Die Erfahrung bildet Narbengewebe

„Geschichte und Eigensinn.“ Als 1981 das berühmte Buch von Oskar Negt und Alexander Kluge erschien, war das eine irritierende Erfahrung. Nicht nur wegen der Mischung aus Fragment und Assoziation, mit der die beiden das Buch konstruiert hatten. Oder weil sie ihre voluminöse Geschichtsphilosophie so schön schlicht und untertreibend „Gebrauchsbuch“ nannten. In dem sich seltsam provisorisch klingende Weisheiten fanden wie: „Alles wirklich Brauchbare besteht in Aushilfen.“

Auch die subjektive Attitüde des Titels klang mehr nach juveniler Renitenz denn nach objektiver Kategorie. Doch Vokabeln wie „Wunschökonomie“, „Mikrophysiken der Gegenmacht“, „Beziehungsarbeit“, vor allem aber das Zauberwort „Produktivkraft Phantasie“ eröffneten den Freunden systematischer Gesellschaftsverbesserung ungeahnte neue, weil kulturelle Perspektiven: die nämlich, das heikle Unding „eigene Subjektivität“ in das Nachdenken über Geschichte einzubeziehen, ohne bloß sentimental zu werden.

Im Grunde ist der Publizist Alexander Kluge, der heute wie eine schillernde Mischung aus Promi und Prophet herumgereicht und zu allen sieben Welträtseln befragt wird wie einst Heiner Müller, den Prämissen dieses heute immer noch faszinierenden Werks treu geblieben. Denn die Buch gewordene Obsession durch Lebensläufe, der er seit Jahrzehnten frönt, hat zwar viel mit dem literarischen Realismus gemein, für den er 2003 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, doch sie birgt eben auch Realfragmente geschichtlicher Erfahrung: „Leben wird zerstört, Erfahrung bildet Narbengewebe“, erklärte er damals in seiner Dankesrede vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. In Kluge ehren wir einen Treuhänder dieses besonderen historischen Rohstoffs.

Der eröffnet, was Kluge einen „Erzählraum“ nennt. Der Zeugnis von der Versehrung gibt, die entsteht, wenn das Subjektive, Kontrafaktische, Antirealistische, das die Menschen ja zuvörderst treibt, auf die objektive Härte der Verhältnisse trifft. Öffentlich gemacht, legt er den Rohstoff der Ungerechtigkeitserfahrung frei, von dem jede Veränderung überhaupt erst ihren Ausgang nehmen kann. Eine fulminante Rückbindung des politischen Denkens an die Lebenswelt der „gewöhnlichen Menschen“, von der es nie zu viel geben kann und hinter die es kein Zurück geben darf.

 

Ingo Arend, taz 14.08.2012

Bild: Alexander Kluge während seiner Preisrede zum Theodor-W.-Adorno-Preis (2009) in der Frankfurter Paulskirche; CC BY-SA Dontworry