht nur auf Seiten von Pegida und AfD „Lügenmärchen“ gibt, die gleichwohl als Wahrheiten gehandhabt werden, selbst wenn ihr Wirklichkeitsgehalt amtlich, logisch und unwiderlegbar gleich null und die propagandistische Absicht offensichtlich ist. Geglaubt in den Erzählungen der Hyperinformation wird, was in die jeweilige Erzählung passt. So lassen sich ja auch die deutschen Politiker in ihrem unwürdigen Gezänk weder von Wirklichkeiten noch von internationalen Abkommen irritieren; sie beliefern das Volk, so werden aus den Scherben wieder Bilder, mit Begriffs- und Metapher-Attraktionen wie „Obergrenze“, „Abschiebung“, „Leitkultur“ und „Aufnahmekapazität“. Das meiste davon ist blanker Unfug oder aber: gezieltes Beliefern eines hyperinformationellen Mainstream. Aber auch die zivilgesellschaftliche Gegenerzählung hat nun ihre Unschuld verloren. So wie die Rechten nicht müde werden, Aggressions- und Übergriffsgeschichten zu akkumulieren, die realen mit den fiktionalen nun eben hyperinformationell vermischend, so stellt sich nun eine Leidensgeschichte als erfunden heraus. Hat da jemand unglücklich genug versucht, mit den gleichen Mitteln zurückzuschlagen, die die Gegenseite bereits perfektionierte? Ist auch hier die Hysterisierung so weit gediehen, dass man in der Tat keinen entscheidenden Unterschied mehr zwischen dem Realen und dem Vorgestellten mehr machen kann? Will eine Erfindung verhindern, dass sie Wirklichkeit wird? Oder bedeutet, unter der Glocke der Hyperinformation zu leben, Teil eines gewaltigen Projektes zu werden: Der Entwirklichung der Welt?

Georg Seeßlen

erweiterte Version des Textes in Freitag  | 05.02.2016