Als Ende des 19. Jahrhunderts eine fortschreitende Industrialisierung die Lebensqualität vieler Menschen massiv verschlechterte, sogar für Krankheiten und Armut sorgte, bildeten sich zahlreiche Gegenbewegungen. Für eine Veränderung der Lebenssituation wurden Konzepte einer Umorientierung gesucht.

Mit Überschriften wie „Zurück zur Natur“ tauchten damals und noch einmal verstärkt nach Ende des 1. Weltkriegs zahlreiche Initiativen auf, die mit zum Teil recht unterschiedlichen Ideen (etwa in therapeutisch ökologischer, in freiheitlich friedfertiger, in künstlerisch mythologischer Hinsicht) aber auch mit einigen Verirrungen Deutschland durch das 20. Jahrhundert begleiteten.

Denn die sogenannte „Reformbewegung“ verwandelte die Auffassungen zu Ernährung, Kleidung, Gesundheitspflege (z.B. „Jungborn“ bei Bad Harzburg). Jugendliche zog es als „Wandervögel“ in die weite Natur, als Pazifisten suchten sie ein neues Zusammenleben (z.B. „Freideutscher Jugendtag“ auf dem Hohen Meißner, 1913). Genossenschaften engagierten sich für ökologische Gärten (z.B. „Eden“ bei Berlin) oder gegen die Spekulation von Grund und Boden (z.B. „Deutsche Freiland“ mit dem „Freilandhof“ in Springe). Architekten entwarfen Gartenstädte. Verleger, Künstler und Fotografen propagierten einen freieren Umgang mit der Sexualität (z.B. Karl Vanselow mit seinem Magazin „Die Schönheit“ in Werder/Havel), um nur einige Beispiele aufzuzählen.

Der Umgang mit dem menschlichen Körper veränderte sich dabei nachhaltig, etwa in der Freizeit und beim Sport, aber auch in der Malerei, man denke nur an die Badenden auf Bildern der Expressionisten. Doch auch die Darstellenden Künste griffen die veränderten Ansichten auf, etwa der Tanz.

Als im Sommer 1917 auf dem Monte Verità, dem Sehnsuchtsort bei Ascona im Tessin, ein internationaler vegetarisch-pazifistischer Kongress stattfand, wurde dieser mit dem dreiteiligen Tanzdrama „Sang an die Sonne“ von Rudolf von Laban (1879-1958) beendet. Es begann bei Sonnenuntergang, ging um Mitternacht weiter, oben in den Bergen vor der Felsengrotte des Aussteigers und Poeten Gusto Gräser (1879-1958) mit einem „Tanz der Dämonen der Nacht“. Die dabei getragenen Masken hatte der aus Rumänien stammende Dadaist Marcel Janco (1895-1984) gestaltet. Frühmorgens wurde schließlich – gemeinsam von Aufführenden und Zuschauenden – die „siegende“ Sonne begrüßt. Ein recht offensichtliches Sinnbild, das einerseits die Hoffnung auf ein Ende des Krieges, andererseits das Streben nach einer Höherentwicklung der Menschheit vermitteln sollte.

Knapp zwei Jahre später ein gründete sich eine weitere Alternativ-Siedlung, Eine Schar junger Frauen um Hedwig von Rohden (1890-1987) und Louise Langgaard (1883-1974) erwarb im Sommer 1919 ein 54 Hektar großes, unerschlossenes Wald- und Ackergelände etwa 10 Kilometer südlich von Fulda. Dort, etwas abgelegen in der Rhön, wollten sie nach mehreren Standortwechseln ihr seit 1912 bestehendes „Seminar für klassische Gymnastik“ nun unter dem Namen „Loheland. Schule für Körperbildung, Landbau und Handwerk“ dauerhaft einrichten.

Diese private, stets durch Frauen geführte Bildungseinrichtung mit ihrer Kombination aus Bewegungsschulung, Werkstattarbeit, Kunst und Natur, mit dem Schwerpunkt auf Gymnastik und Tanz, erarbeitete sich – besonders in den Zwischenkriegsjahren – den Ruf, ein besonders experimenteller Ort für Frauen zu sein. Auswärtige Tanz-Aufführungen, etwa mit Eva-Maria Deinhardt (1896-1977) in Berlin und am „Bauhaus“ in Weimar, stützten diesen Eindruck.

