Der Streit um die „Villa Tarabya“ gefährdet den deutsch-türkischen Kulturaustausch

Sieger nach Punkten. So nannte der Schriftsteller Thorsten Becker einen vor genau sechs Jahren erschienenen Roman. Darin schildert der Berliner Autor die Geschichte seines Helden Nasrettin Öztürk vom Sohn türkischer Einwanderer in Berlin zum Europameister im Superfedergewicht. Und in einer Parallelstrecke die Geschichte der Türkei von der Islamisierung Anatoliens bis zu der Republikgründung Mustafa Kemals, genannt Atatürk.

So ausufernd, geschichtsmächtig und türkeibegeistert wie der 1958 bei Köln geborene Becker beschäftigen sich deutsche Künstler selten mit dem Land am Bosporus. Auch wenn sie gelegentlich zum Urlaub nach Antalya oder ins idyllische Kas fahren. In der Regel ist es genau umgekehrt. Deutschtürkische Autoren wie Feridun Zaimoglu oder Emine Sevgi Özdamar erzählen mehr von ihrer Heimat und dem Weg nach Deutschland als Türkeideutsche am Bosporus von ihren Erfahrungen zwischen den Welten.

Dabei wäre dieser Austausch dringend notwendig: Rund 3 Millionen türkischstämmige Menschen leben in Deutschland. Jedes Jahr bereisen 4,5 Millionen Deutsche die Türkei. Die wechselseitige Durchdringung der deutschen und türkischen Kulturen hat eine Intensität erreicht, die die mit den Franzosen inzwischen überflügelt, mit denen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg immerhin einen Freundschaftsvertrag abschloss und ein dichtes Netz des Kulturaustauschs knüpfte. Da wäre es mehr überfällig, den deutsch-türkischen Kulturaustausch in Zukunft nicht nur der informellen Abstimmung mit den Füßen zu überlassen, sondern ihn auf festeren institutionellen Grund zu stellen.

Angesichts der Migrationsdebatte derzeit würde man vielleicht ein gut ausgestattetes, Deutsch-Türkisches Jugendwerk für vordringlicher halten. Aber es war nicht die schlechteste Idee, dass der Bundestag vor Jahresfrist wenigstens beschloss, in Istanbul eine deutsche Künstlerakademie zu gründen, die nach dem Vorbild der Villa Massimo funktionieren sollte: Die „Villa Tarabya“. Sieben „erfolgversprechende Künstler“, von der Musik bis zur Literatur, sollen dort ein halbes Jahr leben und arbeiten – ganz wie in der Künstlerklause in Rom. Ein Haus stand auch schon zur Verfügung: Teile der ehemaligen Sommerresidenz der deutschen Botschafter im Stadtteil Tarabya am Bosporus.

Villa Tarabya, © Ingo Arend

Die Herkulesaufgabe vom „Brückenschlag von West- nach Ostrom“, den der CDU-Bundestagsabgeordnete Steffen Kampeter damals dem Haus vollmundig übertrug, musste Künstler eher abschrecken. Generell wirkte die Aussicht auf eine Herberge in Istanbul jedoch elektrisierend auf sie. Der tief greifende Umbruch, in dem sich die Türkei seit Jahren befindet, ist dort mit Händen zu greifen. Ein spannenderes Arbeitsumfeld für Künstler, die begierig auf das Neue sind, hätte man sich sonst vielleicht nur noch in Peking vorstellen können.

Freilich hatte die Sache ein paar Nachteile: Denn im Vorort Tarabya, wo sich der Sommersitz befindet, würden die sieben Stipendiaten, wenn alles doch noch so kommt wie geplant, in einem luxuriösen Ghetto sitzen. Das eingezäunte Gelände mit den vier großen Holzvillen, die der armenische Architekt Cingria für die deutschen Diplomaten baute, ist zwar ein architektonisches Kleinod. Gleicht aber einer gated community und ist rund 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Weit ab also von Stadtteilen wie Beyoglu oder Cihangir, in denen die meisten türkischen Künstler wohnen und sich das intellektuelle Leben abspielt.

Auch symbolisch hat das Gelände so seine Tücken. Denn auf ihm befindet sich ein deutscher Soldatenfriedhof, den Kaiser Wilhelm II. 1915 höchstpersönlich anlegen ließ. Rund 700 Tote beider Weltkriege sind dort bestattet, darunter Generalfeldmarschall Wilhelm Freiherr von der Goltz, der nach seinem Tod bei Bagdad 1916 in eine deutsche und türkische Fahne gehüllt wurde. Der zum „Pascha“ erhobene Bellizist und Reformer des osmanischen Heeres war Gründer eines „Jungdeutschen Bundes“, einer Art deutschem Pendant der nationalistischen „Jungtürken“ des späteren osmanischen Kriegsministers Enver Pascha.

