Also, ich bin, schluchz, ein Rentner und die Dame eine berufstätige Frau. Daraus folgt, dass ich an drei Tagen in der Woche früher aufstehe, Radfahren, Alter-Mann-Kompensationssyndrom und so. Woraus wiederum folgt, dass ich vor dem Verlassen des Hauses nicht die Zeitung aus dem Kasten holen kann, sie kommt etwas später.
Die Dame wiederum könnte es, aber sie hat keine Lust, es zieht sie an den redaktionellen Arbeitsplatz, wo sie ja eine Zeitung hat. Nun haben wir aber außer diesem noch ein überregionales Blatt abonniert, es kommt aus dem deutschen Süden. Und das liest sie dann am nächsten Morgen. Das hat sich bewährt, vor allem in diesen Tagen, hier lässt sich die alte Weisheit, es sei nichts so alt wie die Zeitung von gestern, praxisnah verifizieren; auch spart man Zeit, weil, die Aufregungen von gestern sind die ollen Kamellen von heute.
Am Mittwoch zum Beispiel verkündete die erwähnte Zeitung auf der ersten Seite, viele Menschen seien unzufrieden mit dem beschlossenen Oster-Lockdown. Am Donnerstag zum Frühstück musste sie das nicht mehr lesen, es war in der Tat der Schnee von gestern.
Aber es bleibt das Problem von heute. Vor vielen Jahren in London sprach mich einmal der Portier unseres kleinen Hotels an. Er konnte kein Deutsch, aber er kannte einen Satz, den hatten ihm, sagte er, Touristen aus Ostdeutschland beigebracht: „Alle machen mit und keiner weiß Bescheid.“ Er wollte diesen Satz erklärt haben, was, mit meinem ostdeutschen Englisch, nicht ganz einfach war. Heute ließe sich diese Frage ganz, ganz einfach beantworten: Look to Germany. Es gibt wohl Grund-Sätze aus unserer guten alten Republik, die haben sich bewährt.
Nicht bewährt hingegen hat sich der Föderalismus.
Die Entschuldigung der Bundeskanzlerin war in der Tat spektakulär und Respekt gebietend auch. Der Grund allerdings dieser politischen Notbremse trägt dazu bei, den Respekt vor dem spektakulär versagenden deutschen Management dieser Krise zu marginalisieren.
Es ist in der Tat, bei aller Einsicht in den Druck, unter dem die Beteiligten standen, kaum noch zu vermitteln, wie ein solcher Beschluss gefasst und verkündet werden kann, ohne dass kompetente Fachleute ihn durchbuchstabiert haben. Und am Ende interessieren sich, mit Recht, die Menschen nicht für die Bedingungen, unter denen derart versagt wurde. Übrigens von allen Beteiligten, denn die Ministerpräsidenten haben alle genickt, vielleicht waren sie zum Teil auch schon eingenickt.
Ich denke, dass hier, nicht erst in dieser Woche, jenseits handelnder Personen, das System versagt hat. Die föderale Struktur, die sich dieses Deutschland gegeben hat, ist der Versuch einer Antwort auf deutsche Geschichte, die Erfahrungen mit einem allgewaltigen Zentralstaat. Das ist eine theoretisch sehr gut nachvollziehbare Entscheidung, deren Sinnhaftigkeit sich in der Praxis nicht immer behaupten lässt.
Die Unmöglichkeit etwa, in Deutschland ein vergleichbares Zentralabitur zu etablieren, ist lächerlich bis skandalös, aber das betraf immer nur einen begrenzten Teil der Bürger, und die kulturpolitische Debatte wurde nur von den üblichen Verdächtigen geführt, obgleich sie hunderttausende junge Menschen betrifft.
Dieses Mal aber betrifft es alle, von der Bundeskanzlerin bis zum letzten, dümmsten Verschwörungstheoretiker; der ist nur zu blöde, das zu wissen, aber es reicht, um bisschen mitzupöbeln. Vor allem aber betrifft es die vielen Menschen dazwischen, die ganz normalen, ganz alltäglichen Bürger, Sie, mich, uns.
Die zum unverantwortlichen Exzess ausartende Eigenständigkeit der Länder ist in Zeiten der nationalen Krise ein folgenschwerer Systemfehler. Denn es liegt am System, dass auf allen Ebenen, der Ministerpräsidenten, der Kommunen, der Kreise, individuelle politische Interessen verfolgt werden, ein Lockdown hier, eine Lockerung da und alle haben ihre Gründe. Die richtige, die einzige Lösung, ein wirklich harter Lockdown, scheiterte an der Angst vor dem Wähler.
Dieses Land ist eine schöne, wertvolle Konstruktion für den immerwährenden Sonnenschein. In seiner ersten wirklich existenziellen Krise versagt es, auf allen Ebenen.
Henryk Goldberg
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