„Loheland-Kompositionen wurden durch Studenten der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar eingespielt. Eine Figurengruppe zeigt Gymnastikkleider und Gymnastikgeräte der Loheländerinnen. Vergleichbar mit der Bühnenwerkstatt am Weimarer Bauhaus inszenierten die Loheländerinnen Theaterstücke und Puppenspiele.“ (Michael Siebenbrodt)

Monte Verita, Loheland und das Bauhaus, die beiden letzten 1919 gegründet, gingen alle aus der europäischen Reformbewegung hervor. So verwundert es nicht, dass der ganzheitliche Ansatz im Bauhaus-Unterricht mit seiner Suche nach dem Ideal sowie die durchaus auch romantische Wiederbelebung der Werkstätten viele Wandervögel und zahlreiche junge Frauen anlockte.

Besonders die Art und Weise, wie der Schweizer Johannes Itten (1888-1967) seinen Bauhaus-Vorkurs anlegte, entsprach derartigen Vorstellungen. „Geometrische und rhythmische Formen, Probleme der Proportionen und der expressiven Bildkomposition wurden durchgearbeitet. Neu waren die Aufgaben mit Texturen und das Ausarbeiten der subjektiven Formen. Neben der Lehre von den polaren Kontrasten brachten die Übungen zur Lockerung und Konzentration der Schüler erstaunliche Erfolge.

Rekonstruierte Figurinen zum „Triadischen Ballett“ von Oskar Schlemmer im Museum August Kestner
(Foto: Kull.Vis.Komm.)

Der schöpferische Automatismus wurde von mir als einer der wichtigsten Faktoren künstlerischen Schaffens erkannt.“ (Johannes Itten „Mein Vorkurs am Bauhaus, Gestaltungs- und Formenlehre“, Ravensburg 1963, S. 9)

Daneben ist jedoch festzuhalten, dass bei der theoretischen Konzeption in den Bauhaus-Anfangsjahren zwei inhaltliche Richtungen neben- bzw. gegeneinander existierten. „Einerseits der Einbruch der östlichen Kultur, Indienkult, auch das Zurück zur Natur der Wandervogelbewegung und anderem, Siedlung, Vegetarismus, Tolstoiismus, Reaktion auf den Krieg – andererseits Amerikanismus, Fortschritt, Wunder der Technik und Erfindung. Großstadt. Gropius und Itten sind fast typische Vertreter.“ (Oskar Schlemmer „Idealist der Form. Briefe, Tagebücher, Schriften 1912-1943″, Leipzig 1990, S. 82)

Johannes Itten war ein leidenschaftlicher Anhänger der Mazdaznan-Lehre, einer Mischreligion mit christlichen, zarathustrischen und einigen hinduistisch-tantrischen Elementen. Dieses Ideen-Universum besaß einen großen Einfluss auf seinen Unterricht, so verlangte er Atem-Übungen vor Beginn aller Sitzungen, noch bevor die Studierenden die schwarzen Kohlestifte in die Hand nehmen sollten.

Mit seinen engsten Gefährten trug er eine auffällige, an Mönchsgewänder erinnernde Tracht. Zudem kam irgendwann „die Idee auf – wahrscheinlich von Itten propagiert – die Haare seien ein Zeichen der Sünde, worauf er selbst, Muche [d.i. Georg Muche (1895-1987), Leiter der Webereiklasse] und einige Schüler sich den Schädel glatt rasieren ließen.“ (Herbert Molderings „Umbo. Vom Bauhaus zum Bildjournalismus“, Düsseldorf u.a. 1995, S. 24)

Darüber hinaus galten für gewissenhafte Mazdaznan-Anhänger auch strenge Ernährungshinweise „Der Mensch ist nicht auf Erden, um alles, was Wald, Wiese, Feld oder Garten abwerfen, in seinem Magen wie in einer Art Futterspeicher zu sammeln, auch nicht dazu, um eine Art Kirchhof oder Friedhof für tote Tiere zu sein. Vielmehr soll er hier auf Erden die Macht des Geistes über die Materie beweisen.“

Doch auch für Walter Gropius !883-1969) spielten seit Gründung des Bauhauses in Weimar Feste eine bedeutende Rolle als gemeinschaftsstiftende Veranstaltungen. Sie boten in der Interaktion Raum für aufwändige Kunst-Aktionen und Tanz-Vorführungen. Die mit dem Umzug des Bauhauses 1925 nach Dessau im Neubau angelegte Versuchsbühne vermehrte und konzentrierte die Inszenierungs-Möglichkeiten.

Dabei nahmen Tänze einen beachtlichen Stellenwert ein. Die Bauhausbühne blieb jedoch keineswegs nur ein Aufführungsort, sondern verstand sich als Teil des Unterrichts. Entwickelten sich dort doch auf relativ enger Fläche und in einem begrenzten Zeitrahmen immer neue Kombinationen aus Raum, Körper, Bewegung, Form, Licht, Farbe und Ton.