Jedes Jahr zum Volkstrauertag begeht hier die deutsche Kolonie, zusammen mit türkischen Militärs, das Totengedenken. So wie schon Kaiser Wilhelm 1917, ein Jahr, bevor er sich ins Exil absetzte. Die Kranzabwurfstelle liegt genau in dem (ehemaligen Matrosen-)Haus, in dem die deutschen Künstler in Zukunft ihr Quartier hätten nehmen sollen. Die idyllische Residenz ist also durchaus als Symbol der deutsch-türkischen „Waffenbrüderschaft“ zu sehen. Die terrassenartig zum Bosporus gestaffelte Grabanlage „ziert“ ein Denkmal des Bildhauers Georg Kolbe – ein gefallener Krieger mit Engel. Ob sich ein deutscher Künstler wie Ingo Schulze hier wirklich wohl fühlen würde?

Doch nicht etwa die heikle Symbolik des Ortes droht nun, das Projekt scheitern zu lassen. Sondern der Corpsgeist der Verwaltung. Unter Frank-Walter Steinmeier noch Motor des Austauschgedankens, wandelte sich das federführende Auswärtige Amt, das die Gründung vorantreiben sollte, unter dessen Nachfolger Guido Westerwelle zur Immobilienschutztruppe. Die Bürokraten am Werderschen Markt mauerten plötzlich gegen das Vorhaben mit dem Argument, Deutschland habe sich einst verpflichtet, das Gelände, das Sultan Abdülhamid dem Deutschen Reich schenkte, für diplomatische Zwecke zu nutzen.

Und sie ventilierten Horrorszenarien, die dem deutschen Beamtenapparat würdig sind: Drogen konsumierende Künstler auf dem exterritorialem Gebiet etwa oder solche, die Mohammed-Karikaturen ans Tor nageln. Schwer zu sagen, ob das ernst gemeint war. Oder ob die verhindernden Legationsräte auf dem exklusiven Gelände lieber unter sich bleiben wollten. Wie die Süddeutsche Zeitung, die dem Coup auf die Schliche kam, mit dem maliziösen Hinweis auf das „Hotel zum fröhlichen Diplomaten“ insuinierte. Wenn beide Seiten das Vorhaben so ernst nähmen, wie es vor Jahresfrist noch klang, hätte es Mittel und Wege für eine einvernehmliche Lösung dieses vermeintlichen Statuskonflikts gegeben. Denn was soll Kultur für einen anderen Sinn haben als den, nationale Grenzen zu überwinden und kulturelle Gewissheiten in Frage zu stellen?

Wie dem auch sei: Der Versuch, einen Bundestagsbeschluss hinter dem Rücken des Souveräns zu kippen, für den dieser bereits sechs Millionen Euro bewilligt hatte, ist natürlich ein Skandal. Der noch dazu die Bundeskanzlerin brüskieren musste. Eigentlich hätte Angela Merkel die „Villa Tarabya“ in diesem Oktober eröffnen sollen. Dem Jahr, in dem Essen und Istanbul Kulturhauptstädte Europas sind. Andererseits böte der unerwartet ausgebrochene Konflikt die hervorragende Gelegenheit, das an sich gute Projekt von dem Verdacht zu befreien, nur als verlängerter Arm der deutschen Außenpolitik zu dienen. Schließlich liefen die Stipendiaten, die in das ehemalige Matrosenhaus in Tarabya eingeladen würden, ihrerseits Gefahr, zu staatsrepräsentativen Anhängsel zu schrumpfen, wenn der deutsche Botschafter in Tarabya zum Empfang lädt.

Der Streit um die Villa Tarabya ist ein Lehrstück über die Frage, wie man interkulturelle Arbeit und Kulturaustausch implementiert: Als Elitenprojekt oder als Breitenkultur. Als Elfenbeinturm oder als kulturelle Gesamtschule. Zumindest bei der entscheidenden Frage nach dem sozialen Standort könnte die Bundesregierung von Nordrhein-Westfalen lernen. Die im vergangenen Jahr eröffnete Künstlerresidenz des größten deutschen Bundeslandes, das „Atelier Galata“, liegt in einer schäbigen kleinen Seitenstraße unterhalb des historischen Galata-Turms. Wenn die Stipendiaten den schmalen Bau morgens verlassen, stehen sie mitten in der brodelnden urbanen Szene der 15-Millionen-Metropole.

Mit diesem Brückenschlag in die Zivilgesellschaft ist dem Ost-West-Dialog womöglich mehr geholfen als mit einem luxury artists resort am Bosporus, wo deutsche Künstler einsame Uferspaziergänge machen können. Was würde die Bundesrepublik also davon abhalten, das Deutsche Generalkonsulat in Istanbul, mitten am zentralen Taksim-Platz der Stadt gelegen, zur Künstlerakademie umzubauen. Schon heute finden in dem schönen, alten Botschaftsgebäude regelmäßig literarische Abende und Diskussionen statt. Ein funktionaler Büroersatz für die paar Leute, die dort Visa für türkische Deutschlandreisende ausgeben, dürfte in dem großen, großen Istanbul leicht zu finden sein.

Text und Bild: Ingo Arend

siehe auch: Deutsches Generalkonsulat Istanbul