Die Tänzer_innen sollten sich dabei dem Gesamtkonzept unterordnen, sich als Teil eines Ganzen verstehen. Hauptinitiator dieser Inszenierungen war der Bauhaus-Meister Oskar Schlemmer (1888-1943), der seit 1923 die Bühnen-Aktivitäten leitete. Er entwickelte den „Tänzermenschen“ mit Kostüm und Maske weiter zur „Kunstfigur“. Das Anliegen des ausgebildeten Malers war dabei, mit einfachen und elementaren Mitteln zu experimentieren: „Raumtanz“, „Gestentanz“, „Stäbetanz“, „Triadisches Ballett“.

Mary Wigman | Hexentanz | 1926 (Foto: Charlotte Rudolph, Tanzarchiv Köln, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019)

„Architektur, Plastik, Malerei sind unbeweglich“, stellte er fest. „Es könnte, zumal im Zeitalter der Bewegung, als Manko erscheinen. […] Die Bühne als Stätte zeitlichen Geschehens bietet hingegen die Bewegung von Form und Farbe; zunächst in ihrer primären Gestalt als bewegliche, farbige oder un-farbige, lineare, flächige oder plastische Einzelformen, desgleichen veränderlicher beweglicher Raum und verwandelbare architektonische Gebilde.“ In dem Aufsatz „Mensch und Kunstfigur“ formulierte Schlemmer seinen Anspruch zu einer Typisierung mittels Maskierung und Kostümierung.

Eine Neuauflage des „Triadischen Balletts“ mit Orgelmusik von Hindemith erfolgte ab 1926 in mehreren deutschen Städten. Diese Vorstellungen machten Oskar Schlemmer international bekannt, so folgten Einladungen zu Aufführungen etwa in Paris und New York. Die sehr gelungene Ausstellung „Ausdruckstanz und Bauhausbühne“ im hannoverschen Museum August Kestner erinnert mit vielen Leihgaben des Bauhauses Dessau an denen gegenseitigen Austausch. Zahlreiche Bild- und Text-Dokumente sowie Filmmaterial und Kostüm-Rekonstruktionen, etwa vom „Triadischen Ballett“, bieten den Besuchenden dabei einen wirklich umfassenden Blick auf diesen interessanten Themenkomplex.

Parallel werden örtliche Bezüge vorgestellt. Eine der einflussreichsten Wegbereiterinnen des rhythmisch-expressiven „Ausdruckstanzes“, u.a. beim „Sang an die Sonne“ 1917 auf dem Monte Verita aktiv beteiligt, die Choreografin und Tanzpädagogin Mary Wigman (1886-1973) stammte schließlich aus Hannover. Ihre Schülerin Yvonne Georgi (1903-1975), die u.a. 1926-31 als „Tanzregisseurin“ an den Städtischen Bühnen Hannover gewirkt hatte, und der von ihr 1927 als Solotänzer engagierte Harald Kreutzberg (1902-1968), ebenfalls ein Schüler von Mary Wigman, wurden in der Präsentation ebenfalls integriert.

Eine echte Entdeckung bietet die Ausstellung mit Informationen und Fotoaufnahmen zu „Material-Funktionstänzen“, die 1930 im Landestheater Braunschweig zur Uraufführung kamen. Eine Zusammenarbeit der Tänzerin und Choreografin Manda von Kreibig (1901-1989), die u.a. bei Schlemmers „Stäbetanz“ mitgewirkt hatte, und die Kunstgewerblerin Margarete Naumann (1881-1941), bekannt durch die von ihr erfundene „Margaretenspitze“, die dafür ungewöhnliche Requisiten aus Papier aufwändig zusammengefaltet hatte.

Hans-Jürgen Tast

Auch dazu bietet der mit zehn Essays zur Ausstellung erschienene Katalog weitere Details:

Hubertus Adam, Sally Schöne „Ausdruckstanz und Bauhausbühne“

ISBN 978-3-7319-0852-4

EUR 22,90

AUSSTELLUNG

23.05 bis 29.09.2019

Museum August Kestner

Trammplatz 3

30159 Hannover

dienstags  donnerstags  freitags  samstags  sonntags  
von 11:00 bis 18:00 Uhr

mittwochs  
von 11:00 bis 20:00 Uhr

Bild ganz oben: Bühnenklasse Bauhaus Dessau | 1927 (Foto: Erich Consemüller, Stiftung Bauhaus Dessau | © Dr. Stephan Consemüller)